Valerie June macht aus Stimmen in ihrem Kopf sehnsuchtsvolle Musik. Derzeit tourt sie – und hat den Blues.
Valerie June hört Stimmen. Stimmen, die Geschichten singen. «Es könnten die Stimmen von Ahnen oder Geistern sein», sagt sie, die Haare zu einem Medusenhaupt aufgetürmt. «Manchmal sind sie nachts plötzlich da, manchmal auch, während ich koche oder spaziere. Es ist, als ob ich tagträume.» Sie knotet eine der grossen Dreadlocks zurück in die Frisur. «Ich höre auf die Stimmen und ihre Melodien. Und singe sie dann mit meinem eigenen Gefühl und in meinem eigenen Akzent nach», sagt sie.
So also entstehen jene schlichten, sehnsüchtigen Blues-, Folk-, Country- und Gospelsongs, die June im schleppend-melodiösen Englisch der Südstaaten singt – mit einer Stimme, die klingt, als stecke eine 90-jährige Grossmutter im Körper dieser 32-Jährigen. Sie singt so ganz anders, als es viele Frauen im Musikbusiness gerade tun: krächzender, verführerischer, schlichter. Es braucht Mut, heutzutage so zu singen.
Wir treffen Valerie June in einem Hotel am Genfersee.
ANNABELLE: Valerie June, Sie haben Ihr erstes Album «Pushin’ Against a Stone» getauft. Welche Steine wollen Sie wegstossen?
VALERIE JUNE: So einige. Heute Morgen lag ich im Bett und dachte: Ach, würde mein Leben doch endlich mal rundlaufen. Ich hatte genug Komplikationen.
Was ist denn passiert?
Ich bin eine tourende Musikerin, zum zweiten Mal verheiratet, und ich kämpfe dafür, dass die zweite Ehe nicht auch noch den Bach runtergeht. Sich dauernd in verschiedenen Zeitzonen aufzuhalten, ist hart. Zudem leide ich an einem sehr, sehr akuten Working Woman Blues, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
Das Problem: Alle, die mit mir arbeiten, müssen einen mehr als perfekten Job machen. Nur dann bin ich zufrieden.
Waren Sie schon immer so perfektionistisch?
Ja. Ich habe schon als Hausmädchen, Hundesitterin und Köchin gearbeitet und immer das Beste aus allem rausgeholt. Wenn ich Toiletten geputzt habe, waren sie blitzblank. Ich kann nicht verstehen, wenn es andere mit ihren Jobs nicht genauso halten.
Ihre ersten Gedichte und Geschichten schrieb Valerie June Hockett als Kind. Sie handelten von Fröschen oder dem Regen, «so albernen Dingen halt». Schon damals hörte sie diese Geschichten in ihrem Kopf – was sie als nichts Besonderes betrachtete, schliesslich war es schon immer Teil von ihr. «Erst später überlegte ich mir: Was ist das? Und warum macht das niemand sonst?» Und weil die eingeflüsterten Worte laut nachgesungen werden wollten, war der hockettsche Alltag in Humboldt, Tennessee, nicht sehr Zen-mässig. «Was da abging, war wie im Film ‹The Sound of Music›, aber irrer.» Die Familie sang andauernd: am Mittwochabend und Sonntagmorgen im Gospelchor. Aber auch, wenn die fünf Kinder dem Vater, einem Promoter für Sänger wie Prince oder Bobby Womack, beim Posteraufkleben oder Rasenmähen halfen. «Trotzdem dachte ich niemals, dass ich eine Stimme habe, die die Leute hören wollen.»
Wann hat sich das geändert?
Als ich die Roots-Musik entdeckt habe. Sie hat einen langen Weg hinter sich, ist die Wurzel von Punk, Gospel, Rock’n’Roll. Und ich dachte: Wow, wie diese Musiker singen, echt und wahrhaftig, ohne ihre Stimme zu verändern!
Wer sind Ihre musikalischen Helden?
Leute wie Memphis Minnie, Jessie Mae Hemphill oder Maybelle Carter. Und natürlich Nina Simone: Niemand wird jemals wie sie klingen. Auch wenn ich ihre Stimme früher nicht besonders mochte.
Warum nicht?
Als ich sie zum ersten Mal hörte, verabscheute ich sie geradezu. Doch dann fing das Leben an, ich heiratete, liess mich scheiden,eines Tages legte ich wieder ihre Platte auf. Wie mich das tief bewegte! Im Lauf eines einzigen dreiminütigen Songs verwandelte ich mich von einer jungen in eine erwachsene Frau. Nina Simone singt über Dinge, die Frauen in ihrer Seele spüren und nicht fassen können. Wie konnte ich sie jemals hassen …
2000 zog Valerie June nach Memphis, mit 19 Jahren begann sie aufzutreten. Mit ihrem Ehemann gründete sie das Duo Bella Sun. Als die Ehe am Ende war, machte sie solo weiter. Sie lernte Gitarre, Banjo und Ukulele. «Mit Roots-Musik wollten die Leute ein Gefühl ausdrücken, sie summten dabei Melodien, trommelten oder zupften auf der Gitarre. So ging es auch mir. Ich dachte: Wenn ich zuerst das Einfache lerne, kann ich später zu den komplizierteren Sachen übergehen. Es steckt viel Süsse in den einfachen Dingen.» Ihren Lebensunterhalt verdiente Valerie June mit Nebenjobs. 2010 nahm sie die EP «Valerie June and the Tennessee Express» auf. 2011 wurde sie von der Memphis and Shelby County Music Commission als Sonderbotschafterin der Musik aus Memphis ausgezeichnet. Sie sammelte Geld, um ein eigenes Album aufzunehmen, und zog im gleichen Jahr nach New York. Dort lernte sie Dan Auerbach von den Black Keys kennen, der ihr Album mitschrieb und mitproduzierte. «Er ist der geborene Musiker, ich nicht. Ich muss mich sehr genau mit meinem Instrument beschäftigen, um da Musik rauszubringen.» Sie lacht, lässt die Sonnenbrille im Haarturm verschwinden und bestellt ein Sandwich. Beim Hinausgehen ein letzter Eindruck: Valerie Junes zeitlos schönes Profil, reflektiert vom milchigen Glas eines alten Spiegels in der Lobby, eingefasst von einem goldenen Schnörkelrahmen.
— Konzert: 18. Juli, 20 Uhr, Blue Balls Festival Luzern, www.blueballs.ch