Leben
Unter Generalverdacht: Männliche Betreuer in Kindertagesstätten
- Text: Barbara Achermann; Foto: SXC
Berühren vermeiden! Wickeln verboten! Aus Angst vor sexuellen Übergriffen stellen Schweizer Kinderkrippen fragwürdige Regeln auf oder gar keine Männer mehr ein.
Man misstraut Urs Neuhaus. Weil er ein Mann ist. Er ist Gruppenleiter einer Kinderkrippe, darf aber nicht ohne Begleitung in den Schlafraum der Kleinen. Er sagt: «Der neue Trägerverein hat es mir untersagt.» Der Verein betreibt in der Schweiz über zwanzig Kinderkrippen. Für alle gilt dasselbe Reglement. Unter Punkt 9 steht: «Männliches Personal hält sich nie allein im Schlafraum auf.» Als Neuhaus fragte, weshalb man diese Regel aufstelle, hiess es, man wolle sexuelle Übergriffe verhindern und Männer vor Verdächtigungen schützen.
Es ist absurd: Die Praktikantin darf die Kinder ins Mittagschläfchen singen oder ihnen die Hand beim Einschlafen halten. Urs Neuhaus aber, der viel erfahrener ist und seit zehn Jahren als Kleinkinderzieher arbeitet, wird ein wichtiger Teil seiner Arbeit verunmöglicht. Er klingt nicht wütend, sondern nachdenklich, wenn er fragt: «Wie soll ich den Kindern erklären, dass ich ihnen keine Gutenachtgeschichten vorlesen darf?»
Es gibt eine Erklärung, die kein Kind verstehen würde und auch viele Erwachsene nicht: Männer stehen unter Generalverdacht. In jedem steckt scheinbar ein potenzieller Pädophiler. Da kann einer noch so professionell und beliebt sein. Auch ganz junge Männer haben mit diesem Vorurteil zu kämpfen.
Zwei Männer in einer Kita will man nicht
Urs Neuhaus und seine Arbeitskolleginnen wollten einen neuen Praktikanten anstellen: «Ein top motivierter 18-Jähriger, der bei uns ein vorbildliches Schnupperpraktikum absolviert hatte. Die Kinder lieben ihn.» Der Trägerverein legte sein Veto ein. Die Begründung: Man wolle keinen zweiten Mann in der Kita.
«Anstatt mit diskriminierenden Regeln jede Diskussion abzuklemmen, sollten wir offen über physische und psychische Gewalt reden: im Team, an Elternabenden, in Weiterbildungen.» Urs Neuhaus hat am Kinderspital Bern einen Kurs besucht, in dem er lernte, wie man sexuelle Gewalt erkennen und verhindern kann. Sexuelle Ausbeutung in Kinderkrippen ist kein Hirngespinst. Der Fall Volketswil hat die Schweiz entsetzt und viele Eltern verunsichert: Ein Kleinkinderzieher hatte sieben Mädchen massiv missbraucht, geschändet und mehrfach vergewaltigt. Die Opfer waren zwischen eineinhalb und sechs Jahren alt. «Ein schlimmerer Fall ist kaum vorstellbar», sagte der Richter. Wer die Anklageschrift liest, dem schiessen die Tränen in die Augen, wer die Videos des Täter sieht, dem gehen die Bilder ein Leben lang nicht mehr aus dem Kopf. Ebenso beim aktuellen Fall eines pädophilen Sozialtherapeuten, der über 120 schwerstbehinderte Jugendliche und Kinder sexuell missbrauchte. Von den Hunderten Übergriffen will niemand etwas gemerkt haben. Das kann und das darf nicht sein. Und es zeigt, dass sexuelle Missbräuche in der Vergangenheit – und teilweise noch heute – bagatellisiert, tabuisiert oder vertuscht wurden. Heimleitungen schauten aktiv weg, Eltern vertrauten blind, Behörden reagierten gar nicht oder zu langsam. Jetzt ist das Thema medial präsent wie nie zuvor. Auch, weil die Schweiz am 18. Mai über eine Initiative abstimmt, die verlangt, dass Pädophile nie mehr mit Kindern arbeiten dürfen.
