Leben
Uno-Auszeichnung: Das Engagement von Aqeela Asifi
- Interview: Helene Aecherli; Foto: UNHCR/S. Rich
Bildung ist Reichtum: Für ihre Arbeit im pakistanischen Flüchtlingsdorf Kot Chandana erhält die Exil-Afghanin Aqeela Asifi den Flüchtlingspreis der Uno. Sie baute dort eine Schule für Mädchen auf.
annabelle: Aqeela Asifi, führen Sie uns zu Beginn durch Kot Chandana. Wie sieht es dort aus?
AQEELA ASIFI: Das Dorf befindet sich weit abgelegen am Fuss eines Bergs. Etwa 13 000 Menschen leben hier in kleinen Lehmhäusern, arbeiten als Schafbauern oder Teppichweber. Wir haben das Nötigste, was wir zum Leben brauchen. Vor allem aber haben wir Frieden. Wir können nachts in unsere Häuser zurückkehren, ohne befürchten zu müssen, getötet zu werden.
Bevor Sie 1992 vor den Mujahedin nach Pakistan flohen, arbeiteten Sie als Lehrerin in Kabul. Im Flüchtlingsdorf standen Sie vor dem Nichts. Wie war das für Sie?
Sehr schwierig. Als ich unser Haus in Kabul verliess, kam ich mir vor wie ein kleines Kind, das seiner Mutter entrissen wird. Verzweifelt klammerte ich mich an die Hoffnung, bald wieder zurück zu sein. Doch als mein Mann, unsere beiden Kinder und ich in Pakistan ankamen, verlor ich den Kontakt zu meiner Familie in Kabul und wusste nicht, ob ich mein Land je wiedersehen würde. Zudem fühlte ich mich fremd: Ich kam aus einer urbanen Mittelstandsfamilie, während das Gros der Flüchtlinge aus Kunduz, aus dem Nordosten Afghanistans, stammte und sehr konservativ war. Ich sah mich vor zwei Optionen gestellt: aufgeben oder stark bleiben und um eine neue Existenz kämpfen.
Wann wurde Ihnen klar, dass aufgeben keine Option war?
Als ich realisierte, dass es in Kot Chandana keine Schule für Mädchen gab. Das hatte mit der konservativ-patriarchalen Kultur im Dorf zu tun. Ich war entsetzt. Denn als Lehrerin fühlte ich mich moralisch dazu verpflichtet, meine Bildung weiterzugeben, und war entschlossen, dies auch in Kot Chandana zu tun. Ich überzeugte die Dorfältesten von meinem Vorhaben und begann, in einem Zelt eine Handvoll Schülerinnen zu unterrichten. Da ich weder Hefte noch Lehrbücher hatte, schrieb ich den Stoff auf Papierblätter.
Wie haben Sie die Dorfältesten für Ihre Unterrichtspläne erwärmen können?
Ich habe mich von Anfang an bewusst in die neue Gemeinschaft integriert. Ich trug die Kleider, die die anderen Frauen trugen, verhielt mich, wie sich die anderen verhielten. Und als die Leute sahen, dass ich trotz meines Hintergrunds ihre Normen nicht in Frage stellte, fingen sie an, mir zuzuhören.
Sie haben das System sozusagen von innen zu verändern begonnen.
Genau. Und als ich die ersten zwölf Schülerinnen gewonnen hatte, setzte ich mit Religionsunterricht an. Ich fragte sie nach den fünf Säulen des Islam. Sie kannten sie nicht. Das hat mich überrascht. Denn es waren Kinder ausgerechnet jener Gesellschaft, die für sich beansprucht, besonders religiös zu sein. Wir begannen Koransuren zu besprechen, die sie auf Arabisch rezitierten. Meine Schülerinnen hatten nicht die geringste Ahnung, was sie von sich gaben. Sie sagten mir: «Aber die Verse sind auf Arabisch, Arabisch hat keine Bedeutung.» Ich erklärte ihnen, was sie da rezitieren. Und die Mädchen sagten: «Aha! Die Verse bedeuten etwas!»
Wie hat sich dieses Aha-Erlebnis ausgewirkt?
Sie gingen stolz nachhause und erzählten, was sie gelernt hatten. Das wiederum hat manche Eltern von meiner Schule überzeugt. Aufgrund dieser Akzeptanz konnte ich meinen Unterricht ausbauen.
