Claudia Spahn ist Professorin für Musikermedizin und Spezialistin in Sachen Lampenfieber. Bei ihr verlieren Profimusiker ihre Bühnenangst.
annabelle: Claudia Spahn, was ist Lampenfieber?
Claudia Spahn: Eine positive Form der Vorbereitung auf einen Auftritt, einen Vortrag oder eine Prüfung.
Was soll daran positiv sein?
Ein gewisses Mass an Nervosität stärkt die Konzentration und schärft die Sinne. Aber Lampenfieber wird doch von den meisten Menschen als unangenehm empfunden. Darum hilft es, wenn man weiss, dass da ein uraltes evolutionäres Überlebensprogramm abläuft, mit dem wir ausgestattet wurden, um in Extremsituationen richtig zu reagieren. Früher war dieser Vorgang wichtig, um auf der Flucht vor dem Säbelzahntiger oder im Kampf gegen andere Bedrohungen die Leistungsfähigkeit zu steigern.
Was genau passiert denn da mit einem, wenn man vor dem Säbelzahntiger davonrennt oder auf die Bühne tritt, um ein Klavierkonzert zu spielen?
Der Sympathikus, ein Teil unseres vegetativen Nervensystems, wird aktiviert und versetzt den Körper in Leistungsbereitschaft. Gleichzeitig werden Stresshormone ausgeschüttet, welche die Alarmbereitschaft erhöhen. Die Folgen sind vielfältig: kalte Hände, weil sich die Blutzirkulation auf die grossen Muskeln konzentriert, aber auch zittrige Hände und Beine, Herzklopfen, schneller Atem, Übelkeit oder Durchfall.
Da kann man sich natürlich fragen, was es dem Konzertpianisten nützt, wenn er kurz vor dem Auftritt Durchfall bekommt …
… oder der Violinistin die Hände zittern, dem Hornisten beim Solo der Atem stockt. Damit beschäftigen wir uns in unserem Institut. Und wir zeigen, dass es mög- lich ist, die meisten dieser unangenehmen Symptome zu regulieren, sei es durch Atemübungen, mentales Training, Entspannungstechniken. Da gibt es wirksame Methoden. Es ist bekannt, dass neunzig Prozent der deutschen Orchestermusiker unter Lampenfieber leiden. Natürlich gibt es stärkere und schwächere Ausprägungen. Aber zu wissen, dass dieses Grundgefühl normal und man damit nicht allein ist, kann helfen, gelassener zu reagieren.
Haben extrovertierte Menschen, die sich in Gesellschaft pudelwohl fühlen, weniger Lampenfieber als verschlossene, menschenscheue Typen?
So eindeutig lässt sich das nicht sagen. Es gibt Künstler, die auf der Bühne total aus sich herauskommen, privat aber kaum ein Wort reden. Wobei es für Musiker von Vorteil ist, wenn sie über beide Persönlichkeitsanteile verfügen: eine introvertierte Seite, um mit Einfühlungsvermögen ein Musikstück zu erarbeiten, und eine extrovertierte Seite, um sich dem Publikum mitzuteilen. Kaum ein Musiker spielt ja nur für sich selber. Gibt es Instrumente, die resistenter gegen Lampenfieber sind? Die Kesselpauke oder die Harfe? Das denken Musiker natürlich manchmal: Der Streicher beneidet den Bläser, weil bei dem kein Bogen zittert, der Trompeter den Perkussionisten, weil bei dem die Intonation keine Rolle spielt. Unterm Strich haben alle Instrumentalisten und Sänger mit ähnlichen Problemen zu kämpfen.
Seit wann wird unter Berufsmusikern eigentlich über Lampenfieber gesprochen?
Ist das nicht etwas, das man als Profi ungern zugibt? Klar, früher war das kaum ein Thema. Überhaupt gab es niemanden, an den sich Musiker wenden konnten, sei es mit einem psychischen oder einem körperlichen Problem, das sie in ihrer Berufsausübung beeinträchtigte. Damals lautete das Motto «no pain, no gain». Erst seit etwa 15 Jahren gibt es institutionalisierte Ambulatorien für Musikerkrankheiten mit spezialisierten Ärzten und Therapeuten.
Aber wegen ein bisschen Lampenfieber kommt niemand zu Ihnen, oder?
Nein, das sind schon Fälle, bei denen das Lampenfieber eine schwere Belastung darstellt: wenn sich die Angst vor dem Auftritt ins Unerträgliche steigert und der Leistungsdruck zu einer ständigen Herausforderung wird. Damit es gar nicht erst so weit kommt, liegt unser Fokus – neben der Behandlung – auf der Prävention.
