Voll auf Pilz: Mathias Plüss über seinen Drang Pilze zu sammeln
- Text: Mathias Plüss; Foto: SXC
Jeden Herbst dasselbe Spiel: Unser Autor wird vom Zwang erfasst, den Wald nach schwer auffindbaren und schwer verdaulichen Eiweiss-körpern zu durchstöbern. Dabei isst er Pilze gar nicht so besonders gern.
Es geschieht meist auf einer Spähtour im Spätsommer: Aus einem grünen Moospolster lachen mir goldene Früchte entgegen – die ersten Eierschwämme! Obwohl ich es schon so oft erlebt habe, bin ich jedes Mal gleichermassen elektrisiert. Es ist, als würde man sich jedes Jahr von neuem in dieselbe Frau verlieben. Habe ich einmal Blut gerochen, so bin ich kaum mehr zu bremsen. Spätestens wenn hinter der nächsten Tanne ein prächtiger Steinpilz hervorschaut, sattes Fleisch, süsser Geruch, schaltet mein ganzer Körper auf Pilzmodus um.
Keine Brennnessel, kein Dorngebüsch kann mich nun aufhalten. Leichten Fusses durchsteige ich Hänge, die mir im Normalzustand viel zu steil wären – stets auf der Suche nach dem nächsten Kick. Das Glücksgefühl ist unvergleichlich. Dabei handelt es sich um eine hochgradig irrationale Angelegenheit: Beschaffen und Verwerten bedeuten meist viel Arbeit und wenig Ertrag. Ausserdem gehören Pilzgerichte nicht einmal zu meinen Lieblingsspeisen. Aber mit Ernährung hat die Sache ohnehin wenig zu tun, was man schon daran erkennen kann, dass Pilze nahezu fett- und zuckerfrei sind. 100 Gramm Eierschwämme enthalten gerade mal 15 Kilokalorien – so viel verbrauche ich beim Bergaufwandern in zwei Minuten. Die Energierechnung kann nie und nimmer aufgehen. Was also hat es mit dem Pilzesammeln auf sich?
Erspäht, aufgestöbert, erbeutet
Meine einzige plausible Erklärung ist, dass hier eine Art Ersatzjagd stattfindet. Fürwahr, «sammeln» ist nicht das passende Verb für diese Tätigkeit. Pilze werden vielmehr erspäht, aufgestöbert, erbeutet – mit einem Wort: gejagt! Wenn ich auf Pilzjagd bin, bin ich ganz Tier. Ich bin der Wolf, der seiner Fährte folgt. Und wie der Wolf, der die Herde bis zum letzten Schaf tötet, jage auch ich noch weiter, wenn die Körbe längst voll sind. Ein Reflex aus Hungerzeiten? Auch das alte Paradox, dass der Mensch, der doch angeblich ein geborener Läufer ist, sich zu jedem halben Stündchen Joggen zwingen muss, findet hier eine logische Erklärung: Wenn ich auf der Jagd bin, vergesse ich jegliche Anstrengung. Nur sinnloses Rennen erfordert Überwindung.
Dies alles gilt jedoch nur für Männer. Eine Studie bei einem mexikanischen Volk mit langer Pilzlertradition hat nämlich ergeben, dass Frauen und Männer unterschiedliche Strategien verfolgen: Während Frauen dazu tendieren, einzelne Waldflächen gründlich abzusuchen, gehen Männer weite Wege und legen viele Höhenmeter zurück. Am Ende haben beide Geschlechter etwa gleich viel im Korb. Doch die Männer haben sich derart angestrengt, dass ihre Energiebilanz ins Negative kippt, während die Frauen tatsächlich mehr Kalorien einbringen, als sie verbraucht haben.
Perfekte Symbiose
Für Wildschweine mag die männliche Methode geeignet sein – für Pilze ist sie es offensichtlich nicht. Auch jenseits ihrer Eignung als Jagdobjekt bieten Pilze Stoff für die Fantasie. Ihr Leben spielt sich weitgehend im Untergrund ab: Was wir an der Oberfläche sehen, ist nur die Frucht – der eigentliche Pilzkörper befindet sich weit verzweigt unter der Erde. Dort lebt er oft eng verbunden mit den Wurzeln von Pflanzen. Der Pilz liefert der Pflanze Nährstoffe und bezieht dafür von ihr Energie. Eine perfekte Symbiose. Dieses unterirdische System ist noch wenig erforscht. Man vermutet, dass die meisten Pflanzen ohne es nicht leben könnten, ja dass die Pflanzen ohne die Hilfe der Pilze das Festland gar nie hätten erobern können.
