Urs Niggli und die Wandlung von Gift zu Grün
- Text: Barbara AchermannFotos: Gian Marco Castelberg
Er bekämpfte mit Chemie, was auf dem Acker nicht gedeihen soll. Bis sich das Gewissen regte. Heute ist Urs Niggli der wichtigste und charmanteste Anwalt des Bio-Landbaus.
Urs Niggli hat eine Schwäche für Melkroboter. Er nennt diese computergesteuerten Maschinen sensibel: «Sie schicken der Bäuerin sofort ein SMS aufs Handy, wenn s Bärteli ein heisses Euter hat.» So redet kein konservativer Bio-Alpöhi, sondern ein Agrarprofessor, der den Biolandbau von seinem rückschrittlichen Ruf befreien will. Er sagt: «Bio ist modernste Landwirtschaft. Mit ‹zurück zur Natur› hat das nichts zu tun.» Er interessiert sich für Präzisionsfarming, Nanotechnologie und Molekularbiologie und leitet seit 21 Jahren das weltweit wichtigste Forschungsinstitut für biologischen Landbau, das FiBL. Es liegt in Frick auf halber Strecke zwischen Zürich und Basel, inmitten waldiger Jurahügel und kleinteiliger Felder. Urs Niggli steht auf einer erhöhten Terrasse und versucht mit einer fuchtelnden Bewegung die fünfzig Hektar Kulturland einzufangen, die Gewächshäuser, Stallungen, Labors und die 200 internationalen Wissenschafter, die hier arbeiten. Für einen, der aussieht wie ein Angestellter der Aargauer Kantonalbank (moderne Brille, gestreiftes Hemd), ist seine Gestik ungewohnt wild.
annabelle: Urs Niggli, essen Sie ausschliesslich bio?
Zuhause und in unserem Institutsrestaurant gehe ich keine Kompromisse ein, da ist alles hundert Prozent bio. Aber ein Drittel meiner Arbeitszeit verbringe ich auf Reisen. Dort bin ich weniger strikt.
Wo kaufen Sie ein?
Häufig im Coop und in der Migros, die haben ein hochwertiges Biosortiment. Für Kosmetika von Lavera oder Lebensmittel von lokalen Bauernhöfen gehe ich ins Biohaus in Frick.
Als Direktor können Sie sich die teuren Biowaren natürlich leisten, die beim Grossverteiler vierzig Prozent mehr kosten als herkömmliche Produkte. Bio ist Luxus.
Bio ist nicht zu teuer, die übrigen Lebensmittel sind zu billig. Die Schweizer geben nur sieben Prozent ihres Einkommens für Ernährung aus, so wenig wie noch nie. Vor zwanzig Jahren hat man noch doppelt bis dreimal so viel für Essen bezahlt. Der Kostendruck auf die Lebensmittelpreise ist heute riesig und hat negative Folgen: Die Tierhaltung wird industrieller, und die Produkte werden unsorgfältig verarbeitet und mit allerhand Zusatz- und Aromastoffen angereichert.
Bio und konventionelle Landwirtschaft unterscheiden sich immer weniger. Was legitimiert denn heute überhaupt noch die Preisdifferenz?
Die Unterschiede nahmen ab, weil Bio die herkömmliche Landwirtschaft stark beeinflusst hat. Trotzdem sind die Differenzen noch immer gewaltig: Rund 400 chemische Stoffe, die in der konventionellen Landwirtschaft erlaubt sind und unsere Ökosysteme belasten, sind auf Biohöfen verboten. Auch die Vorschriften in der Tierhaltung sind viel strenger. Biobauern tragen der Natur und den Tieren Sorge, sie sind begabte Unternehmer und feinfühlige Typen.
Sie scherzen.
Es ist so. Biobauern haben auch kaum Mühe, eine Frau zu finden. Auffallend häufig verlieben sich Lehrerinnen in sie.
