Leben
«Ein abgeschnittenes Organ kann ich nicht wieder dran machen»
- Interview: Jessica Prinz; Foto: Unsplash
Mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen weltweit sind von Genitalbeschneidung betroffen. Bei Annette Kuhn im Inselspital Bern finden sie Hilfe.
Genitalbeschneidungen werden in vielen afrikanischen Ländern, im Nahen Osten und in Asien praktiziert. Dabei werden Klitoris und Schamlippen teilweise geritzt oder komplett abgeschnitten, die Vulva oft bis auf eine kleine Vaginalöffnung vernäht. In der Schweiz sind laut Schätzungen der UNICEF knapp 15 000 Frauen und Mädchen davon betroffen.
Annette Kuhn, Leitende Ärztin am Zentrum für Urogynäkologie, berät Betroffene im Inselspital Bern kostenlos über mögliche Therapien und Operationen. Zwei Jahre lang arbeitete sie im Sudan, wo sie zum ersten Mal mit dem Thema Mädchenbeschneidung konfrontiert wurde – unmittelbar. Kuhn bekam verblutete Mädchen zu sehen, beschnitten von traditionellen Hebammen ohne richtige Anatomiekenntnisse. Zurück in der Schweiz, liess sie das Thema nicht los, bedingt durch viele Migrantinnen und Migranten aus Ländern mit hohen Beschneidungsraten.
annabelle: Annette Kuhn, für Betroffene von weiblicher Genitalbeschneidung gibt es derzeit in Berlin, Amsterdam, Stockholm und Paris das Angebot einer sogenannten Rückoperation. Wie sieht es in Bern aus?
Annette Kuhn: Auch in Bern besteht ein solches Angebot. Seit fast zwanzig Jahren operieren wir Frauen, die wegen Beschneidungsproblemen zu uns kommen. Aus Kapazitätsgründen treten wir auf der Website des Inselspitals jedoch kaum in Erscheinung. Ich spreche bei diesen Eingriffen übrigens ungern von Rückoperationen, denn das, was abgeschnitten ist, ist abgeschnitten. Rückoperation suggeriert, dass man die Beschneidung ungeschehen machen kann, was natürlich nicht möglich ist.
Wie viele Operationen führen Sie jährlich durch?
Wir machen jährlich ungefähr dreissig operative Eingriffe, um die Lebensqualität, die Sexualfunktion, die Blasenfunktion oder gynäkologische Probleme der Patientinnen zu therapieren. Zusätzlich führen wir pro Jahr etwa 10 bis 15 Klitorisrekonstruktionen durch. Die Beschneidungen werden ja oft von Frauen vorgenommen, die keine richtigen anatomischen und chirurgischen Kenntnisse haben. Manchmal kann das ein Vorteil sein, da so häufig nur ein kleiner Teil der Klitoris oder die Klitorisvorhaut abgeschnitten und die Haut darüber zugenäht wird. Solche Situationen sehen wir hier am meisten.
Was wird bei diesen Operationen genau gemacht?
Bei vielen Frauen wird bei der Beschneidung nicht nur die Klitoris abgeschnitten, sondern auch die Vagina zugenäht – manchmal auf eine hirsekorngrosse Öffnung. Wenn das ganze Genitale verschlossen ist, öffnen wir es. Damit ermöglichen wir der Patientin, wieder annähernd normalen Geschlechtsverkehr zu haben und die Intimhygiene zu verbessern. Manchmal können die Betroffenen nicht einmal problemlos Wasser lösen, weil alles so eng zusammengenäht ist. Nach der Operation muss die Patientin selbst mit einer Salbe und dem Finger dafür sorgen, dass die Wunde nicht wieder zusammenklebt. Ausserdem rekonstruieren wir, wenn möglich, die Klitoris. Das geschieht, indem wir nach Klitorisresten suchen, die meist im Körperinneren sind. Um die gesamte Klitoris zu amputieren, die bis in die Tiefe des innern Genitals der Frau reicht, müsste man einen riesigen Schaden anrichten: Ich behaupte, dass man es in den jeweiligen Ursprungsländern gar nicht schafft, alles abzuschneiden. Kommt dazu, dass Opfer solch extremer Beschneidungen das meistens nicht überleben und noch während der Prozedur verbluten. In etlichen Fällen gelingt es uns deshalb, die Klitoris so zu rekonstruieren, dass die Frau auch wieder ein besseres Sexualleben haben kann.