Erst kürzlich wurde entdeckt, dass manche Pflanzen sogar über die Wurzelpilze kommunizieren und sich gegenseitig vor Schädlingen warnen. Doch auch viele Pilze sind unterirdisch miteinander verbunden und bilden auf diese Weise riesige Organismen. So ist das vermutlich grösste Lebewesen Europas ein Hallimasch im Schweizer Nationalpark, der sich über 35 Hektaren, also rund 50 Fussballfelder, erstreckt und etwa tausend Jahre alt ist. Der oberirdische Pilz hingegen ist ein flüchtiges Wesen: Auch der erfahrene Jäger kommt manchmal mit leerem Korb zurück. Ob wirklich etwas wächst, weiss man erst, wenn man im Wald ist. Gerade die oft gehörte Regel, nach der Wärme und Feuchtigkeit die Pilze zuverlässig spriessen lassen, wurde dieses Jahr mehrmals von der Wirklichkeit durchkreuzt.
Pilzwachstum folgt nicht den Mondphasen
Auch alle anderen Wachstumstheorien werden regelmässig Lügen gestraft. Kein Witz: Kürzlich hat eine eidgenössische Forschungsanstalt streng wissenschaftlich bewiesen, dass das Pilzwachstum nicht den Mondphasen folgt! Die Unberechenbarkeit macht einen Teil der Faszination für Pilze aus – und ebenso die Giftigkeit mancher Arten. Auch hier gilt: Es gibt keine fixe Regel. Der Anfänger bekommt oft zu hören, mit Röhrlingen fahre man besser als mit Blätterpilzen. Doch wenn man genau hinschaut, wird es wieder grausam kompliziert. So ist in einem eben erschienenen Pilzratgeber zu lesen: «Wenn man alle grauhütigen, rotporigen Röhrlinge und solche mit rosafarbenen Poren und deutlichem Stielnetz meidet, ist die Gefahr einer Vergiftung recht gering.» Das tönt nicht gerade vertrauenerweckend, besonders wenn man weiss, dass ein «deutliches Stielnetz» in der Praxis auch mal recht undeutlich ausfallen kann.
Es wird Unkundigen auch dringend davon abgeraten, Pilze mit Smartphone-Apps bestimmen zu wollen. Am besten mit einem Kenner mitgehen. Staunend nimmt der Laie zur Kenntnis, dass gar nicht so leicht zu definieren ist, was ein Giftpilz ist. Manche Arten sind bloss regional giftig, andere erst bei mehrmaligem Konsum, dritte wiederum nur in Kombination mit Alkohol. Es gibt Pilze, die roh tödlich giftig sind, gekocht aber eine gute Mahlzeit ergeben. Immer wieder werden Arten auf die Giftliste verschoben oder von ihr gestrichen. Letztes Jahr entfernte der Kontrolleur einen Pilz aus unserem Körbchen, der offiziell als essbar gilt: Man könne davon Durchfall bekommen. Diese Art stehe nur deswegen auf der Speisepilzliste, weil manche welschen Sektionen gedroht hätten, sie träten sonst aus dem Pilzkontrolleurverband aus.
Harmlose Unverträglichkeit
Die Geschmäcker seien halt verschieden. Wer nach einer Pilzmahlzeit Beschwerden hat, braucht übrigens nicht gleich an eine Vergiftung zu denken: Oft handelt es sich um eine unangenehme, aber harmlose Unverträglichkeit. Unsere Bäuche sind so verschieden wie unsere Fingerabdrücke, und manche Därme mögen eben keine Pilze. Gerade die viel gepriesenen Eierschwämme können buchstäblich Bauchweh machen, weil sie das unverdauliche Chitin enthalten. Es wird empfohlen, nur kleine Mengen zu konsumieren. Aber der wahrhaft Süchtige lässt sich von solchen Nebensächlichkeiten nicht abhalten. Denn für ihn ist der Pilz eben kein Nahrungsmittel. Sondern eine Beute, die er auf Teufel komm raus erjagen muss.
— Die nächste Pilzkontrollstelle findet man unter www.vapko.ch