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Die wütende Heldin

Die wütende Heldin

  • Text: Antje Joel; Fotos: Gian Paul Lozza

Das Bild ging um die Welt: Ingrid Loyau-Kennett stellt sich 2013 in London Attentätern in den Weg, die grad einen Soldaten auf offener Strasse hingerichtet haben. Alle feiern sie als Heldin, als «Engel von Woolwich». Ihre Geschichte ist eine andere.

Was anfangen mit dem «Engel von Woolwich», der doch kein Engel ist? Mit dieser einst so gefeierten Heldin, die nicht als Heldin taugt. Die kein Halt ist. Keine Hoffnung. Kein Strohhalm in der Flut schlechter Nachrichten und alltäglichen Unheils. Sondern eine, die selbst ersäuft. Und wütend ist, so schrecklich, verzehrend wütend. Auf alle. Und alles. Ihre Wut kann jeden treffen. Zu jeder Zeit. Kurz nachdem wir uns erstmals begegnen: den Mann, der in seinem Auto unbedacht aus dem Parkfeld und auf den Fussgängerstreifen vor uns fährt. «Idiot!», schreit Ingrid Loyau-Kennett (52) und sieht ihn nicht einmal an. Hastet schimpfend und fluchend weiter. «Gedankenloser Idiot!» Und: «Was stimmt denn nur mit den verfluchten Menschen nicht!» – «Verzeihung!», ruft der Mann verschämt aus dem Autofenster. «Ich bin grad erst angekommen.» Aber Ingrid Loyau-Kennett hat kein Ohr für ihn, keinen Blick, keine Zeit. Nur diese Wut, die an ihr frisst, seit langem. Viel länger als seit vier Jahren. Und doch darf man ihr glauben, wenn sie sagt, jener Tag im Mai 2013, als sie – selbstlos oder selbstvergessen – auf einer Strasse im Londoner Stadtteil Woolwich zwei blutigen, beilschwingenden Mördern gegenübertrat, habe ihr Leben endgültig ruiniert.

Ingrid Loyau-Kennett, damals im Linienbus 53 unterwegs von London nachhause, in Cornwall, sah durchs Fenster eine Szene, die sie für einen Autounfall hielt: Auf dem Trottoir stand ein Wagen, mit zerbeulter Motorhaube, gegen eine Strassenlaterne gefahren. Breite Blutspuren führten von ihm weg, in einem Bogen zur Strasse, auf der reglos ein Männerkörper lag. Neben ihm hockte eine Frau, die ihm den Rücken rieb. Ein schwarz gekleideter Mann lief in der Szene auf und ab. Ein zweiter stand etwas abseits, gegen einen Zaun gelehnt. Der Bus hielt, ausserplanmässig, und Loyau-Kennett stieg aus.

«Ich dachte, ich könnte mich nützlich machen, ich hatte als Pfadi-Leiterin ja einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. Und ich sah gleich: Die Frau, die hinter dem Mann auf der Strasse kniete, sollte ihn besser in die stabile Seitenlage drehen.» Sie ging zu den beiden hinüber, hockte sich neben den Körper, drückte zwei Finger auf die Innenseite des schlaffen Handgelenks. Da war kein Puls. «Das muss nichts bedeuten», sagt Loyau-Kennett. «Es hätte ja sein können, dass der Arm abgetrennt und darum kein Puls spürbar war.» Darum fühle man besser noch mal an der Halsschlagader. Der Kopf des Reglosen war mit einer Jacke bedeckt. Als sie versuchte, sie anzuheben, hörte sie die Stimme: «Lass die Finger von der Leiche!» Sie sah auf und vor sich ein Paar blutige Hände. Darin ein Beil, ein Messer und einen Revolver. «Da habe ich gedacht, aha!, das ist doch etwas anderes hier. Der hat den umgebracht.» Loyau-Kennett erhob sich und begann, mit dem Mann zu sprechen.