Seit einiger Zeit fangen Eltern an, Fragen zu stellen: Wer wickelt mein Kind? Wie geht man mit Dökterlispielen der Kleinen um? Welche Kontrollmechanismen gibt es in meiner Kita? Ein gesundes Misstrauen ist wichtig, generelles Misstrauen ist ungerecht. Es ist ein Verhältnisblödsinn, wenn man präventiv alle Männer unter Generalverdacht stellt oder aus diesem Beruf ausschliesst. Zudem bannt man die Gefahr damit nicht, im Gegenteil, man wähnt sich in einer falschen Sicherheit. Denn auch Frauen können Täterinnen sein. Kinderschutz Schweiz geht davon aus, dass 10 Prozent der Gewalthandlungen gegen Mädchen von Frauen begangen werden, bei Buben liegt der Anteil weiblicher Täter bei 25 Prozent.
Die Fachwelt verlangt seit einigen Jahren mehr männliche Bezugspersonen für unsere Kinder. Spätestens seit der Debatte darüber, dass Buben Bildungsverlierer seien, scheinen sich Psychologen und Politiker einig: Es braucht mehr Lehrer, Kindergärtner, Erzieher. Doch viele Krippenbetreiber tun sich schwer mit dem Thema. Die Leiterin einer Kimi-Krippe informierte unlängst zwei Mütter, man stelle keine Männer mehr ein. Die Kimi-Krippen betreiben in der Schweiz 14 Kinderkrippen, der grosse Partner im Rücken ist das Versicherungsunternehmen ÖKK. Ein Mitglied der Geschäftsleitung bei Kimi bestätigte die Nullmännerstrategie am Telefon, wollte aber nicht zitiert werden. Es sei ein Bedürfnis der Eltern, dass ihre Kinder nur von Frauen betreut würden. 4 der 170 Mitarbeitenden seien Männer, es würden aber keine neuen mehr eingestellt. Wegen des Gleichstellungsgesetzes dürfe man so etwas nur hinter vorgehaltener Hand sagen. Auf Nachfrage nahm Kimi-Co-Geschäftsleiterin Gabriela Schwarz offiziell Stellung und dementierte die Aussage. Sie sagte, es liege ein Missverständnis vor. Sie habe im vergangenen August einen Mann angestellt und werde weiterhin Bewerbungen von Männern prüfen. Sie erhalte aber kaum welche von Männern, so Schwarz weiter. Kimi verwendet in Stellenausschreibungen nur die weibliche Form.
Verhaltenskodex als Alternative
Talin Stoffel klingt am Telefon sehr bestimmt, wenn sie sagt: «Man kann sich nicht vor dem Thema ‹sexuelle Gewalt› drücken. Männer auszuschliessen, ist definitiv der falsche Weg.» Sie ist Co-Geschäftsleiterin von Kibesuisse, dem Verband für Kinderbetreuung, der einen Verhaltenskodex herausgegeben hat. Dort steht etwa, dass die Türen zum Wickelzimmer immer offen stehen müssen, Fieber nicht rektal, sondern im Ohr gemessen wird und das Küssen von Kindern verboten ist. Bei einer Anstellung soll ein Auszug aus dem Strafregister verlangt werden. Alle Regeln gelten gleichermassen für Männer und für Frauen. Talin Stoffel sagt, sie beobachte zwei gegensätzliche Tendenzen: «Es gibt einzelne Kitas, die grundsätzlich keine Männer einstellen, aber die kommunizieren das normalerweise nicht. Und dann gibt es Kitas, die männliche Mitarbeiter suchen.»
Zu Letzteren gehört Familea in Basel. Der Verein betreibt 23 Krippen, elf Prozent der Angestellten sind Männer. Das klingt nach wenig, liegt aber weit über dem Durchschnitt. Schätzungen gehen davon aus, dass in Schweizer Krippen fünf bis acht Prozent Männer arbeiten, in der Ausbildung sind es zehn Prozent. Wenn bei Familea zwei gleichwertige Bewerbungen von einem Mann und einer Frau eingehen, werde der Mann bevorzugt, so Geschäftsleiterin Marianne Habegger. Sie sagt: «Wir fördern gemischte Teams.» Für die Kinder sei es wichtig, dass sie auch männliche Vorbilder haben. Dieser Meinung ist auch Sozialpädagoge Lu Decurtins. Er erarbeitet ein Projekt namens Maki, das schweizweit mehr Männer in Krippen bringen will. Unter anderem will er Männern ermöglichen, als Quereinsteiger in den Beruf zu gelangen, so wie das bei den Primarlehrern bereits der Fall ist.