Ich habe gelesen, in Ihrem Institut soll ein Podest stehen, mit dem Sie Bühnensituationen simulieren.
Stimmt. Es klingt verrückt, aber es reichen schon zwanzig Zentimeter, um das Gefühl der Exponiertheit zu erzeugen. Kaum steigt man aufs Podest, verändert sich das Körpergefühl. Man überlegt sich, wie man sich verhält, bewegt, wohin sich der Blick wendet, welche Haltung man einnimmt. Mit all dem muss man klarkommen, wenn man vor ein Publikum tritt.
Weil die Exponiertheit einen Einfluss auf die Performance hat?
Wir alle kennen das: Man glaubt, eine bestimmte Materie zu beherrschen, weil man sich lange und sorgfältig damit beschäftigt hat, doch sobald wir uns vor Publikum beweisen müssen, sind wir nervös, passieren Fehler. Das liegt daran, dass wir durch die Bühnensituation verunsichert sind.
Bei der Fussball-EM musste man zusehen, wie Superstars wie Bastian Schweinsteiger beim Penalty total versagten. Ist das vergleichbar mit der Angst des Hornisten vor dem Solo?
Da gibt es auf jeden Fall Parallelen. Ich fand es interessant, wie Jogi Löw seine Spieler auf das Elfmeterschiessen eingestimmt und dabei mit der Hand auf seinen Kopf gezeigt hat. Die Botschaft an seine Schützen war für mich klar: «Es spielt sich alles in eurem Kopf ab! Ihr könnt das!» Natürlich weiss auch Löw: Was im Training locker funktioniert, kann vor Millionenpublikum komplett schiefgehen. Da können auch die Nerven der besten Schützen versagen. Auch Profimusiker spielen die schwierigsten Passagen zuhause im stillen Kämmerchen perfekt. Aber im Konzertsaal herrschen nun mal andere Gesetze. Das gilt selbst für die Besten.
Glenn Gould, Maria Callas, David Bowie, Robbie Williams … alle litten oder leiden unter Lampenfieber.
Martha Argerich kam einmal in den Konzertsaal, verbeugte sich und verliess ihn wieder auf der anderen Seite der Bühne, um zehn Minuten später das Konzert zu beginnen … Sie brauchte einfach noch etwas Zeit, um sich auf den Auftritt vorzubereiten. Grosse Stars können sich so etwas eher leisten. Dabei leiden nicht nur sie unter Lampenfieber und Leistungsdruck, sondern gerade auch die «normalen» Orchestermusiker, ohne die kein Stadttheater existieren könnte.
Ist das nicht merkwürdig? Sie werden vom Publikum ja nicht als Individuen wahrgenommen, sondern als Teil eines Klangkörpers.
Ja, aber so ein Orchester ist ein hochkomplexes System, ein sensibles Gefüge, in dem jedes Mitglied seinen Platz hat. Stellen Sie sich vor, man sitzt da stundenlang zusammen auf engstem Raum. Schon psychologisch gesehen ist das eine Herausforderung. Mal schnell den Platz wechseln geht nicht, wenn der Kollege nebenan schlecht gelaunt ist. Oder während der Probe Pause machen, wenn einem der Dirigent zu nahe getreten ist. Überall lauern viele kleine Konflikte und Stressfaktoren, der Leistungsdruck ist enorm. Gleichzeitig ist ein Orchestergraben keine Fabrik. Von Musikern wird verlangt, dass sie Spielfreude verbreiten. Sie müssen ausdrucksvoll, fehlerfrei und mit Herzblut musizieren und einen einwandfreien Klang auf ihrem Instrument hinbekommen können, nachdem sie vorher vielleicht über vierzig Takte nicht zum Einsatz gekommen waren. Ganz zu schweigen von den akustischen Belastungen, denen sie ausgesetzt sind. Leider gibt es für Orchestermusiker auch keine angemessene Altersregelung, obwohl sie berufsspezifische Anforderungen erfüllen müssen, die zu grossen Belastungen führen können.
Klingt nervenaufreibend.
Trotzdem kann man das Schlimmste verhindern. Im Sport ist es normal, sich aufzuwärmen, die richtigen Dehnübungen zu machen, mit dem richtigen Schuhwerk loszurennen, um sich nicht zu verletzen. Ähnlich muss auch der Musiker lernen, die Gefahren bei der Ausübung seines Berufs zu erkennen und zu limitieren. Damit die Freude überwiegt, auch im Hochleistungsbereich.