 

“SCHÖN UND GUT, ABER SIE SIND ALLEIN. GEGEN VIELE. SIE WERDEN VERLIEREN”

 

«Warum? Warum soll ich die Leiche nicht anfassen?»
«Weil ich den Mann getötet habe. Er war britischer Soldat und hat Muslime in ihren Heimatländern getötet. In Afghanistan, im Irak, jeden Tag werden dort und anderswo unsere Frauen und Kinder getötet, nur weil sie Muslime sind.»
«Ja, das ist wahr und sehr traurig. Was wollen Sie jetzt? Geld, ein Fluchtauto?»
«Ich will kämpfen. Ich will einen Krieg, hier in London.»
«Das geht nicht. Warum treten Sie nicht einer Armee bei und kämpfen in den Ländern dort? Dann können Sie so viele Soldaten töten, wie Sie wollen. Wäre das nicht besser? Ausserdem kommt eh bald die Polizei.»
«Das ist mir egal. Ich werde kämpfen und sie erschiessen.»
Und dann sagte Ingrid Loyau-Kennett jenen Satz, der ihr das höchste Lob einbringen sollte, von höchster Stelle: «Schön und gut, aber Sie sind allein. Gegen viele. Sie werden verlieren.» Es war der Satz, über den der damalige Premierminister David Cameron vor seinem Regierungssitz in der Downing Street sagte: «So muss man Terroristen gegenübertreten!» Aus deren Worten er heraushörte: «Ingrid Loyau-Kennett sprach für uns alle!»

Auf den Bildern von damals steht sie da, erst dem einen Mörder gegenüber. Dann dem anderen. Man sieht sie von hinten. Blonder Rossschwanz, schlank, in Jeans und T-Shirt. Hände in den Taschen einer ärmellosen Jacke. Gelassen. Oder verloren. Wer will das mit Sicherheit bestimmen? Angesichts einer Situation, in der nichts mehr sicher, in der nichts gesichert war. In der Begriffe wie «normal» oder «erwartungsgemäss» ausser Kraft gesetzt waren. Und: Angst? Loyau-Kennett schnaubt. «Warum hätte ich Angst haben sollen? Der Mann war nicht betrunken. Nicht auf Drogen. Etwas aufgeregt, ja. Aber das konnte ich verstehen. In seiner Situation. »

Michael Adebolajo war zur Mordzeit 29 Jahre alt und vier Tage zuvor zum sechsten Mal Vater geworden. Sein Komplize Michael Adebowale war 22. Beide Männer sind Briten, aus christlichen Familien nigerianischer Herkunft. Zum Islam, seiner extremen, mörderischen Form, zog es sie erst als junge Männer. Gegen die Bemühungen ihrer Familien.

An jenem Tag im Mai hatten die beiden vor der Kaserne in Woolwich auf einen Soldaten gelauert. Auf irgendeinen Soldaten. Ein Soldat sei ihnen als «das fairste Ziel» für einen Anschlag erschienen, sagte Adebolajo später aus. «Wenn jemand in die Armee eintritt, versteht er, dass er damit sein Leben riskiert.» Der 25-jährige Lee Rigby sei Allahs Wahl gewesen. Die Mörder gaben Gas, rammten ihren Opel Tigra in Rigby, mit 50 bis 60 Stundenkilometern, zerrten den noch Lebenden, sich noch Regenden auf die Strasse, hackten mit Messern und Schlachterbeil auf ihn ein und versuchten schliesslich, ihn zu enthaupten, «denn das Durchtrennen der Halsschlagader ist die humanste Art, ein Lebewesen zu töten». Dann baten sie Passanten, die Polizei zu rufen. Die folgenden 14 Minuten wartete Adebowale meist abseits und stumm am Zaun. Adebolajo sprach – blutverschmiert, mit seinen Waffen gestikulierend – in die Smartphones des sich versammelnden Publikums. Beteuerte, er sei der Typ, der alten Müttern die Treppe hinaufhelfe. Entschuldigte sich, dass Frauen und Kinder die Tat hätten mitansehen müssen. Drängte: «Setzt eure Regierungen ab! Eure Politiker scheren sich nicht um euch. Glaubt ihr, es erwischt David Cameron, wenn wir um uns schiessen? Glaubt ihr, Politiker werden sterben? Nein, ihr Normalbürger und eure Kinder!» Ingrid Loyau-Kennett spürte eine unerhörte Verbindung.

