Werbung
«Die Vulva fliegt irgendwo im luftleeren Raum»

«Die Vulva fliegt irgendwo im luftleeren Raum»

  • Interview: Jana Avanzini; Foto: Simon Hallström 

Die wissenschaftliche Illustratorin Nadja Baltensweiler zeigt sich schockiert von ungenauen oder fehlerhaften Abbildungen in Aufklärungsbüchern. Ihre eigenen Illustrationen zu primären weiblichen Geschlechtsorganen sollen mit hartnäckigen Tabus aufräumen. 

annabelle: Nadja Baltensweiler, Ihre Broschüre heisst: «So siehts aus bei der Frau» – Sollten wir das nicht langsam wissen?
Nadja Baltensweiler: Natürlich. Wir glauben ja auch, Bescheid über unsere Körper zu wissen. So ging es mir, als ich meine Recherche begann. Wie viel ich dabei gelernt habe, hat mich dementsprechend schockiert, wie auch viele meiner Freundinnen, weiblichen Verwandten und selbst die Lektorin.

Sie haben 320 Illustrationen von weiblichen Geschlechtsorganen in aktuellen Aufklärungsbüchern untersucht. Was kritisieren Sie?
Die meisten sind nicht komplett, geschweige denn richtig beschriftet. Das Jungfernhäutchen und die Teile der Klitoris sind nur in weniger als fünf Prozent der Abbildungen dargestellt oder erwähnt. Teilweise fehlt die ganze Klitoris. Das ist so abstrus, als würde man in Illustrationen des Penis beispielsweise die Schwellkörper weglassen. Übrig bliebe ein Hautsack mit Harnröhre. (Lacht.) Oft werden die weiblichen Organe auch dekontextualisiert dargestellt.

Das heisst?
Sie fliegen irgendwo im leeren Raum, sind selten zwischen den Beinen beziehungsweise im Unterbauch verortbar. Sie werden abstrahiert, teilweise verschwommen dargestellt, Haare existieren ebenfalls kaum. Dazu kommen seltsame Seiten- und Frontansichten, wie abgepaust aus einem Ärzte-Atlas. Erst bei meinen Recherchen habe ich realisiert, dass diese 2D-Ansichten überhaupt nicht realistisch sind.

Vor Kurzem ist das Sexualkunde-Lehrbuch «Wir Powergirls» (für Mädchen) und «Rakete startklar» (für Buben) für 10- bis 13-Jährige erschienen, in welchem die Klitoris gänzlich fehlt.
Leider muss ich sagen, dass ich darüber nicht erstaunt bin. Aber ich finde es schade und verantwortungslos, Kindern und Jugendlichen keine kompletten und sachlichen Informationen mitzugeben – gerade weil sie in diesem sexualisierten Zeitalter mit so vielen expliziten Bildern konfrontiert werden. Das macht doch keinen Sinn. Es geht dabei noch nicht einmal um Lust und Sex, sondern erstmal bloss darum, welche Organe ich habe und wie sie heissen.

Was müsste sich ändern, damit die nächste Generation von Mädchen besser aufgeklärt ist?
Meiner Meinung nach helfen ein unverkrampfter Zugang und natürliches Interesse. Und Interesse kann man durch Informationen wecken. Das konnte ich bei mir selbst beobachten. Je mehr Bücher und Filme ich mir dazu angeschaut habe, desto mehr wuchsen mein Wissen und mein Interesse an weiteren Details. Das hat auch meinen Zugang zum eigenen Körper verändert.

Inwiefern?
Ich habe einen anderen Bezug zu meiner Vulva und meiner Vagina, nehme mich bewusster wahr, bin weniger beschämt und spreche viel offener darüber. Meine Geschlechtsteile sind ein Köperteil von mir wie alle anderen auch. Ich muss mich deshalb nicht schämen, wenn etwas schmerzt oder nicht stimmt.

Was war Ihnen wichtig bei Ihren eigenen Illustrationen?
Sie sollen informativ sein und auf keinen Fall schambesetzt. Dazu wollte ich die Informationen sachlich vermitteln und nicht lustig und freakig versuchen, eine damit implizierte Peinlichkeit zu überspielen. Ich stelle die Frauen auch nicht hip oder cool dar, sondern so, dass sich jede Frau und jedes Mädchen damit identifizieren könnte. Die Organe schweben nicht losgelöst vom Körper, sondern zeigen sich wie bei einem langsamen Zoomen von der ganzen Frau ran zu den Details. Ich wollte ansprechende, warme und schöne Illustrationen über oft übergangene Organe machen.

Lassen wir die Darstellungen einmal aussen vor. Wo sehen Sie bei der Sexualaufklärung noch Verbesserungspotenzial?
Es sollte ganz klar gesagt werden, dass die Vulva nichts Ekliges ist. Schon Elfjährige werden mit pornografischem Material konfrontiert, schämen sich aber, wenn ein Haar zwischen ihren Schenkeln wächst. Auch die Drüsen, die Sekrete und ihre Funktionen sollten gelehrt werden, damit ein Duft oder eine Flüssigkeit nicht als eklig angesehen wird. Wichtig ist auch, dass Mädchen ihre primären Geschlechtsteile nicht nur mit Sexualität und Fortpflanzung verbinden. Das heisst, sie nicht nur im Zusammenhang mit einem anderen Menschen definieren. Nicht als «Ding» zum Sex haben, sondern als Teil des eigenen Körpers.

Werbung

1.

Illustration aus «So siehts aus bei der Frau»

2.

Illustration aus «So siehts aus bei der Frau»

3.

Illustration aus «So siehts aus bei der Frau»