Trotzdem nehmen dreissig Prozent der amerikanischen Orchestermusiker Betablocker, um entspannter zu musizieren, jeder fünfte greift zur Flasche …
… obschon sie wissen, dass das die Musik nicht besser macht, sondern nur ihren unbefriedigenden Zustand erträglicher. Freude kommt so nicht auf. Die Folgen sind auf Dauer katastrophal, und eine Therapie wird immer schwieriger. Wenn ein Medikament benötigt wird, um angst- und schmerzfrei zu musizieren, dann kann etwas nicht stimmen. Trotzdem würde ich sagen, dass solche Fälle, gerade bei der jüngeren Generation, selten sind.
Welche physischen Musikerkrankheiten behandeln Sie am häufigsten?
Alle möglichen Formen von Schmerzen, hervorgerufen durch Fehlbeanspruchung des Bewegungssystems. Wir nennen das Überlastungssyndrome. Fast immer kriegt man diese Probleme mit Physiotherapie wieder hin, kaum jemand muss seinen Beruf deswegen aufgeben. Aber natürlich ist das immer frustrierend. Musiker wollen ja spielen und auftreten. Einer der häufigsten Ratschläge, die wir Patienten und Studenten erteilen, ist, weniger lang zu üben.
Weniger? Es heisst doch: Übung macht den Meister!
Weniger im Sinn von kürzer, aber effektiver. Es geht um eine sinnvolle Art des Übens. Musiker haben die Tendenz, sehr streng mit sich selbst zu sein. Sie sind fast immer Perfektionisten, gerade in der Klassik. Dazu gehört die Einstellung, nie genug geübt zu haben. Übertriebenes Training kann aber zu ernsthaften physischen Problemen führen, und die Performance auf der Bühne wird durchs Üben allein nicht besser. Ich vergleiche das gern mit dem Abschmecken einer Suppe: Wenn man eine fade Suppe nur mit Salz würzt, weil man kein anderes Gewürz kennt, wird sie am Ende nicht schmackhafter, sondern versalzen. Ähnlich verhält es sich mit einem Konzert. Es sind verschiedene Zutaten nötig, die zu einer tollen Darbietung und einem genussvollen Erlebnis führen.
Verschreiben Sie Schmerzmittel?
Äusserst selten und nur bei absoluten Spitzenprofis, die im Moment einfach funktionieren müssen. Aber selbst dann nur vorübergehend.
Zahlen der Deutschen Orchestervereinigung zeigen, dass auf 700 Musikhochschulabgänger 120 offene Stellen kommen. Sind Existenzangst und der Druck, immerzu Höchstleistungen vollbringen zu müssen, teilverantwortlich fürs Doping im Orchestergraben?
Sicher, die Ansprüche sind enorm gestiegen. Heute spielen mediale Aspekte eine grosse Rolle: Livemitschnitte, DVDs, Promotionen. Die Liveperformance eines Bühnenkünstlers wird oft auf Youtube gestellt. Aber auch Publikum und Kritiker können erbarmungslos sein. Ich finde es wichtig, dass wir zu einem Respekt vor dem Künstler als Menschen zurückkehren. Künstler machen Fehler wie alle anderen auch. Ist doch super, wenn mal was schiefgeht, da weiss man wenigstens, dass man in einem Konzert ist und keine technisch bereinigte CD hört. Arthur Rubinstein konnte es sich noch leisten zu sagen: «Erwarten Sie jetzt bitte nicht, dass ich heute Abend ein fehlerloses Konzert spiele.»
Claudia Spahn (53)
Die Allgemeinärztin ist diplomierte Musikerin, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Leiterin des Freiburger Instituts für Musikermedizin (FIM) an der Hochschule für Musik und am Universitätsklinikum in Freiburg im Breisgau. In der Ambulanz des FIM betreut sie Patienten mit Auftrittsangst und lehrt Studierende den Umgang mit Lampenfieber. Sie veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Artikel und Fachbücher. Nebenbei konzertiert Claudia Spahn als Pianistin und Blockflötistin.
Buchtipp
«Musik mit Leib und Seele. Was wir mit Musik machen und sie mit uns». Ob Bach oder Beatles: Musik berührt uns, kann unsere Stimmung heben oder uns zu Tränen rühren. Wieso das so ist und welche Wirkung das Musizieren auf Körper und Seele hat, darüber denken die Autoren Claudia Spahn und Bernhard Richter in zehn kurzweiligen Essays nach. Schattauer-Verlag, 232 Seiten, ca. 29 Franken