Sie wurde in Frankreich geboren, als älteste Tochter einer Britin und eines Franzosen. Scheidung der Eltern mit vier. Sie wuchs auf mit den beiden Schwestern bei der Mutter in Paris. «Eine kalte Frau», sagt Ingrid Loyau-Kennett. «Ich habe ihr nie, nie verziehen, dass sie meinen armen Vater verliess. Was hatte sie an ihm auszusetzen? Was gefiel ihr bloss nicht an diesem perfekten Mann?» Sie selbst, sagt sie, habe ihn über alles geliebt. Dann also war er wärmer als die Mutter? «Ach wo!», ruft sie unwirsch. «Ich habe ihn geliebt, ja. Aber es kam nie etwas von ihm zurück!» Als Ingrid Loyau-Kennett erwachsen war, nahm sich der Vater das Leben. «So hat die Polizei es erzählt.» Sie lacht. Ihr Tonfall kippt ins Schrille. «Aber ich weiss, es war Mord! Getötet von seiner sogenannten Geliebten!»

Ingrid Loyau-Kennett studierte Geschichte. Heiratete einen Iraner, der sie schlug. Bekam mit ihm eine Tochter, dann einen Sohn, wurde geschieden. Der Mann verschwand, für ein paar Jahre. Als die Kinder im Teenageralter waren, tauchte er hier und da flüchtig wieder auf. Ingrid Loyau-Kennet war selbst noch ein Teenager gewesen, als sie erstmals für einen Verwandtenbesuch ins Königreich kam. «Ich stieg in London an der Viktoria Station aus dem Zug, atmete tief ein und wusste: ich bin daheim!» Nach ihrer Scheidung, Anfang der Achtzigerjahre, zog sie dauerhaft über den Kanal. Auf die Legitimation ihres Heimatgefühls wartet sie bis heute. Kinder britischer Mütter, die vor 1983 im Ausland geboren wurden, haben nicht automatisch das Recht auf Staatsbürgerschaft. Sie müssen um sie bitten, per Antrag. Und weil die Behörde die Bittstellerin Loyau-Kennett wieder und wieder abweist, wird aus der Bitte ein Kampf. Sie erschöpft sich in ihm seit 30 Jahren. «Verrückt!», ruft sie. «Mir verweigern sie die Staatsbürgerschaft, weil mein britischer Elternteil eine Frau ist. Aber jeder Schwarze, Araber, Muslim, der uns bombardiert und seit fünf Jahren hier lebt, bekommt sie!»

Ist es ein Zeichen von Wahnsinn, Zusammenhänge zu sehen, wo keine sind? Ist verrückt, wer das Leben nicht länger als eine mehr oder weniger natürliche Kette von Widrigkeiten sieht, sondern: als eine einzige, persönliche Attacke? Ist rasende, alles umfassende, alles verzehrende Wut eine Form von Wahn? Oder ist Wahnsinn ihr Ergebnis?

Einmal gab sich Ingrid Loyau-Kennett fast geschlagen, packte ihre Tochter, ihren Sohn, ihren Haushalt, lieh sich ein paar Tausend, «von meiner Mutter», und floh nach Neuseeland. «Ich arbeitete dort als Lehrerin, als Übersetzerin, in zwei Jobs, 24 Stunden am Tag.» In ihrem Gang hängt, neben den Union-Jack-Wimpeln und den gerahmten Porträts der Königin und ihrer Familie, auch ein Bild von ihr. Lachend, im Kreis und Arm in Arm mit einer Maori-Familie. «Die hatten mich adoptiert. Ich war eine von ihnen.» Beinah «zuhause». Hätte die Behörde mit ihren ablehnenden Bescheiden sie nicht alljährlich daran erinnert: Ohne amtliche Beglaubigung ist das Gefühl auch in Neuseeland nichts wert. So kehrte sie nach sieben Jahren zurück, ins Königreich. «Wenigstens eine Krankenversicherung habe ich hier.» Sie spricht weiter mit jenem «blöden, blöden Akzent» – Französisch, mit einem Hauch Neuseeland darin –, der die Nachbarn, in ihrer Ignoranz, verlockt, ihr «Verfickte Polin!» hinterherzubrüllen.