Wo sind die Grenzen?
Wie gesagt, ein Organ, das abgeschnitten ist, kann ich nicht wieder dran machen. Ich habe es aber noch nie erlebt, dass wir nicht zumindest ein kleines Überbleibsel der Klitoris gefunden haben, garantieren kann man es aber nicht. Die Nerven sind natürlich ein sehr wichtiger Bestandteil der Sexualfunktion. Es gibt aber, falls eine Rekonstruktion nicht möglich ist, auch andere Möglichkeiten, die Sexualität zu geniessen. Wenn eine Klitoris im Ganzen abgeschnitten ist, würden wir deswegen auf alle Fälle nach der Operation auch eine Sexualtherapie anbieten.
Welche Frauen melden sich bei Ihnen?
Zu uns kommen eher jüngere Frauen zwischen zwanzig und vierzig Jahren. Über die Ursprungsländer oder die Bildung der Frauen führen wir keine Statistik. Die Frauen kommen mit ganz unterschiedlichen Problemen zu uns in die Sprechstunde. Das können Probleme beim Geschlechtsverkehr oder der Menstruation sein, das kann aber auch Sterilität sein. Viele Frauen haben einen unerfüllten Kinderwunsch, weil durch das enge Zusammennähen oft schon der Geschlechtsverkehr nicht richtig oder gar nicht möglich ist. Andere wiederum wünschen sich einfach mehr Empfinden beim Sex. Viele der Frauen empfinden grosse Scham und sprechen anfangs nicht gern über ihre Beschneidung, obwohl sie nichts dafürkönnen. Auch gynäkologische Untersuchungen sind oft schwierig. Bei diesem sensiblen Thema braucht es oft ein wenig Kennenlernzeit. Anders sieht es bei betroffenen Secondas aus. Viele kommen im Alter von zwanzig bis zweiundzwanzig Jahren zu uns, sie gehen viel offener mit ihrer Geschichte um, und es gibt auch weniger sprachliche Barrieren. Sie kommen in die Sprechstunde und sagen ganz klar: Ich wurde als Kind beschnitten, aber ich akzeptiere das nicht. Ich möchte, dass Sie alles Mögliche machen, um mir zu einer normalen Sexualfunktion zu verhelfen.
Was hat denn der Mann überhaupt von dieser extremen Beschneidung, vom sehr engen Zusammennähen?
Nichts. Für die Männer ist das auch eine mühsame Geschichte. Im Sudan war es beispielsweise üblich, dass die Männer in der Hochzeitsnacht Rasierklingen, Glasscherben oder Säure benutzten, um den Genitalbereich der Frau zu öffnen – für beide ist das naturgemäss nicht spassig. So gehen sudanesische Männer lieber zu Prostituierten, die nicht beschnitten sind.
Wie geht man bei der Geburt mit diesen extremen Beschneidungen um?
Das bespricht man individuell. Wir vereinbaren mit den Frauen, dass wir uns, wenn die Scheide während der Geburt weiter geöffnet werden muss, nach der Geburt die Geburtsverletzung anschauen und im Rahmen des medizinisch Vertretbaren die Scheide rekonstruieren. Es gibt Frauen, die nach der Geburt wieder möglichst eng zusammengenäht werden möchten. Die Haltung der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe ist hier ganz klar: Das wird nicht gemacht, da es verstümmelnd ist. Wir machen den Frauen klar, dass wir ihre Wünsche respektieren – aber im Rahmen des medizinisch Vernünftigen. Das bedeutet, wenn jemand vor der Schwangerschaft zusammengenäht war, dann machen wir das nicht wieder rückgängig – was im Sudan hingegen durchaus üblich ist.
