Géraldine Fasnacht startet gern mit etwas frischer Luft in den Tag – und springt mit dem Wingsuit von der Bergkante. Man nennt die Walliser Extrem-Sportlerin nicht umsonst auch Vogelfrau.
Ein bisschen Batman, ein bisschen Prinzessin. Majestätisch steht die Gestalt am Rand eines Felsvorsprungs. Tausende Meter unter ihr ruht das Tal. «Cinq, quatre, trois, deux, un, saute!» Noch ein kleiner Juchzer – und weg ist sie. Hinabgestürzt in die Tiefe, ins Nichts.
Géraldine Fasnacht ist Profi-Basejumperin. Diese Extremsportart bezeichnet den Sprung von festen Objekten. Hochhäuser, Brücken, Türme. Der 39-jährigen Walliserin haben es vor allem die Berggipfel angetan. Statt nur mit einem Fallschirm ausgerüstet, trägt sie noch einen pink-weissen Ganzkörper-Flügelanzug, Wingsuit genannt, und springt so von den höchsten Bergen. Dank ihm kann sie den vertikalen Fall in eine horizontale Flugbewegung umwandeln. Der Sprung vom Matterhorn vor fünf Jahren, den sie und ihr Kollege Julien Meyer als erste Menschen überhaupt unternahmen, machte sie weltberühmt. Vogelfrau wird sie seitdem genannt.
Wie sich Fliegen anfühlt, können dank Fasnachts Helmkamera auch Couch-Potatoes erfahren. Klickt man sich durch ihre Dutzende von Videos auf Youtube, beginnt man ihre Passion zu begreifen: Die Arme ausgebreitet, segelt die gebürtige Waadtländerin von unzähligen Gipfeln auf der ganzen Welt hinab. Bis zu drei Minuten lang dauert der Segelflug, dabei erreicht sie Geschwindigkeiten von bis zu 160 Stundenkilometern, ehe der Fallschirm sie wohlbehalten landen lässt. «Das Rauschen des Windes im Gesicht und in den Ohren, die unendliche Weite um mich herum erfüllt mich immer wieder mit absoluten Glücksgefühlen, von denen ich nie genug bekommen kann», sagt Fasnacht. Die Begeisterung lässt sich von ihrem Gesichtsausdruck ablesen.
Eben noch war sie zwei Minuten durch die Luft geflogen, jetzt sitzt sie entspannt in einem Gartenrestaurant irgendwo in einem Walliser Kurort. Flipflops, schwarze Leggings, ein lose geflochtener Zopf und das Cap schräg aufgesetzt, dazu ein weisses ärmelloses Shirt, das den Blick freigibt auf die gebräunten, muskulösen Arme. «Sagen wir es so, ich bin mit etwas frischer Luft in den Tag gestartet», sagt sie.
Die Frage, ob sie ein Adrenalinjunkie sei, hat Geraldine Fasnacht schon tausendmal gestellt bekommen. «Natürlich bin ich seit meinen Teenagerjahren versessen auf Adrenalinkicks, natürlich habe ich eine Leidenschaft für Extremsituationen, und natürlich teste ich meine Grenzen immer wieder aus», antwortet sie. «Aber das alles ist mein Motor und hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.»
Als Zweijährige stand Géraldine Fasnacht in Verbier erstmals auf den Ski, mit acht Jahren auf dem Snowboard. «Ich machte damals alles, was Jungs mögen. Skateboard, BMX, später Motorrad. Auch gekleidet habe ich mich wie ein Junge, und in der Schule waren Mathematik und Geografie meine Lieblingsfächer», sagt sie, die es heute liebt, in der Freizeit ihre Weiblichkeit zu zelebrieren und stets perfekt manikürte farbige Fingernägel trägt.
In jeder freien Minute war Fasnacht früher mit Snowboard-Freaks, alles Jungs, unterwegs. Erst auf den Pisten, bald abseits davon. Sie schwärmte für die Freerider, die sich alljährlich beim «Xtreme Verbier» messen. Selber einmal im Wettkampf die Flanke des Bec des Rosses hinunterfahren, davon träumte sie. Ihr Trainingseifer, ihr Engagement blieben nicht unbeobachtet. 2002 wurde sie als jüngste Teilnehmerin an den Extrem-Snowboard-Event eingeladen – und gewann. Das war der Start in ihre Karriere als Profisnowboarderin. Zwei weitere Male konnte sie den Verbier-Coup wiederholen, elf internationale Freeride-Siege realisieren und 23 Mal auf dem Podest stehen. «Es hat mich süchtig gemacht, auf steilen Hängen meine Linien zu ziehen.» Ob am Nordpol, in der Region Kaschmir oder auf unzähligen Hängen in den Alpen – Géraldine Fasnacht hat überall Spuren hinterlassen.
Während sie im Winter ihre Abenteuerlust ausleben konnte, fehlte ihr im Sommer das perfekte Training, um das hohe Niveau im Freeride-Zirkus bewahren zu können. So begann sie mit Fallschirmspringen, wechselte nach 300 Absprüngen zum Basejumpen und bald darauf als Pionierin zum Springen mit dem Wingsuit. Eine Spinnerei sei ihre Leidenschaft, wird ihr schon mal vorgeworfen. Sie fordere das Schicksal unnötig heraus, klagt man sie an. «Das stimmt einfach nicht», wehrt sich Fasnacht vehement. «Ich kombiniere Alpinismus mit Basejumpen. Die meisten Unfälle in den Bergen passieren beim Abstieg. Dann sind die Bergsteiger jeweils müde, die Schneeverhältnisse extrem und gefährlich. Während Alpinisten unter diesen erschwerten Bedingungen noch ein paar Stunden vor sich haben, bin ich in ein paar wenigen Minuten wieder im Tal und trinke meinen Cappuccino.»
«WÄHREND DIE BERGSTEIGER
UNTER SCHWIERIGEN BEDINGUNGEN
NOCH EIN PAAR STUNDEN
VOR SICH HABEN, BIN ICH IN
EIN PAAR MINUTEN IM TAL UND
TRINKE MEINEN CAPPUCCINO.»
Die ab und zu geäusserte Verwunderung darüber, dass sie als Frau diesen Extremsport ausübt, kann Fasnacht deshalb auch nicht verstehen. «Fliegen ist kein harter Sport, fliegen ist sanft und passt deshalb auch gut zu uns Frauen», sagt sie. Auch Kinder könnte sie haben, sagt sie: «Warum auch nicht? Man passt sich der neuen Situation dann einfach an.»
Einleuchtend, wie sie argumentiert, oder doch eine Verharmlosung einer Hochrisikosportart, die immer wieder Opfer fordert, wie Fasnacht in ihrem engsten Umfeld auch schon erfahren musste? «Was ist schwieriger, einen Menschen nach einer Krankheit, bei einem Autounfall zu verlieren oder bei der Ausübung seiner Leidenschaft?», fragt sie. «Wir können nicht wählen, wie wir sterben. Aber wir können wählen, was uns Freude macht.» Und das tut Géraldine Fasnacht an mindestens 250 Tagen im Jahr.
1.
Der Sprung vom Matterhorn machte Géraldine Fasnacht vor fünf Jahren berühmt.