«Ich bin Nomadin», sagt sie. «Überall daheim.» Was ja oft genug gleichbedeutend mit nirgends ist. In Cornwall, sagt sie, landete sie aus Versehen. «Das College hier war das einzige in ganz England, das zwei Plätze frei hatte für meine Kinder.» Sie lacht bitter. «Statt das dämlich als grosses Glück zu sehen, hätte es mir eine Warnung sein sollen.» Hätte sie rechtzeitig ahnen sollen, was sie heute, nach elf Jahren hier, weiss: «Kein Mensch will nach Cornwall!» Cornwall ist die bedürftigste Grafschaft im Königreich. Einer der ärmsten Landstriche in der Europäischen Union. Cornwall, das ist eine atemberaubende Steilküste und bahamabreite Strände. Das ist bröckelnder Verputz‚ Arbeitslosigkeit, Trainingsanzüge, Fettleibigkeit und häusliche Gewalt. Von 2007 bis 2013 erhielt Cornwall von der EU Notfallzahlungen für den Ausbau seiner Infrastruktur und Universitäten in Höhe von 654 Millionen Britischen Pfund, 825 Millionen Franken. «Holt euch die Kontrolle zurück!», lockte die Pro-Brexit-Kampagne 2016. Die aussichtslosen Bewohner Cornwalls folgten mit überdurchschnittlicher Mehrheit diesem Sirenenruf und verlangten den Austritt aus der Union. Ein Landesabgeordneter warnte: «Brexit bedeutet für uns, wir stürzen von der Klippe!» Darüber kann die Befürworterin Loyau-Kennett nur lachen. Weil dieses Gefühl sie persönlich seit langem beherrscht.

Ihr Austausch mit Adebolajo dauerte acht Minuten. Sie sagt, sie wurde oft gefragt, ob die ihr nicht endlos erschienen seien. Ihr wurde oft gesagt, die müssten ihr endlos erschienen sein! Loyau-Kennett lacht zornig. «Und ich sage immer wieder: Neinneinnein! Sie kamen mir auf die Sekunde genau vor wie acht Minuten!»

Als sie sah, wie ihr Bus anfuhr, fragte sie Adebolajo: «Kann ich noch etwas für Sie tun? Sind Sie sicher, dass Sie kein Auto brauchen? Ich muss dann jetzt gehen.» – «Kein Problem», sagte der Mörder. Ingrid Loyau-Kennett stieg zurück in den Bus, verweigerte sich dem gebrüllten Befehl eines Mannes, sich zu Boden zu werfen, sah durch das Fenster ein Polizeiauto die Strasse heraufrasen, hörte Schüsse, sah die Mörder auf den Asphalt stürzen und brüllte gegen die panischen Schreie der anderen Fahrgäste an: «Haltet die Klappe! Es ist alles vorbei!» Ausser Wut über deren sinnloses, verspätetes Theater, sagt sie, fühlte sie nichts. Lang nichts. Und was sie schliesslich fühlte, war ihr nicht neu.

