Die Journalistin Silke Bender (49) sass in einem Moment noch auf einem indischen Töffli im Dschungel, im anderen lag sie im Schlamm. Sie erzählt, wie es ist, wenn der Blitz einschlägt.
War da zuerst der explosionsartige Knall und dann das blendende Licht oder der elektrische Schlag, der mich wegsacken liess? Alles kam so plötzlich und alles gleichzeitig, mit einer solch brachialen Wucht, dass sie mich von meinem indischen Töffli riss. Ich fiel in den Schlamm. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, dass mein Nachbar, der eben noch neben mir stand, offenbar mehrere Meter weit weggeschleudert worden war und nun zuckend und schreiend sein Bein umklammerte. Das Bild hat sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt.
Jeder legt sich in seinem Leben seine eigenen, möglichen Todesszenarien zurecht. Meines schien mir bisher immer bedrohlich fest umrissen – wenn ich auf den qualmenden Aschenbecher neben meinem Computer blicke. Vielleicht noch ein Flugzeugunglück – wegen meines Fernwehs. Seit ich in Paris lebe, ist noch ein drittes Szenario dazu gekommen: ein Terroranschlag. Die Attentate fanden alle in meiner Nachbarschaft – in Cafés und Restaurants – statt, in denen ich selbst häufig Gast bin.
Ein Blitzschlag stand nie auf der Liste. Er kam nicht ganz aus heiterem Himmel, ein paar dunkle Wolken lagen seit meiner Ankunft über Auroville. Der Nachmittag war aber sonnig, und ich wollte mich zum ersten Mal bewusst verirren, mit meinem Leihtöffli die Sandpisten durch den Dschungel erkunden. Unter dem grünen Dach der Bäume sah ich nicht, was sich über mir zusammenbraute. Es fing an, zu tröpfeln.
Zwanzig Inder hatten unter an einem Banyan-Baum Schutz gesucht. Er gilt als heilig, in ihm soll der Gott Krishna wohnen. Ich fragte einen Töfffahrer unter ihnen nach dem Weg zurück: «Wait here, too long to go, rain become heavy», sagte er. Also stellte ich mich neben ihn. Es regnete nun schon wie aus Kübeln. Dann ein ganz naher Donner. Baum? Blitze? Da war doch was? Auf Schulreisen schärfte uns der Lehrer doch immer ein, sich bei Gewitter im Freien bloss nicht unter einen Baum zu stellen. Ich schaute mich um, sah nur Bäume und eine unbefahrbare Schlammpiste. Da war es schon zu spät.
Als ich mich aufrappelte, war ich ein paar Minuten lang fast blind, in meinem linken Ohr pfiff es, als wäre mein Trommelfell geplatzt, meine linke Körperhälfte fühlte sich taub an. In der Nähe schlug noch ein Blitz ein, ein paar dicke Äste stürzten herunter. Alle rannten in Panik weg. Ich blickte auf den Mann am Boden, zögerte und rannte hinterher, in der Hoffnung, sie wüssten wohin. Immerhin schnappte ich mir noch ein vor Angst wie angewurzeltes Schulmädchen und zog es mit. Wir fanden Unterschlupf im Rohbau eines recht grossen Gebäudes. Zwanzig Inder murmelten hektisch und schauten mich an, als sei ich Seine Heiligkeit in Person. Das Mädchen übersetzte: «Warum ist dir nichts passiert? Der Mann stand doch direkt neben dir!» «Keine Ahnung», stammelte ich.
Ich hörte fast nichts, zwei Stunden lang nur schrilles Pfeifen im Ohr. Immer wieder schlugen Blitze in das Gebäude ein, jeder Wumm liess die Wände wackeln. So etwa muss es sich anfühlen, wenn Bomben fallen. «Weg von Metall, weg von den Fenstern» sagte ich in die Runde, die Ruhe selbst. «Und helft dem Mann bitte.» Drei Männer trugen den bewusstlosen Mann zu uns rein. Er kam hin und wieder zu sich, stöhnte dann vor Schmerzen. Ich gab ihm etwas zu trinken aus meiner Wasserflasche und schämte mich. Dafür, dass ich keine Heldin war und einfach weglief. Dafür, dass es ihn so schlimm erwischt hatte und ich so viel Glück hatte. Ich war erleichtert, als sie ihn schliesslich in ein Auto trugen und wegfuhren.
Ein Inder fuhr mich Stunden später zurück durch die Dunkelheit in mein Gästehaus. Erst da, in Sicherheit, verlor ich meine Fassung. Als ich am nächsten Tag – mit schwerem Muskelkater in der linken Körperhälfte – zurückkam, um mein Töffli zu holen, fragte ich die Bauarbeiter auf dem Gebäude, was aus dem Mann geworden sei. Sie reckten die Daumen in die Höhe. Doch ob sie mich richtig verstanden hatten? Ich legte, ganz indisch, eine Opfergabe neben den Baum. Für den fremden Mann und für mich, die Überlebende.