Die Gründe, an einen Gott oder an eine höhere Macht zu glauben, sind persönlich. Wirklich? Wir haben bei der Neurologin Maja Strasser nachgefragt, warum der Mensch aus biologischer Sicht gläubig ist.
«Die Fähigkeit zu glauben ist eine evolutionär entstandene Veranlagung: Wir neigen dazu, Zufälle miteinander zu verbinden und Muster zu erkennen, wo gar keine sind. Dies entwickelt sich ab unserem vierten Lebensjahr, weil wir dann zu interpretieren beginnen, was in anderen vorgeht. Dieses Phänomen nennt sich Theory of Mind. Es ist unter anderem dafür entscheidend, dass wir mit anderen kooperieren können. Die eigene Umwelt und seine Mitmenschen auf diese Weise (vermeintlich) einzuordnen, gibt uns Orientierung. Studien haben gezeigt, dass religiöse Personen besonders stark zu teleologischem Denken neigen, also zu denken, dass zum Beispiel Pflanzen, Steine oder das Sonnenlicht für einen bestimmten Zweck geschaffen wurden.
Interessanterweise neigen Autisten viel weniger dazu, solche Muster zu konstruieren. Sie erkennen Zufälle als solche und sind deshalb weniger gläubig – was einzelne jedoch beunruhigt. Sozusagen um sich rückzuversichern, erkundigen sie sich in Internetforen bei anderen Autisten, ob Gott ihnen auch keine Zeichen sende. Die Wissenschaft untersucht die Entstehung des Glaubens mit unterschiedlichen Methoden. Beim Princess-Alice-Experiment zum Beispiel müssen Kinder raten, in welcher Schachtel sich ein Ball befindet: Einem Teil der Kinder wurde gesagt, dass sie durch eine unsichtbare Prinzessin ein Zeichen erhalten könnten – ein herunterfallendes Bild oder ein Flackern der Lampe –, weil die Prinzessin ihnen beim Raten helfen möchte. Kinder bis vier Jahre liessen sich nicht beirren, sie fanden dann zum Beispiel, das Bild sei einfach schlecht befestigt gewesen. Kinder zwischen fünf und sechs Jahren meinten, die unsichtbare Prinzessin habe das Flackern oder Fallen des Bilds verursacht, aber interpretierten es nicht als Zeichen. Kinder über sieben Jahren hingegen änderten ihre Entscheidung, da sie glaubten, tatsächlich ein Zeichen bekommen zu haben.
In einem weiteren Experiment ist es Forschern gelungen, mittels Magnetresonanztomografie die Aktivität der für die Theory of Mind relevanten Hirnareale sichtbar zu machen. Diese waren bei strenggläubigen Mitgliedern einer Pfingstgemeinde besonders aktiv, wenn sie sich im Zwiegespräch mit Gott befanden, nicht aber, wenn sie ein Gedicht rezitierten. Die Theory of Mind als Basis des Glaubens scheint also belegt. Nicht aber die These, dass sich religiöse Visionen durch Magnetstimulation des Temporallappens, unter anderem Sitz von Gedächtnis und Sprachverständnis, auslösen lassen. Dies versuchte man mithilfe des sogenannten Gott– helms, eines umgebauten Skihelms mit Magnetspulen an der Aussenwand. Er soll bei gläubigen Probanden teilweise religiöse Halluzinationen hervorgerufen haben, während säkulare Versuchspersonen Empfindungen tiefer Verbundenheit mit anderen Lebewesen und dem Universum hatten. Doch liessen sich diese Ergebnisse durch ein anderes Team mit demselben Helm nicht wiederholen, was aber an der Software gelegen haben könnte. Wer nicht glaubt, wird nicht plötzlich gläubig – weder durch Magnetspulen noch Substanzen, die halluzinative Erfahrungen hervorrufen können. Wie solche Erfahrungen interpretiert werden, hängt von der Weltanschauung ab. Dieselbe Empfindung, dasselbe Erleben kann religiös oder aber als tief berührende Verbindung mit Mensch und Natur verstanden werden.»
– Maja Strasser ist Fachärztin für Neurologie FMH