Leben
Umstrittene Schulreformen und groteske Vorschriften: Lehrer haben die Nase voll
- Text: Barbara Achermann, Fotos: Cortis & Sonderegger
Rigide Vorschriften, groteske Bewertungsbögen und bald ein Lehrplan so dick wie die Bibel: Wo bleibt da der Unterricht? Wir sprachen mit Lehrerinnen und Lehrern, die sich ob des Kontrollwahns entmündigt fühlen.
Georg Geiger ist Lehrer an einem Gymnasium in Basel. Wenn er erklärt, was für ihn gute Schule ist, erzählt er von unplanbaren Situationen. «Es war am frühen Morgen, erste Lektion. Als ich das dunkle Schulzimmer betrat, lagen die Jugendlichen halb auf den Tischen, einige schienen zu schlafen.» Geiger ist 57 Jahre alt und weiss aus Erfahrung, motivierte Schüler sehen anders aus. Er will mit ihnen das Höhlengleichnis von Platon lesen, schreitet zum Lichtschalter. «Nein, machen Sie nicht an», bettelt eine Schülerin. Grossartige Idee, denkt er und liest den Text im Dunkeln vor. Geiger erzählt, es habe sich eine engagierte Stunde entwickelt, und er fügt an: «Gute Schule entsteht oft in einem flüchtigen Moment.»
Seine Art von Unterricht, so Geiger, sei nicht mehr erwünscht. Er beugt sich vor, denn es ist laut im Café Mitte, seine nach hinten gekämmten Haare fallen ihm ins Gesicht: «Diejenigen Leute, die heute die Lehrpläne machen und die Lehrerausbildungen bestimmen, können nichts mit meinem Unterrichtsstil anfangen.» Was seine Schüler über Platons Philosophie gelernt haben, sei weder mit einem Multiple-Choice-Test abfragbar noch eins zu eins anwendbar. Man könne mit diesem Wissen kein konkretes Problem erfolgreich lösen. Doch genau das werde heute von den Bildungsbehörden verlangt. «Sogenannte Experten verfahren mit der Bildung wie mit dem Vieh im Schlachthof», sagt Geiger. Der Stoff werde auseinandergenommen und in Einzelteile zerlegt. Komplexe Prozesse würden so weit vereinfacht, bis nur noch kleinste abfragbare Einheiten übrig blieben.
Melanie Capaul ist Kindergärtnerin im Kanton Aargau und 38 Jahre alt. Sie sagt, sie arbeite mit Herz und Intuition. Ihr Kindergarten soll ein Ort sein, an dem sich die Kinder geborgen fühlen. Ab und zu ein Rechenspiel macht sie gern, aber sie ist dagegen, die Kinder auf die Bedürfnisse der Wirtschaft zu trimmen. Wie alle Kindergärtnerinnen der Nordwestschweiz muss sie seit diesem Jahr einen standardisierten Lernbericht für jedes Kind ausfüllen, 72 Kreuze auf einer Skala von 1 bis 4. Die vorgegebenen Fragen behandeln Kinder wie Arbeitnehmende. «Das Kind erledigt Aufgaben termingerecht und vollständig», steht da oder «Das Kind kommt in der vorgegebenen Zeit zu einer Lösung oder einem Produkt». Capaul sagt: «Ich bin schon froh, wenn die Vierjährigen allein auf die Toilette gehen.»
Beim Elterngespräch würden die Lernberichte mitunter zu grotesken Situationen führen. Anstatt dass man darüber rede, wie sich das Kind in der Gruppe verhalte oder weshalb es motorische Schwierigkeiten habe, werde über unwichtige Details diskutiert. Etwa darüber, weshalb das Kreuzchen bei der Frage «Das Kind kann auf einem Bein stehen und hüpfen» nicht weiter rechts stehe.
Lehrer haben den Ruf, sie seien Jammerlappen. Doch Georg Geiger und Melanie Capaul nörgeln nicht, ihre Kritik ist nachvollziehbar und lässt aufhorchen. Hört man sich in verschiedenen Kantonen um, so klingt es überall ähnlich: Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich durch die Behörden bevormundet. Einerseits sind es die zunehmenden Vorschriften und Verbote, die sie in ihrer Autonomie einschränken, andererseits die vielen Schulreformen, die keinen Stein auf dem anderen lassen.
Befasst man sich mit dem Schweizer Schulwesen, so stolpert man unweigerlich über den Begriff «Kompetenz». Es ist das neue Zauberwort, das die Lehr- und Studienpläne umkrempelt. Die Kompetenztheorie ist die Grundlage für den neuen Bewertungsbogen, der Kindergärtnerin Capaul missfällt, und für Lehrmittel und standardisierte Tests (wie «Check» oder «Cockpit»), die Lehrer Geiger beanstandet. Auch Wissenschafter kritisieren die Kompetenzorientierung im Bildungswesen. Einer der Prominentesten ist Konrad Paul Liessmann, Philosophieprofessor an der Universität Wien. In seinem soeben erschienenen Buch «Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung» erklärt er, woher die Kompetenzorientierung kommt: nicht etwa aus der Pädagogik, sondern aus der Ökonomie. In der Wirtschaft wurden Modelle entwickelt, um die Kompetenz von Mitarbeitenden zu messen und deren Einsatz im Unternehmen zu optimieren. Genau diesen Gedanken verfolgt laut Liessmann nun auch das Bildungswesen: Alles, was man in der Schule lernt, müsse unmittelbar brauchbar sein, um erfolgreich Probleme zu lösen. Wozu sich also noch mit Platons Philosophie beschäftigen?