Auch der Biobauer muss Schädlinge und Unkraut bekämpfen. Anstelle von chemischen Stoffen spritzt er natürliche. Giftig sind diese Mittel gleichwohl.
Stimmt, aber fast alle Natursubstanzen sind schnell abbaubar, weil sie im UV-Licht sofort zerfallen.
Auch Kupfer ist im Biolandbau noch immer zugelassen, obwohl es in grossen Mengen schlimme Schäden anrichtet.
Der Biolandbau ist nicht glücklich darüber, aber wir stehen dazu: Wir können auf alle Fungizide verzichten ausser auf Kupfer. In der Schweiz ist es im Sommer feucht und warm – ein Paradies für Pilzkrankheiten. Wir forschen daran und haben für diverse Kulturen bereits pilzresistente Pflanzen eingeführt. Wir sind optimistisch, dass wir in fünf bis zehn Jahren kein Kupfer mehr brauchen werden.
Urs Niggli begrüsst eine Gruppe von Ungarn, die sein Institut besichtigen möchten. Sie tragen Jeans und Turnschuhe. Sind es Wissenschafter oder Bauern? «Weder noch», so der Direktor. Die Dame mit dem Rucksack sei Aniko Levai, die Frau des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban. «Sie hat ein Weingut. Sie interessiert sich für Bio.» Der Direktor stösst die Tür eines Labors auf und grinst. Es riecht, wie wenn die Kehrichtabfuhr vorbeifährt, nur zehnmal beissender. Er packt einen Sack Maden und doziert: «Diese Viecher fressen Abfall. Sie sind das Steak der Zukunft.» Die Präsidentengattin kichert. Niggli fährt unbeirrt fort: Die Menschheit soll sich künftig von Insekten ernähren, da sie Proteine effizienter umwandeln als Tiere und Fische. Weil aber Europäer lieber Felchen statt Heuschrecken essen, haben die FiBL-Forscher einen gewitzten Umweg eingeschlagen. Sie bringen Eiweisse via Abfall via Maden via Fisch in unseren Magen.
Sie haben häufig hohen Besuch. Demnächst soll Prince Charles anreisen.
Ich durfte ihn in den vergangenen Monaten bereits dreimal beraten. Bei unserem letzten Treffen auf seinem Landgut Highgrove habe ich ihn aber ein wenig vor den Kopf gestossen. Ich sagte, wir müssen die Biobotschaft sexyer verkaufen. Seine Antwort war ein verhaltenes Lächeln.
Bio ist doch bereits sexy. Nur die Dänen geben mehr für Bio aus als die Schweizer. Aber mal ganz ehrlich: Für meine Gesundheit macht es doch keinen Unterschied, ob ich ein herkömmliches Rüebli oder ein Biorüebli esse.
Stimmt nicht. Bioobst und Biogemüse haben zwanzig bis vierzig Prozent mehr sekundäre Pflanzenstoffe. Antioxidantien zum Beispiel senken das Krebsrisiko, weil sie freie Radikale im Körper binden. In Biomilch und Biofleisch ist der Gehalt an wertvollen, mehrfach ungesättigten Fettsäuren bis sechzig Prozent höher, weil Biokühe Gras statt Getreide fressen.
Die britische Lebensmittelbehörde FSA sieht das anders. In der bisher grössten Vergleichsstudie kam sie zum Schluss: Es gibt keine gesundheitsrelevanten Unterschiede zwischen bio und konventionellen Lebensmitteln.
Harte, wissenschaftliche Beweise dafür, dass Leute, die bio essen, gesünder oder länger leben, gibt es tatsächlich nicht. Dafür müsste man jahrelange Untersuchungen an Menschen durchführen. Bei einer gesunden Ernährung spielt ein ausgewogenes und massvolles Essverhalten sowieso eine viel wichtigere Rolle als die Wahl zwischen bio und konventionellen Lebensmitteln. Trotzdem bleibe ich dabei: Bioprodukte haben ernährungsphysiologisch positivere Eigenschaften, sind weniger risikobehaftet und manchmal sogar schmackhafter.
