Warum wir bei politischen Diskussionen mehr soziale Empathie brauchen
- Text: Helene Aecherli
- Bild: Stocksy
Die Bereitschaft, das Leid des anderen Menschen zu sehen und anzuerkennen, muss gerade in politischen Diskussionen zu einem unverhandelbaren Anspruch werden, schreibt unsere Autorin Helene Aecherli in ihrem Kommentar. Warum ein solches Denken anstrengend, aber wichtiger denn je ist.
Eigentlich wollten wir an der Dinnerparty den 7. Oktober gar nicht erst thematisieren. Den Überfall der Terrororganisation Hamas auf Menschen in Israel, den darauffolgenden Krieg zwischen Israel, Gaza und der Hisbollah im Libanon, das Grauen, das sich seither unablässig in dicken Schichten selbst überlagert. Doch das Thema sass mit am Tisch, und irgendwann gelang es uns nicht mehr, ihm auszuweichen.
Wir versuchten zwar, es mit Bedacht anzugehen, aber schon bald begannen sich Risse zwischen uns abzuzeichnen. Und aus diesen Rissen wurden Gräben, die Stimmen auf der einen Seite immer lauter, jene auf der anderen immer leiser, Hinweise auf die Komplexität der Thematik wurden abgemahnt.
Was uns davor bewahrte, Tausende von Kilometern von den eigentlichen Kriegsfronten entfernt, neue Fronten zu errichten, war der Wille, uns darauf zu einigen, das Leid und den Schmerz der Menschen auf der jeweils «anderen» Seite zu sehen und anzuerkennen. Denn individuelles Leid ist immer hundert Prozent, sei es in Gaza oder in Israel. Es lässt sich weder relativieren noch von sich konkurrenzierenden Positionen herab bewerten, sondern existiert stets parallel zueinander.
«Kritisches Denken bedeutet unter anderem, sich von der Logik ‹wenn du nicht uneingeschränkt für uns bist, bist du gegen uns› zu lösen und für Perspektivenwechsel fähig zu werden»
Da ist zum Beispiel Basman, ein 36-jähriger Dichter und Physiotherapeut aus Gaza, der heute mit seiner Mutter und den beiden Brüdern in Kairo lebt. Seine jüngste Schwester und ihre kleinen Kinder wurden vor wenigen Monaten bei einem israelischen Luftangriff getötet. Die Trauer um sie ist erdrückend. Der einzige Weg, damit umzugehen, sagte mir Basman, als ich ihn in Kairo besuchte, ist, morgens immer wieder aufzustehen und nicht einfach im Dunkeln liegenzubleiben.
Und da ist Shay, eine 29-jährige Medizinstudentin in Jerusalem, deren Cousine von der Hamas am 7. Oktober entführt und nach knapp einem Jahr Geiselhaft, kurz vor ihrer möglichen Freilassung, von einem Bewacher erschossen worden war. Die Trauer um sie ist erdrückend. Der einzige Weg, damit umzugehen, schrieb mir Shay über WhatsApp, ist, alles dafür zu tun, dass den anderen, noch lebenden, Geiseln nicht dasselbe Schicksal widerfährt.
Die Bereitschaft, das Leid des anderen Menschen zu sehen und anzuerkennen, ist zum unverhandelbaren Anspruch geworden, den ich an Teilnehmende politischer Diskussionsrunden stelle. Nicht nur, aber ganz besonders, wenn es um den 7. Oktober geht und die Geschehnisse danach.
Der Schlüssel für konstruktive Debatten
Das mag sich offensichtlich, ja sogar banal anhören, doch scheint diese Form der sozialen Empathie weitgehend verloren gegangen zu sein. Umso dringlicher ist es, uns wieder darauf zu besinnen. Denn soziale Empathie kann der Schlüssel sein für konstruktive Debatten. Mehr aber noch: Sie fordert zu kritischem Denken jenseits von polarisierenden Ideologien heraus.
Das bedeutet unter anderem, sich von der Logik «wenn du nicht uneingeschränkt für uns bist, bist du gegen uns» zu lösen und für Perspektivenwechsel fähig zu werden. Sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen und verstehen zu wollen, woher jemand kommt, zu entschlüsseln, warum sie oder auf eine bestimmte Weise denkt oder spricht. Und es bedeutet, Traumata und Ängste beider Seiten nachvollziehen zu können, ohne extremistische Positionen zu rechtfertigen.
Ein solches Denken ist anstrengend. Es verlangt das Aushalten von Widersprüchen, die Akzeptanz von Komplexität und das ständige Überprüfen der eigenen Haltung. Das ist alles andere als bequem, denn einfache Antworten gibt es nicht. Aber ein solches Denken ist wichtiger denn je.