Sie begannen mit einer kleinen Gruppe von Schülerinnen. Wie konnten Sie weitere Eltern dazu bewegen, ihre Töchter in die Schule zu schicken?
Oh, ich ging von Tür zu Tür und habe mit den Eltern gesprochen.
Was haben Sie ihnen gesagt?
Ich begann mit den Eltern, von denen ich wusste, dass sie verhältnismässig offen waren. Ich erzählte ihnen von mir selber. Erklärte, dass ich, als ich in Kot Chandana ankam, nichts besass ausser den Kleidern an meinem Körper und meiner Bildung, aber dass es die Bildung war, die mir geholfen hat zu überleben. Ich weiss zum Beispiel, wann ich meine Kinder impfen lassen muss und was auf dem Rezept des Arztes steht. Und ich sagte ihnen: Die 1000 Dollar Brautgeld, die ihr für eure Tochter bekommt, werden schwinden. Gebt ihr eurer Tochter hingegen Bildung, ist dies ein Reichtum, der ihr für immer erhalten bleibt.
Viele Eltern werden aber von Ihrem Appell, die Tochter durch Bildung unabhängig zu machen, zurückgescheut sein.
Ja. Manche Familien liessen mich erst gar nicht in ihr Haus. Zu gross war die Angst, dass Schulbildung ihre Töchter korrumpieren, den Status quo der Familie herausfordern könnte, der über Jahrhunderte aufrechterhalten worden ist. So befürchteten sie unter anderem, dass die Mädchen nicht mehr gehorchen oder den Mann nicht heiraten würden, den die Eltern für sie ausgesucht hatten.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Ich habe mich auf die Mädchen konzentriert, die in den Unterricht kommen durften. Mit der Zeit konnten alle im Dorf sehen, wie sich diese Mädchen positiv veränderten: Sie achteten besser auf ihre Hygiene, wuschen sich regelmässig, kämmten sich die Haare und trugen Sorge zu ihren Kleidern. Mehr noch: Sie behandelten ihre Eltern mit grösserem Respekt als vorher und konnten zudem den Koran besser lesen als andere. Da beschlossen viele Eltern, ihre Töchter ebenfalls in die Schule zu schicken.
Gemäss Studien sollen Flüchtlingsmädchen, die über eine höhere Schulbildung verfügen, eine dreimal höhere Chance haben, in ihrem Heimatland wieder Fuss zu fassen. Können Sie das bestätigen?
Ja. Einige meiner ehemaligen Schülerinnen, die nach Afghanistan zurückgekehrt sind, arbeiten heute erfolgreich als Lehrerinnen in Provinzschulen. Und viele Schülerinnen in Kot Chandana helfen heute ihren Vätern, Brüdern und Onkeln in den familieneigenen Betrieben, erstellen etwa Rechnungen oder kontrollieren die Einkünfte. Zudem schicken sie als junge Mütter wiederum ihre eigenen Töchter in die Schule und durchbrechen so den Teufelskreis von Analphabetismus, Armut und Ausbeutung. Bildung ist die beste Selbstverteidigung.
Können Sie – allen Schwierigkeiten zum Trotz – Ihrem Exil, Ihrem Leben in einem Flüchtlingsdorf etwas Gutes abgewinnen?
Lassen Sie es mich so sagen: Wäre ich nicht als Flüchtling nach Kot Chandana gekommen, hätte ich vielleicht nie getan, was ich heute tue.
— UNHCR Nansen Refugee Award Der Nansen Flüchtlingspreis ist mit einer Preissumme von 100 000 Dollar dotiert und wird vom Hochkommissariat der Uno für Flüchtlinge jährlich an eine Person oder Gruppe verliehen, die Ausserordentliches für Flüchtlinge geleistet hat. Gemäss UNHCR leben in Pakistan rund 1.5 Millionen afghanische Flüchtlinge, 10.5 Prozent aller Flüchtlinge weltweit. 80 Prozent dieser Flüchtlingskinder besuchen zurzeit keine Schule. Aqeela Asifi (49) plant, mit ihrer Preissumme weitere Schulprojekte für Mädchen aufzubauen und ihre Schule auch in Afghanistan zu etablieren. www.unhcr.org
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