Urs Niggli war nicht immer Mister Bio. Er wuchs auf einem Bauerndorf auf, in Wolfwil im Kanton Solothurn, trug lange Haare und Pullover aus pflanzengefärbter Schafwolle und wollte Bildhauer werden. Schliesslich entschied er sich für ein Agrarstudium an der ETH. Für seine Dissertation wechselte er unvermittelt die Seite: vom Naturschützer zum Giftmischer. Als Unkrautbiologe tüftelte er etwa daran herum, wie man die ärgerlichen Wiesenblacken chemisch bekämpfen kann. Er arbeitete bei der bundeseigenen Forschungsanstalt Agroscope und liess in einer führenden Position zahlreiche Herbizide zu. Er liebte die Vielfalt an Manipulationsmöglichkeiten.
Heute schüttelt er über sein altes Ego den Kopf: «Diese Macho-Landwirtschaft hat mich wahnsinnig fasziniert.» Letztlich war das schlechte Gewissen doch stärker. Niggli ersetzte immer mehr Giftkeulen durch sanfte Ökomethoden. Den herkömmlichen Bauern waren seine Ideen zu teuer und aufwendig, die Biobauern hingegen waren stets Feuer und Flamme. So sattelte er 1990 ganz auf Bio um und wurde Direktor des FiBL.
Der bekannte Genforscher Klaus Ammann möchte endlich Frieden schliessen zwischen biologischer Landwirtschaft und Gentechnologie. Nehmen Sie sein Angebot an?
Leider ist die Diskussion verfahren. Auch am FiBL betreiben wir molekularbiologische Forschung. Das Erbgut zu entschlüsseln, ist hochspannend. Man kann zum Beispiel die Züchtung neuer Pflanzen beschleunigen, indem man diejenigen Pflanzen mit den guten Genen rauspickt. Das Erbgut zu manipulieren, ist hingegen problematisch.
Ammann wirft Ihnen unethisches Verhalten vor. Er sagt, ohne gentechnologisch veränderte Pflanzen könne man dem Welthunger nicht Herr werden.
Unsinn. Die Welternährungsorganisation sagt, dass wir heute eine Milliarde Menschen mehr ernähren könnten. Trotzdem hungern weltweit 900 Millionen Menschen. Die Ursachen sind politischer und ökonomischer Art. Es gibt auf der Welt genug Nahrungsmittel, sie sind bloss falsch verteilt.
Biokritiker sagen: Würde man weltweit von intensiver Landwirtschaft auf Bio umstellen, bräuchte es viel mehr Ackerflächen, und man müsste Regenwälder abholzen.
Die rechnen falsch. Bei der biologischen Landwirtschaft pflanzt man beispielsweise abwechslungsweise Weizen und Klee. Der Klee bringt aber nicht null Ertrag wie fälschlicherweise vermutet, sondern er kann den Tieren verfüttert werden. Das wiederum macht Sojaimporte aus Entwicklungsländern unnötig.
Urs Niggli eilt von einer Institutsecke zur anderen, von den Gewächshäusern – «Hier testen wir robuste Tafeltraubensorten» – zu den Obstkulturen – «Die Kirschen haben weniger Würmer, wenn man die Bäume mit Folie einpackt. Aber man empfindet das als unästhetisch, nicht wahr?» – zu den Offenställen. Eine Kuh trottet zu einer Maschine und holt sich dort ihr Futter. Das funktioniert wie am Bancomaten. Jedes Tier hat einen Chip am Kopf, auf dem die tägliche Ration Kraftfutter gespeichert ist – nicht mehr als zehn Prozent, danach gibts nur noch Gras, sagen die Richtlinien von Bio Suisse. Ist das Guthaben aufgebraucht, muss die Kuh bis zum nächsten Tag warten.