Panikattacken. Atemnot. Existenzangst. Depression. Sie bekämpfte sich 25 Jahre mit Tabletten. «Meinen Kindern zuliebe! Denn wer mit einem depressiven Elternteil aufwachsen muss, hat später selbst ein erhöhtes Risiko, an Depression zu erkranken.» Gott sei Dank, sagt sie, gehe es ihren jetzt erwachsenen Kindern gut. Seit sie aus dem Haus und weit weg sind, in London, geht es der Mutter zunehmend schlechter. Die Tabletten nimmt sie nicht mehr. Seit die Ärzte versuchen, «mir die billige, potenziell tödliche generische Version statt das Original anzudrehen». Sie hat es mit Therapie versucht. Zwei Jahre nach dem Mord. Als die Armee von ihrem Zustand hörte und, in Anerkennung für ihren Einsatz für den gefallenen Soldaten, ihr ein paar Sitzungen bei einer Therapeutin in London spendierte. «Aber ich bin nicht gut darin, über mich zu sprechen.» Was ihr einzig bleibt, ist die Wut. Auf das sich «einen Dreck» um sie scherende Sozialamt. Auf den das bettelarme Cornwall zusätzlich «abkassierenden» Duke der Grafschaft, Prinz Charles. Auf die über Cornwalls einst reichen Fischgründen kreisenden Geier der EU. Und vor allen anderen: auf all die Arbeitslosen, Hilfeempfänger, auf ihre Arme-Leute-Nachbarn. Diese «fetten, faulen, verblödeten» Sozialschmarotzer, mit denen sie, die «exzellent ausgebildete Tochter arbeitender Aristokraten», nichts gemein hat. Nichts gemein haben darf. Nicht für eine Sekunde. Sonst, das weiss sie instinktiv, ist das Leben endgültig vorbei. Es ist eine sich wieder und wieder wiederholende Tirade. Und wenn die Anstrengung, die es kostet, ihr zuzuhören und die Erschöpfung danach ein Massstab sind für die Anstrengung und Erschöpfung, die ihr das Leben sind, dann muss beides bodenlos sein. Man könnte sich trösten, dass sie schon vor jenem Tag in Woolwich auf Talfahrt war. Dass darum der Mord an Rigby kaum, wenn überhaupt einen Anteil an ihrer Verzweiflung hat. Oder? Muss man sich nicht vielmehr besorgt fragen, welchen Effekt ein Erlebnis, das schon für stabile Menschen ein Trauma ist, erst auf eine schon brüchige Psyche hat. Auf diejenige von Danny Cornelius zum Beispiel.

Der 38-jährige Danny Cornelius hatte in der Strasse gelebt, in der Rigby hingerichtet wurde, und den Mord mitangesehen. Er war zuvor selbst zweimal Opfer von Überfällen gewesen. Beim ersten Mal entrissen ihm Männer mit vorgehaltenem Messer seine Goldkette. Zwei Jahre darauf zwangen ihn Räuber, bei einem Bankautomaten Geld abzuheben und es ihnen zu übergeben. Beide Male waren die Angreifer junge, schwarze Männer. Cornelius hatte nach den Überfällen eine paranoide Schizophrenie entwickelt und sich weitgehend von Familie und Freunden zurückgezogen. Nach dem Mord an Lee Rigby reichten andere, geringere Ereignisse aus, um ihn endgültig auf Schussfahrt zu schicken. Als ihm die Beförderung, um die er ersucht hatte, verwehrt wurde, gab er einen Job als Kurier auf und litt, zu allem anderen, nun unter der eigenen Sinnlosigkeit. Er suchte verzweifelt nach einer Aufgabe und fand sie für eine Weile, indem er mit einer älteren Nachbarin einkaufen ging. Bis sie starb. An seinem letzten Tag hatte er in die Stadt gewollt, um sich die Haare schneiden zu lassen. Seine Grosseltern konnten ihn nicht fahren. Er war frustriert, wütend. Er zog sich zurück. In den Garten. Als sein Grossvater ihm nachging, um nach ihm zu sehen, fand er ihn erhängt an einem Baum. Die Inszenierung, die auf Loyau-Kennetts Begegnung mit den Mördern folgte, kann auch nicht von Vorteil gewesen sein. Die Busfahrt von London nach Cornwall damals verbrachte sie zwischen den Sitzreihen auf dem Boden hockend. Das Handy ununterbrochen am Ohr. Es hörte nicht auf zu klingeln. Jeder wollte jetzt mit ihr sprechen. Gleich sofort und bitte exklusiv! Loyau-Kennett lacht. Ruft: «Verrückt!» Für die Dauer dieser Erinnerung sieht sie glücklich aus. Gegen Abend, kurz vor Cornwall, fischte ein Fernsehsender sie aus dem Bus, buchte sie in ein Hotel ein und präsentierte sie am nächsten Morgen im Frühstücksprogramm. Sie war jetzt nicht länger eine Hilfeempfängerin aus einer Hilfeempfänger-Grafschaft. Sie sollte jetzt etwas geben, das mit keiner Münze aufzuwiegen war. Halt. Hoffnung. Sie war «Eine Frau, die zwei Mörder stoppte», «Die zweifache Mutter, die Terroristen den Krieg ausredete». Es folgten mehr Einladungen zu den üblichen Sendungen, in denen die Moderatoren zu den Erzählungen ihrer Gäste grossäugig nicken. Es folgten die offiziellen Lobgesänge. Die Medaillen. Das ganze atemlose, bisweilen gedankenlose Tamtam. David Cameron mahnte: «Wir sollten alle so handeln wie Ingrid Loyau-Kennett!» Also: Wenn wir auf einen blutverschmierten, beilschwingenden Mörder treffen, auf ihn zugehen und mit ihm plaudern? Auf der fernen Seite des Kanals priesen sich die Franzosen in Funk und Fernsehen glücklich, dass diese Frau, die vor Jahren ihr Land verlassen hatte, weil sie sich dort als Fremde fühlte, doch eigentlich eine von ihnen war. Und die angesehene britische Tageszeitung «The Telegraph» jubelte: «Dieser Frau steht jetzt hoffentlich eine grosse Karriere im öffentlichen Dienst bevor!» Die Heldin, auf ihren paar Quadratmeter Sozialbau, klammerte sich an jedes Wort.