Lu Decurtins wird keine offenen Türen einrennen. Nur gerade 56 Prozent der Eltern finden es gut, wenn die Zahl der männlichen Fachkräfte in Kinderkrippen steigt, dies ergab eine Studie des deutschen Familienministeriums. In der Schweiz ist die Stimmungslage vermutlich ähnlich. Wie bei den Krippen, so scheint auch die Elternschaft in zwei Lager gespalten: die einen, die sich freuen, wenn ihr Kind einen Betreuer hat, der gern Fussball spielt oder Einschlafliedchen singt, und die anderen, die in jedem kinderliebenden Mann einen Pädophilen vermuten.
Diese Erfahrung hat auch Samuel Ernst gemacht, der in Wirklichkeit einen anderen Namen trägt. Bereits in der ersten Woche als Lehrling zum Kinderbetreuer gingen die Eltern auf die Barrikaden. Die «Männerzeitung» hat seine Geschichte veröffentlicht, ihnen hat er erzählt: «Als mich die Eltern sahen, waren sie verunsichert.» Vor allem die Väter. Einige drohten, ihre Kinder aus der Kita zu nehmen, wenn er bleibe. Die Leitung reagierte so, wie man niemals reagieren dürfte. Anstatt sich voll und ganz hinter den Lehrling zu stellen, schürten sie – vermutlich ohne böse Absicht – das Misstrauen. Sie garantierten den Eltern schriftlich, dass Samuel Ernst immer in Begleitung einer Frau arbeite, den Kindern weder die Windeln wechseln noch mit ihnen aufs WC gehen werde und beim Spielen jeglichen Körperkontakt vermeide. «Als ich den Samichlaus spielte, durfte ich nicht einmal ein Kind auf den Schoss nehmen», erzählte Samuel Ernst weiter. Die Kinder hätten sich auf einen kleinen Stuhl neben ihm setzen müssen.
Samuel Ernst wagte, einen Beruf zu wählen, den viele seiner Kumpels uncool finden. Er bemühte sich zwei Jahre lang um eine Lehrstelle, um dann brutal stigmatisiert zu werden. Verzweifelt und verunsichert sei Samuel Ernst gewesen, sagt Ivo Knill, Redaktionsleiter der «Männerzeitung». «Mittlerweile hat er die Stelle gewechselt. Er arbeitet jetzt an einem Ort, wo man ihm vertraut.» Vertrauen bedeutet, dass ein Mann alle Aufgaben machen darf, die eine Frau macht: Das Kind trösten, ihm den Po eincrèmen, mit ihm raufen. Wenn dieses Vertrauen fehlt, entsteht eine distanzierte, paranoide Atmosphäre.
Auf die Geschichte von Samuel Ernst hat Ivo Knill zahlreiche Reaktionen erhalten. Erst neulich erzählte ihm ein erfahrener Primarlehrer, er habe ausnahmsweise die Schülertoilette benutzt, weil das Lehrer-WC defekt war. Als er sich die Hände wusch, fragte ihn ein Schüler, ob er ihm helfen könne, der Reissverschluss an seiner Hose klemme. Der Lehrer verliess fluchtartig den Raum.
Die Initiative
Am 18. Mai stimmen wir über die sogenannte Pädophilen-Initiative ab. Diese verlangt, dass ein verurteilter Sexualstraftäter lebenslang nicht mehr mit Minderjährigen oder Abhängigen arbeiten darf, ohne Rücksicht auf die Schwere des Delikts. Die Initiative ist umstritten, weil sie sehr weit geht. Betroffen wäre etwa auch ein 19-Jähriger, der eine Liebesbeziehung mit einer 15-Jährigen hatte.