Hätte das Verhältnis unserer Autorin Vanja Kadic zu Social Media einen Status, würde er lauten: Es ist kompliziert. Warum die sozialen Medien ihren Reiz verloren haben.
Neulich, im Kino. Ich schaue mir Wim Wenders «Perfect Days» an, ein langsamer Film. Zwei Stunden lang beobachte ich Toilettenreiniger Hirayama dabei, wie er seinem monotonen Leben in Tokio nachgeht. Jeden Tag isst er sein Eier-Sandwich im Park, studiert die Blätter der Bäume. Nach 15 Minuten werde ich unruhig, mein Hirn sehnt sich nach Dopamin, nach Schnelligkeit, doch der Film gleicht einer Achtsamkeitsübung. Der TikTok-Rhythmus, bei dem man sich in Sekundenschnelle zum nächsten, noch spannenderen Video wischt, hat in mir seine Spuren hinterlassen.
Ich liebe Social Media, vor allem TikTok. Auf der Plattform stosse ich auf Geschichten, die mich berühren und zum Nachdenken anregen, die mir die Möglichkeit geben, in kürzester Zeit in andere Lebensrealitäten hineinzusehen. Wie etwa jene vom Inuit-Mutter-Tochter-Duo, das Kehlgesang übt. Oder von der Amerikanerin, die nach Paris ausgewandert ist.
Trotzdem haben die Apps ein seltsames Dauerrauschen über mein Leben gelegt, nehmen zu viel Zeit, zu viel Platz ein. Will ich auf meinem iPhone die Uhrzeit checken, wandert mein Daumen reflexartig zur Instagram-App, auch wenn ich sie längst nur noch passiv konsumiere. Eigene Posts sind mir heute fast peinlich. Wen soll mein Monatsrückblick in Bildern schon interessieren?
Ausserdem ist mir bewusst, wie fake solche Posts sein können. So habe ich auch schon ein schönes Ferienfoto geteilt, obwohl gar keine schönen Erinnerungen daran geknüpft waren und ich zehn Minuten vor der Aufnahme noch geheult hatte.
Verschwendete Lebenszeit
«Social Media machen keinen Spass mehr», denke ich immer öfter. Damit bin ich nicht allein. «Warum das Internet nicht mehr lustig ist», titelte unlängst etwa «The New Yorker», und stellte fest: «Das Social-Media-Web, wie wir es kannten – ein Ort, an dem wir die Beiträge unserer Mitmenschen konsumierten und im Gegenzug etwas posteten – scheint vorbei zu sein.» Und in der Tat: Waren auf Instagram einst inspirierende oder lustige Posts von Freund:innen zu sehen, laufen heute vor allem staubige Memes, Werbung oder gesponsorte Beiträge von Influencer:innen durch den Feed.
Darüber hinaus macht sich eine Social-Media-Fatigue breit, weil ständig neue Apps hinzukommen. Die schiere Menge ihrer Inhalte ist überwältigend. Ich erkenne zunehmend, dass ich meine Lebenszeit am Smartphone verschwende. Gleichzeitig fühle ich mich häufig wie eine Loserin: Ich poste zu wenig, werbe zu wenig für mich, für meine Arbeit. Brauche ich auch ein Profil bei Threads? Muss ich auch TikTok-Videos machen? Ich weiss zwar genau, dass Instagram und Co. nicht die Wirklichkeit abbilden, vergleiche mich aber trotzdem mit anderen, deren Leben und Erfolgen.
Jobsuche, Dating, Austausch
Höchste Zeit also, dass wir einen achtsameren Umgang mit Social Media finden. Doch wie kann der gelingen? Alle Profile zu löschen, erscheint mir zu radikal und schlicht unrealistisch – zu gerne verfolge ich den Zeitgeist online. Und strenges digitales Detoxen löst das grössere Problem nicht. Denn längst haben sich Apps in fast jedem Aspekt unseres Lebens festgesetzt: Von der Jobsuche übers Dating bis zum Austausch mit Freund:innen – ohne geht es heute kaum mehr.