 

“ICH HABE SCHLIMMERES ERLEBT ALS DEN MORD AN RIGBY.” SIE ERLEBE SCHLIMMERES. JEDEN TAG

 

Im Oktober ihres Jubeljahrs nominierte die britische Öffentlichkeit sie für die Auszeichnung zum Pride of Britain, dem Stolz der Nation. Alljährlich ausgeschrieben und im Fernsehen präsentiert vom «Daily Mirror», dem Klatschblatt der Nation. Mit ihr nominiert, in der Sparte Herausragender Mut, waren Amanda Donnelly und ihre Tochter Gemini Donnelly-Martin. Die beiden Frauen, die an der Seite des sterbenden, vielleicht auch schon toten Lee Rigby gebetet hatten. Ingrid Loyau-Kennett reiste zur Preisverleihung nach London. Prinz Charles und Prinz William würden dort sein, David Beckham und Jamie Oliver. Was für ein verheissungsvoller Tag! Am Abend vorher die Generalprobe. Und dann, am Tag der Tage: nichts. Nicht für Ingrid Loyau-Kennett. Und nicht für Mutter und Tochter Donnelly. «Aber die waren eh nicht gekommen», sagt Loyau-Kennett. Der «Daily Mirror» und sein Mitveranstalter, der Fernsehsender ITV, hatten die offizielle Verleihung des Preises an die «Engel von Woolwich» in letzter Sekunde zurückgezogen. «Mit grossem Bedauern, aus rechtlichen Gründen.» Die Verhandlungen gegen Lee Rigbys Mörder sollten im Monat darauf beginnen. Die Veranstalter waren von ihren Anwälten in letzter Minute darauf aufmerksam gemacht worden, dass nichts «ausgestrahlt oder veröffentlicht werden darf, das die Ausübung der Justiz behindert, inklusive Hintergründe und Anschuldigungen im Zusammenhang mit der Mordanklage in Woolwich». ITV wies seine Eben-noch-Heldin an, der Feier fern zu bleiben.

Davon spricht Ingrid Loyau-Kennett, als sei es gestern gewesen. Sie ruft: «Ich wurde abgewiesen!» Sie schimpft: «Es war so verdammt unfair!» Sie sagt: «Es ist so erniedrigend.» Die schnitten sie aus dem Programm, als habe es sie nie gegeben. Der Sender habe ihr versprochen, sie dafür im folgenden Jahr einzuladen. «Passierte natürlich nicht!» Sie sagt, es sei ihr egal, ob sie im Fernsehen zu sehen sei oder nicht. «Aber ich will meinen Preis und den Leuten danken, die mich nominiert haben!» Sie fragt: «Das ist doch Betrug?»