Seit 2012 ist es in der Schweiz gesetzlich verboten, Beschneidungen durchzuführen, sogar im Ausland durchgeführte Beschneidungen können rechtlich geahndet werden. Tätern und Täterinnen drohen bis zu zehn Jahre Freiheitsentzug. Bisher gab es aber keine Anzeigen – auch nicht von Ärzten. Wie gehen Sie damit um?
Wenn beschnittene Frauen oder Frauen aus Ländern, wo Beschneidungen durchgeführt werden, hier Mädchen gebären, gibt es mit diesen Frauen während der Schwangerschaft und auch nach der Geburt mehrere Gespräche. Wir signalisieren sowohl von Hebammenseite als auch von ärztlicher Seite ganz klar, dass Beschneidungen bei uns verboten sind und rechtlich geahndet werden können. Die Community weiss auch, dass wir dem Kinderschutz melden können, wenn Kinder gefährdet sind. Darauf angesprochen, sagen die Frauen immer: Nein, es ist uns völlig klar, dass das hier in der Schweiz nicht geht. Inwieweit das der Wahrheit entspricht, kann ich nicht sagen.
Was genau könnte von Ihnen angezeigt werden?
Wir als Ärzte können nur eine Kindsgefährdung anzeigen. Mit Kindern habe ich als Gynäkologin allerdings nicht viel zu tun, nur mit Neugeborenen. Damit sind eher die Kinderärzte konfrontiert. Leider liegt das Geschehen oft ausserhalb unserer Kontrolle. Es wird nie jemand zum Arzt gehen und sagen: Ich nehme meine Tochter übermorgen mit in den Sudan, da wird sie beschnitten. Wir machen grosse Gesundheitsaufklärung, vermitteln, warum die Beschneidung für die Gesundheit der Mädchen schlecht ist. Nur wenige, die hier leben, haben das deshalb mit ihren Töchtern vor. Und die, die es wollen, werden die Töchter ohne Vorankündigung auf eine Heimatreise mitnehmen – wie üblich. Das Kind kommt zurück, und dann ist es passiert.
Stellen Sie sich vor, eine junge Frau kommt zu Ihnen und erzählt, dass sie vor ein paar Jahren zur Beschneidung gezwungen wurde. Sie ist damit nicht einverstanden. Was können Sie tun?
Das ist eine schwierige Situation, man kann nicht von unseren sozialen und familiären Verhältnissen ausgehen. Es würde mich sehr überraschen, wenn das so passieren würde, also wenn eine junge Frau ihre Eltern anzeigen will. Diese Familien sind doch sehr patriarchal geprägt, und es ist extrem ungewöhnlich, dass die Kinder sich gegen die Eltern auflehnen. Es ist aber theoretisch möglich. Und wenn das der Fall wäre, müsste man die Patientin ermuntern, Anzeige zu erstatten.
Sie selbst können aber keine Anzeigen erstatten.
Nein, das muss die Betroffene selber tun, weil ich sonst meine Schweigepflicht verletzen würde. Ich kann nicht sagen: Frau Meier wurde beschnitten. Ich unterstehe für alles, was bei uns passiert, der Schweigepflicht.
Wird in diesem speziellen Fall die Schweigepflicht nicht aufgehoben?
Nur bei Kindern. Aber auch da muss ich mich vom Kantonsarzt von der Schweigepflicht entbinden lassen.
Haben Sie es schon einmal erlebt, dass eine Frau von sich aus die Beschneidung anzeigen wollte?
Die meisten Betroffenen haben mit ihren körperlichen Problemen und zum Teil auch mit dem psychischen Trauma, das sehr tief sitzt, genug zu tun. Und sie gewinnen nicht viel, wenn es einen Prozess gibt. Da haben andere Probleme Vorrang. Also nein, ich habe noch nie erlebt, dass eine Frau eine Beschneidung anzeigen wollte.
Annette Kuhn ist leitende Ärztin am Zentrum für Urogynäkologie des Berner Inselspitals mit dem Schwerpunkt operative Gynäkologie und Urogynäkologie.