Wie wahrscheinlich sehr viele Menschen hat auch Redaktorin Marie Hettich zurzeit miese Laune – und ärgert sich über den Happiness-Druck in unserer Gesellschaft. Ein Text über die Kunst, Gefühle stehenlassen zu können.
Ich sitze gerade mit meinem Laptop im Esszimmer. Die Heizung ist kaputt, die Baustelle gegenüber laut, der Himmel grau. Mein Freund sitzt mit dem Laptop in der Küche, ich höre das Klicken seiner Maus. Trotzdem fühle ich mich irgendwie einsam, von der Welt abgeschnitten.
Ich warte auf das Ergebnis des Coronatests eines Freundes, und meine, ein leichtes Brennen im Hals zu spüren. Nächste Woche bekommt meine Schwester, die in Stuttgart lebt, Zwillinge. Ich habe keine Ahnung, wann ich meine Neffen kennenlernen kann.
Trump. Terror. Und immer wieder: Corona.
Nein, ich habe gerade keine gute Laune. Seit ein paar Tagen schwankt meine Stimmung zwischen Lethargie und Nervosität. Ich lache weniger und wache jeden Morgen mit Herzklopfen auf. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren, es fällt mir schwer, mich abzulenken. Ich bin lustlos und wortkarg.
Applaus fürs Gutdrauf-Sein
Nach der Krebsdiagnose meines Vaters vor vier Jahren habe ich viele Komplimente bekommen. Unglaublich, wie stark ich sei – bewundernswert, wie ich mit allem umgehen würde. Doch erst als jemand zu mir sagte «Scheisse, du und deine Familie müsst gerade durch die Hölle gehen», habe ich mich gesehen und verstanden gefühlt. Dieses «Scheisse», ohne Wenn und Aber, hat mir alles bedeutet. Ich bin vor lauter Erleichterung in Tränen ausgebrochen.
Damals vor vier Jahren habe ich begriffen, wie viel Applaus und Zuspruch es fürs Gutdrauf-Sein gibt. Fürs Funktionieren. Fürs vermeintliche Stark-Sein – obwohl die wahre Stärke doch eigentlich darin liegt, auch unangenehmen Gefühlen Raum zu geben. Mittlerweile kann ich das deutlich besser. Und mein Bewusstsein darüber, wie versessen wir nach Positivity sind, ist immer grösser geworden.
Die Schweizer Alles-super-Mentalität
In der Schweiz scheint mir die Deckel-drauf–ist-doch–alles–super-Mentalität, die sogenannte «Toxic Positivity», besonders stark ausgeprägt. Offenbar liegt es nicht in der Schweizer Natur, einfach mal «Okay, shit» zu sagen. Sofort kommt ein hektisches «Aber schöscht, heschs guet?» hinterher. Das Unangenehme, Unkontrollierbare hat hierzulande einen schweren Stand. Lieber schnell wieder zum Cüpli greifen und gemeinsam das Bergpanorama bewundern.
Die Körperpsychotherapeutin Eva Kaul hat in einer Fachzeitschrift einen Text namens «Leiden an der Feel-good-Gesellschaft» veröffentlicht. Sie schreibt: «Unsere Gesellschaft vermittelt zunehmend, sich gut zu fühlen sei der Normalzustand des Menschen. Wer sich nicht gut fühlt, muss an sich arbeiten.»
«Wir stecken in einer kollektiven Krise»
Als ich sie spontan für ein kurzes Interview anfrage, sagt sie sofort zu – sie habe viel Zeit, da sie gerade in Quarantäne sei. «Wir stecken momentan in einer kollektiven Krise», sagt sie am Telefon. «Jeder Tag ist ungewiss – niemand weiss, wie die nächsten Corona-Massnahmen aussehen, wo der nächste Terroranschlag passieren wird. Bisher konnten wir uns der Illusion, das Leben sei plan- und kontrollierbar, ganz gut hingeben. Jetzt werden wir mit der brutalen Realität konfrontiert, dass dem eben nicht so ist.»
Umso wichtiger sei es, unangenehme Gefühle wie Traurigkeit oder Ohnmacht erstmal zuzulassen – und diese dann auch mit anderen zu teilen, wenn einem danach ist. «Wir neigen dazu, uns zu isolieren, wenn wir schlecht drauf sind, weil wir uns für unzumutbar halten. Aber: Je weniger ehrlich wir miteinander kommunizieren, umso mehr hat jede einzelne Person den Eindruck, alle anderen könnten viel besser mit der Situation umgehen als man selbst. Wir brauchen die Verbundenheit, die menschliche Gemeinschaft gerade jetzt mehr denn je.»
Mit sich selbst auf Kriegsfuss
Es ist schon verrückt: Auch ich stehe mit mir selbst immer ein bisschen auf Kriegsfuss, wenn ich keine gute Laune habe. Ich bin ungeduldig mit mir, denke Dinge wie: «Reiss dich zusammen, anderen geht’s schlechter». Oder: «So wie ich heute drauf bin, kann man mich ja nicht gernhaben.» Schuldgefühle stellen sich ein – das ungute Gefühl, dass ich gerade etwas falsch mache.
Dabei sei es völlig normal und gesund, dass verschiedene Gefühle kommen und gehen, so Kaul. «Wir tragen das gesamte Spektrum in uns – und haben auch alle ein Recht auf das gesamte Spektrum. Nicht nur das: Wir können unsere Gefühle nur dann regulieren, wenn wir sie auch zulassen. Verschwinden lassen können wir sie sowieso nicht – sie melden sich dann einfach auf andere Weise zu Wort, beispielsweise über unkontrollierte Wutanfälle, psychosomatische Beschwerden oder das Gefühl, sich selbst irgendwie verloren zu haben.»
Gefühle stehenlassen können
Frau Kaul plädiert dafür, schwierigen Gefühlen toleranter gegenüberzutreten. Heisst: Üben, sie auszuhalten und stehenzulassen – auch die der anderen. «Wenn uns jemand erzählt, dass es ihm oder ihr gerade nicht gut geht, haben wir oftmals den Impuls, sofort etwas unternehmen und die Person aufmuntern zu müssen. So, als wäre es unsere Verantwortung, das schnell wieder in Ordnung zu bringen. Dabei würde es oft reichen, wenn wir einer leidenden Person einfach mitfühlend zuhören und zeigen, dass sie uns ihre schwierigen Gefühle zumuten kann.»
Ein Satz aus dem Artikel von Frau Kaul ist mir besonders im Kopf geblieben: «Interessanterweise fühlen wir uns weniger schlecht, wenn wir uns schlecht fühlen, sobald wir den Anspruch aufgeben, uns ständig gut fühlen zu müssen.» Jetzt, wo ich es mir erlaubt habe, einen mies gelaunten Text zu schreiben, geht es mir tatsächlich schon ein bisschen besser.
Falls Sie sich seit mehr als zwei Wochen anhaltend traurig fühlen, sich an nichts mehr erfreuen, nichts mehr geniessen können, Schlafprobleme oder grosse Ängste haben, sollten Sie das unbedingt ernst nehmen. Bei der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression finden Sie Hilfe. Auf Sanasearch können Sie themenspezifisch nach krankenkassenanerkannten Therapeutinnen und Therapeuten suchen.