Natürlich hat sie später beim Sender gefragt, warum sie nicht wieder eingeladen worden ist. «Die reden darüber nicht mit mir. Vielleicht reden sie mit Ihnen?» Natürlich nicht. Das Leben geht weiter. Das ist normal. «Mein Leben aber ging so», sagt Ingrid Loyau-Kennett und zieht mit der Hand eine flache Linie in die Luft, die plötzlich leicht abfällt. «Dann kam Lee Rigby.» Die Linie steigt steil an. «Und dann, peng, ist alles vorbei.» Ihr in die Luft gemaltes Leben stürzt ins Bodenlose.

Im Mai 2014 wurde Ingrid Loyau-Kennett nach einem Vorfall im Supermarkt Tesco ihres Wohnorts von der Polizei abgeholt. Zeugen hatten ausgesagt, sie habe den Apotheker des Supermarkts beschimpft. Der Apotheker ist schwarz. Die Nicht-Engländerin Loyau-Kennett habe zu ihm gesagt, dass er in England nichts zu suchen habe. Dass er nach Nigeria gehen und unter Seinesgleichen arbeiten solle. Lee Rigbys Mörder waren Briten nigerianischer Herkunft. War das für ihre Tirade, die sie «ein Missverständnis» nennt, von Bedeutung? Die Polizeibeamten, die sie drei Tage später zuhause aufsuchten, klagten sie nicht an wegen eines rassistischen Verbrechens. Sie nahmen sie nach dem Gesetz für die Sorge für psychisch Kranke (Mental Health Care Act) in Gewahrsam und fuhren sie in eine psychiatrische Klinik. Zu ihrem eigenen Schutz. Eine Sorge, welche die In-Gewahrsam-Genommene nicht schätzen kann. Für sie ist der Vorfall ein weiterer Beleg für etwas, das sie seit langem weiss: «Alle sind gegen mich.»

 

ALLES HIER NERVT SIE. ALLES BEDROHT SIE. IN IHRER SOUVERÄNITÄT. IN IHREM FORTKOMMEN. IN IHRER EXISTENZ

 

«Ich habe Schlimmeres erlebt als den Mord an Rigby», sagt Ingrid Loyau-Kennett. Sie erlebe Schlimmeres. Jeden Tag. «Wenn die Nachbarskinder mit Steinen und Eiern nach mir werfen und ich mir vorstelle, zu was für Erwachsenen sie heranwachsen werden. Das macht mir Angst!» Aber doch nicht dieser Mörder. «Wie hiess er noch?», fragt sie. Michael Adebolajo. Der blutverschmierte Mann mit dem Beil und den Messern. Der nicht betrunken war. Und nicht auf Drogen. Nicht wie die Nachbarn. Der «nur noch reden wollte», mit dem sie reden konnte, für acht keinesfalls lange Minuten. Später, im Prozess gegen ihn, bedauerte Adebolajo, dass er anderen Passanten nach dem Mord erst habe ausdrücklich versichern müssen, dass sie nicht in Gefahr seien: «Weil die Leute selbst unter den besten Umständen oft Angst vor schwarzen Männern haben. Und zu diesen unglückseligen Stereotypen kam, dass ich Waffen in den Händen hielt und Blut an meinen Händen und im Gesicht hatte.» Adebolajo ist nicht einmal verrückt. Das haben Gutachter ihm vor dem Prozess attestiert.

«Natürlich ist der nicht verrückt», ruft Ingrid Loyau-Kennett. «Der hatte einfach die Schnauze voll.» Das konnte sie verstehen. «Und natürlich, weil ich das auch mal im Fernsehen sagte, schreien meine idiotischen Nachbarn mir heute noch ‹Terroristin› hinterher und bewerfen mich mit Steinen!» Sie ruft zornig: «Was für ein Unsinn! Ich bin so wenig ein Terrorist wie der!»

Im Dezember 2013 wurde Michael Adebolajo zu lebenslanger Haft verurteilt. Er war dem britischen Sicherheitsdienst lang vor dem Mord als gefährdet, als gefährlich bekannt gewesen. Der britische Geheimdienst MI5 hatte vergeblich versucht, ihn für seine eigenen Zwecke zu rekrutieren, und ihn dann «vom Radar verloren».