Vielleicht ist es ein guter Anfang, sich zwischendurch bewusst auszuklinken. Im Zug ein Buch aufzuklappen. Momente im Analogen zu geniessen. Wie neulich, als ich auf einem Liegestuhl unter Bäumen sass, das Handy in der Tasche. Ich musste an den japanischen Toilettenreiniger Hirayama denken, der täglich Blätter beobachtet. Und wie bei ihm herrschte dabei auch in meinem Kopf eine herrliche Ruhe.
So radikal ist das gar nicht. Habe exakt dieselbe Beobachtung gemacht. Seit 3 Jahren ist mein Nutzen der Plattformen gesunken, während mein Zeitaufwand stieg.
Vor 3 Monaten alle Accounts gelöscht, komplett. Ohne Backup.
Ich muss zugeben, ich vermisse keinerlei Informationen. Nur der Daumen zuckt noch manchmal, wenn mein Hirn Reize sucht. Alternative: Duolingo 😀
Ich habe ein Handy, kein Smartphone. Vielleicht verstehe ich deshalb diesen Artikel nicht. In dem Artikel werden lediglich selbstverursachte Probleme behandelt, eigentlich langweilig.
Bis 2021 hatte ich auch nur ein Handy. Im Aprl 2021 habe ich mir ein Smartphone angeschafft. Ich habe 3 Jahre gebraucht, um alles damit zu eroieren. Jetzt nervt es mich nur noch… und die vielen Bild-Blasen im Kopf. Schön, die Indigenen zu sehen,… aber all der Rest… und der Algorythmus bietet nichts neues mehr… nur noch Mode-Werbung für Frauen … ich bekomme kein Auto mehr online zu Gesicht… man wird so reduziert… jetzt lieb ich mein TV wieder… da kommt doch ab und zu etwas , was nicht auf mich zugeschnitten ist und ein neues Interesse zu wecken vermag….
Zitat: jetzt lieb ich mein TV wieder
Ja normales TV hat seine Vorteil, man schaut Sachen, wo man bei Prime oder Netflix nie auf die Idee gekommen wäre. Ist mit Radiohören ähnlich.
Das Thema ist alles andere als trivial. Aus meiner beruflichen Praxis weiß ich, wie schwer es für Menschen sein kann, dieses Verhalten zu verändern. Gerade weil die Entwickler diverser Apps, sich sehr viel Mühe damit geben, diese so zu gestalten, dass sich verschiedenste Effekte (gerade psychologischer Natur) quasi von selbst einstellen.
Einfach einen Cut machen ist für die meisten Personen zu schwer. Es ist ähnlich als würde man von einem Raucher erwarten, vom einen auf den anderen Tag einfach so rauchfrei zu sein. Da stecken viele Mechanismen dran, welche lange kultiviert wurden und nicht einfach so abgestellt werden können.
Es wird bzw. ist eine der Herausforderungen unserer Zeit, mit den vielen Neuheiten einen geeigneten Umgang für uns selbst zu finden, welcher unsere Gesundheit nicht gefährdet sondern uns unser Leben angenehmer gestalten lässt. Welches Maß an dieser Stelle für wen das richtige ist, gilt es individuell herauszufinden.
Auf Wunsch kann ich an dieser Stelle auch gerne meine Unterstützung anbieten.
Danke für den Beitrag, hat die Mittagspause heute versüßt.
Beste Grüße
Pierre Alexander Hilbig
Zitat: Es ist ähnlich als würde man von einem Raucher erwarten, vom einen auf den anderen Tag einfach so rauchfrei zu sein.
Oh geht. Mein letzter Rauchtage war der 07.03.2011 und mein erster Nichtrauchtag der 08.03.2011. Von jetzt auf gleich.
Ja, Social Media macht keinen Spaß (mehr) und müllt zunehmend den Kopf voll. Aber wie macht ihr eure Beiträge bekannt? Die Social Share Buttons habt ihr auch bei diesem Text eingebaut.
Aus meiner Jugend mit zu viel PC-Games weiss ich um mein Suchtverhalten. Ich habe mich deshalb von Anfang an von Social Media ferngehalten, im Sinne von “gar nicht anfangen ist einfacher als aufhören”. Wenn man nicht weiss, was man verpasst, fehlt einem nichts. WhatsApp wäre bisweilen praktisch, aber wenn ich sehe, wie viel Zeit Kollegen mit unsinnigen Gruppenchats verbringen, vermisse ich es nicht. E-Mail ist viel praktischer und verleitet nicht dazu, mal kurz ein ach so lustiges Bild zu teilen.