Urs Niggli, Sie haben eben im Institutsrestaurant eine Portion Rindsgeschnetzeltes gegessen. Darf man das als überzeugter Umwelt- und Tierschützer überhaupt noch?
Auf jeden Fall. Aber man muss massvoll mit Fleisch umgehen und wenn immer möglich Bio essen. Durch Rind- und Schaffleisch wandern riesige Mengen an Grasland in unsere Mägen, die man sonst nicht nutzen könnte.
Ist Fleisch essen nicht die grösste Umweltsünde schlechthin?
Würde weltweit halb so viel Fleisch gegessen, hätten wir auf einen Schlag kein Klimaproblem mehr. Deswegen muss man aber nicht gleich Vegetarier werden. Am Stanserhorn können Sie keinen Ackerbau machen, dort müssen Kühe und Schafe weiden. Problematisch wird es erst, wenn Tiere nur Soja und Getreide essen, denn es braucht sieben Kalorien Getreide für eine Kalorie Fleisch.
Im vergangenen Jahr verkündete die bundeseigene Forschungsanstalt Agroscope: «Glückliche Schweine schaden der Umwelt.» In der Auslaufhaltung sind Kot und Urin unter freiem Himmel grossflächig verteilt. So gelangt mehr Ammoniak in die Atmosphäre als bei der herkömmlichen Schweinemast. Ställe seien deshalb ökologischer.
Stimmt.
Also doch Viehzucht im Stall?
Nein, wir sind aus ethischen Gründen gezwungen, unser Vieh artgerecht zu halten.
Ethik ist Ihnen wichtiger als Ökologie.
Keineswegs. Wir entwickeln laufend neue Methoden, um die Ammoniakemissionen zu reduzieren. Etwa indem man den Mist regelmässig entfernt oder die Weiden häufig wechselt.
Auch die Bioananas ist eine Ökosünde. Da beisst man doch lieber mit gutem Gewissen in einen einheimischen Nicht-Bio-Apfel.
Wollten wir vollständig auf eine regionale und saisonale Ernährung umstellen, bedeutete das im Winter eine Kabis-und-Kohl-Diät. Wir müssten uns massiv einschränken, dürften keine Sultaninen aus der Türkei im Müesli haben und kein Schoggijoghurt mehr essen. Die Bioananas aus Ghana ist so schlimm auch wieder nicht. Sie muss mit dem Schiff eingeführt werden. Flugzeug ist für Bio verboten.
Trotzdem ist für Konsumenten nicht transparent, ob nun der Schweizer Glockenapfel, der ein halbes Jahr im Kühlhaus lagerte, tatsächlich umweltschonender ist als die Ananas aus Ghana.
Deshalb muss ein Ökolabel her. Wir arbeiten daran.
Urs Niggli, der von sich selbst sagt, er sei kein gefühlsbetonter Mensch, wird ganz euphorisch: «Das FiBL hat ein Team aufgestellt, das für die Schweiz, Deutschland und Österreich eine umfassende Nachhaltigkeitsdeklaration entwickelt. Das Ganze ist hochkomplex, weil man mit riesigen Datenbergen jonglieren muss.» Er fuchtelt mit den Händen und zählt die Faktoren auf, die für den ökologischen Fussabdruck eines Produkts eine Rolle spielen: Energiebilanz, Klimaschutz, Wasserverbrauch, Biodiversität, Fairtrade, Bodenerosion und vieles mehr. Er rechne damit, dass das Label in ein bis zwei Jahren in den Läden sein werde. Urs Niggli lässt die Arme sinken und verabschiedet sich unvermittelt: «Ich muss weiter.» Er ist bereits wieder einen Schritt voraus.
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Auch wenn es wissenschaftlich nicht bewiesen ist: Der Direktor bleibt dabei – Bio-Obst ist gesünder als konventionell angebautes
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Alles im grünen Bereich: Im FiBL, dem weltweit renommiertesten Institut für Bioforschung
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