Sein Komplize Michael Adebowale wurde verurteilt zu einer Haftstrafe von 45 Jahren. Seit er als Jugendlicher mitangesehen hatte, wie ein Bekannter auf offener Strasse zu Tode gehackt wurde, hört Adebowale Stimmen. Er sieht sich verfolgt von Dschinns, Geistern. Während der Untersuchungshaft kehrte er auf ihren Befehl zum Christentum zurück. Doch plagten ihre Stimmen ihn nun stärker denn je. Um sie zum Schweigen zu bringen, floh er zurück in den Islam. Die Gutachter erlebten ihn als «paranoid und zusammenhanglos» und «an der Grenze zur Schizophrenie». Ingrid Loyau-Kennett kann beide Urteilssprüche nicht verstehen. «Der erste ist ein brutaler Killer, dem gehört der Kopf abgeschlagen, genau wie er es bei seinem Opfer gemacht hat!» Aber der zweite? «Der arme Junge ist doch nur verrückt! 45 Jahre im Knast für Wahnsinn?! Wie bitte ist das gerecht?»

In der Dokumentation «Warum wurde ich verrückt?» («Why did I go mad?») aus der BBC-Serie «Horizon» fragen die Autoren nach den möglichen Ursachen für Schizophrenie. Neben den naheliegenden Auslösern wie Missbrauch und andere Gewalterfahrungen hatten die Betroffenen eine Erfahrung gemein: Sie fühlten sich zeit ihres Lebens als – oder waren – Aussenseiter. Sie hatten in ihrer Jugend häufig den Wohnort wechseln müssen, die Schule, den Freundeskreis. Sie erlebten sich gesellschaftlich immer wieder als Neuanfänger. Immer aufs Neue als Fremde. Und blieben es schliesslich dauerhaft. Das klingt nicht nur wie ein gutes Rezept für Schizophrenie, sondern für ein Sich-selbst-Verlorengehen überhaupt.

Ingrid Loyau-Kennett leidet immer öfter an Panikattacken. Atemnot. Unter den Nachbarn, Cornwall, der «widerwärtigen Gesellschaft» und am eigenen Stillstand. Alles hier nervt sie. Alles bedroht sie. In ihrer Souveränität. In ihrem Fortkommen. In ihrer Existenz. Die zwischen den Autos Ball spielenden Kinder. Die lauten Partys. Das behinderte Kind im 2-Quadratmeter-Garten neben ihrem, das sich laut brummend und stöhnend durch den Tag wiegt. Dann schreit die frühere Lehrerin, einstige Übersetzerin, vergessene Pfadiführerin aus dem Fenster: «Verflucht noch mal, sprecht mit ihr! Sie will doch nur, dass jemand mit ihr spricht! Warum kapiert ihr Idioten das nicht!» Die Nachbarn schlagen zurück. Zerbeulen ihr Auto. Zerbrechen den Spiegel. Schreien ihr «Terrorist!» hinterher. Auf ihrem Laptop sammelt sie unerhörte Beweise. Fotos von verbeultem Blech, zerkratzter Haut und von blauen Flecken. Nach jedem neuen Terroranschlag sieht auch sie sich vermehrt attackiert. Und weil die Polizei auf ihre Hilferufe längst nicht mehr kommt – «Im Gegenteil, die kämpfen auf der Seite meiner Idioten-Nachbarn, gegen mich!» – schleicht Ingrid Loyau-Kennett nachts auf den Parkplatz und schmiert Autoschlösser mit Kleber dicht.

«Sie werden verlieren», hatte sie zum zu allem bereiten Adebolajo gesagt. «Denn Sie sind allein. Gegen viele.» Und man kann einem Premierminister nachsehen, dass er aus diesen Worten hört: «Sie sprach stellvertretend für uns alle!» Wahrscheinlicher scheint: Sie sprach für sich allein. Mit einer Botschaft für uns alle.

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1.

London, 2013: Das Bild, das Ingrid Loyau-Kennett zur Heldin stilisierte

2.

«Die zweifache Mutter, die Terroristen den Krieg ausredete»: Auf den Medienhype folgte – nichts