Wenn ich einmal gemeinsam mit meiner Frau durch Instagram scrolle, kann ich absolut nachvollziehen, weshalb es süchtig macht. Immer der Reiz nach dem nächsten Video, das noch lustiger zu sein verspricht.
Ich komme mir manchmal oft wie der einzige Mensch auf der Welt vor, der noch real lebt. Mein Onlineverhalten ist verhalten. Ich kommuniziere, konsumiere und nutze und aber alles in Maßen. Ich surfe nur an festen Rechnern. Am Handy nutze ich kein Internet. Nur Telefonie. Ich bin draußen real unterwegs. Spreche gern mit echten Leuten und habe echten Kontakt zu Menschen aus allen Schichten, das bringt sowohl mein Beruf als auch meine Freizeitaktivitäten mit sich. Ich bin sehr aktiv und mit vielen Leuten vernetzt. Aber nur über Telefon. Das war noch nie anders. Ich habe die im Beitrag gemachten Probleme irgendwie übersprungen oder vermieden oder wie? Leute, die mich näher kennen winken deswegen immer leicht amüsiert ab und bezeichnen mich gern mal scherzhaft als Digitalverweigerer. Aber ich verweigere gar nichts, ich habe das Bedürfnis nicht.
So, nun die Kehrseite: Ich habe nur neue Freude. Alte Freude, die den “üblichen” Digitalisierungsschub der letzten 20 Jahre brav mitgemacht haben, kennen mich nicht mehr, meine Beziehungen sind gescheitert, Onlinedating liegt mir nicht. Ich bin in der Schublade der Digitalverweigerer gelandet, nur weil ich nicht ständig mit Handy vorm Gesicht rumlaufe und ohne Navi Auto fahre. Ich bin einfach real am Leben und freue mich über das frische Grün. Ich Außenseiter.
Hallo Marcus, mir geht es ähnlich. Hab das Handy nur zum Telefonieren und um erreichbar zu sein. Viele verstehen es nicht. Aber ich kann gut leben, ohne ständig erreichbar zu sein. Ich lese z.B. auch noch eine Papierzeitung.
Ich finde das nicht verkehrt, so zu leben. Bedenkt man, wie stark die Polarisierung zwischen Menschen in der heutigen Zeit eigentlich ist, und daran sind “Soziale Medien” nicht ganz unschuldig. Das persönliche Gespräch zu einem Bekannten, Freunden oder Familie zu suchen wäre aus meiner Sicht die Konsequenz, die man ziehen könnte, wenn man sich aus dieser “Blase” verabschieden möchte.
Denn einiges haben alle Plattformen mittlerweile gemeinsam. Sie regen auf, weil es deren Kerngeschäft ist, aufzuregen. Sie “produzieren” Meinungen und wirken bei vielen Teilnehmern als Katalysator für die eigene Unzufriedenheit, die dann in die Welt hinaus geschrien wird.
Ich bin ein Überbleibsel aus den 80er Jahren. Weder gab es damals diesen Überfluss von Anglizismen in Wort oder Schrift noch hat sich irgendjemand bewusst darüber Gedanken gemacht, was morgen in Little Cayman zum Frühstück serviert wird.
Zugegeben, klingt alles profan und dennoch gab es damals etwas, das man unter dem Begriff “Entspanntheit” zusammenfassen könnte. Heute scheinbar für viele ein Traum. Ich habe seit mehr als 10 Jahren kein Facebook, Twitter oder sonstige Zugänge für diverse Plattformen und es geht mir wirklich sehr gut damit. Jeder überflüssige Unsinn, den man “verpasst”, ist ein Gewinn an kostbarer Lebenszeit.
Vielleicht wäre es für alle Social Media Hamster einmal Zeit darüber nachzudenken. 😉
Mir geht es genauso 🙂 Zur Abwechslung des digitalen Überkonsums habe ich mir gestern Abend eine Schallplatte (!!!) angehört, und mein Handy weit weg gelegt.