Auf die Spitze getrieben wird die Kompetenztheorie im Lehrplan 21. Der neue Lehrplan wurde am 7. November veröffentlicht und soll in den kommenden Jahren in den deutschsprachigen Kantonen eingeführt werden. Er ist 470 Seiten lang und listet über 2000 sogenannte Kompetenzstufen auf. Früher war der Lehrplan ein Wegweiser für die Lehrpersonen, heute ein Blindenführer, ohne den sie keinen Schritt mehr machen dürfen. Das führt dazu, dass jede noch so selbstverständliche Fähigkeit benannt werden muss, wie: «Die Schülerinnen und Schüler können ihre Aufmerksamkeit auf sprechende Personen und deren Beitrag richten.» Und zu kaum verständlichen Zielvorgaben wie: «Die Schülerinnen und Schüler können in kooperativen Situationen über ihre Texte ihr Repertoire an Schreibstrategien reflektieren und ausbauen.» Doch was Kompetenzen genau sind und inwiefern sie den Unterricht verändern werden, darüber streitet man sich selbst in Fachkreisen.
Alain Pichard ist Reallehrer und Stadtrat in Biel, 59 Jahre alt und exponiert sich ab und zu mit provokativen Aussagen in den lokalen Medien. Er hat die vielen Reformen satt. Er möchte sich auf seine Schüler konzentrieren, muss sich aber ständig mit strukturellen Fragen befassen. Er ist nicht grundsätzlich gegen Neuerungen, beispielsweise mag er das Unterrichten im Team. Aber die zahlreichen von oben verordneten Anweisungen ärgern ihn: «Formulare, Lernberichte, Strategiekonzepte, Neuordnungen – ich kann das nicht mehr hören. Wir reden über alles, nur nicht über Pädagogik.» Pichard erzählt von einem Evaluationstag zur letzten Reform, der Integration von behinderten und verhaltensauffälligen Kindern in Regelklassen. Die Schüler hatten frei, die Lehrer mussten ein «wertschätzendes» Feedback geben. Die erste Frage lautete: «Was hat Ihnen während der Umsetzung am meisten Freude bereitet?» Pichard lacht höhnisch: «Das war eine teure Alibiübung, mehr nicht.» Er hätte in dieser Zeit lieber mit seiner Klasse Bewerbungsschreiben geübt. Er sagt: «Die Schule ist ein Boot, das alle steuern wollen, aber keiner mag mehr rudern.» Es gebe zu viele Leute in den Verwaltungsbüros und zu wenige in den Schulhäusern. Pichard geht noch weiter, er wirft den Behörden «Ressourcenklau» vor. Während Lektionen abgebaut und Klassen vergrössert würden, wachse die Bildungsverwaltung. Schweizweite Zahlen, die seine Äusserung belegen, existieren keine. Aber es gibt Statistiken einzelner Kantone, die in diese Richtung weisen. In Basel beispielsweise sind in den vergangenen acht Jahren die Schülerzahlen leicht gesunken, die Stellen in der Verwaltung hingegen haben um einen Viertel zugenommen.
Walter Herzog hat Verständnis für den Überdruss von Lehrpersonen wie Pichard, Capaul oder Geiger. Er ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Bern und hat eine öffentliche Stellungnahme mitunterzeichnet: «Stopp der Reformhektik im Bildungswesen!» steht da. Es braucht viel, bis Wissenschafter in einem Titel ein Ausrufezeichen setzen. Diesen Aufschrei aber haben zehn namhafte Experten unterschrieben, darunter auch Allan Guggenbühl, Remo Largo und Roland Reichenbach. Sie schreiben weiter: «Zu viel Verwaltung geht auf Kosten der Bildung!»
Herzog sieht nicht aus wie ein Rebell. Er hat weisse Haare, einen Schnauz und spricht mit gedämpfter Stimme. Seine Worte aber sind deutlich: «Die Bildungsverwaltung vertraut auf die Weltwirtschaftsorganisation OECD anstatt auf die Erfahrungen der Lehrerinnen und Lehrer.» Die Reformen seien auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet und nicht auf die der Kinder. Das gelte auch für den Lehrplan 21. Herzog prophezeit, die Überprüfung der mehreren Tausend Kompetenzen werde eine riesige Bürokratiewelle auslösen und führe zum sogenannten Teaching to the Test. Anstatt den Schülern eine breite Bildung zu vermitteln, werden sie auf das Lösen von standardisierten Prüfungsaufgaben getrimmt. Vergleichbar sind diese mit den Kreuzchentests für den Fahrausweis: Büffelt man die Fragen auswendig, besteht man. «Über das testorientierte Unterrichten gibt es diverse wissenschaftliche Studien», so Herzog, «vor allem aus den USA.» Dort versuche man schon länger, Wissen einheitlich zu testen und zu vergleichen, wende sich aber bereits wieder von den Monitorings und Rankings ab. Weshalb also in der Schweiz etwas einführen, mit dem die USA bereits schlechte Erfahrungen gemacht haben? Es erstaunt wenig, dass der Lehrplan 21 an der Basis zu Protesten führt. Herzog sagt: «Änderungen im Schulwesen sollten von unten kommen und nicht von oben delegiert werden.» Man müsste die Lehrerinnen und Lehrer dabei unterstützen, ihre eigenen Methoden weiterzuentwickeln.
Elsbeth Schaffner ist Primarlehrerin im Kanton St. Gallen. Vor sieben Jahren wurde dort nach dem Frühfranzösisch auch das Frühenglisch eingeführt. Schaffner, 53 Jahre alt, war von Anfang an dagegen, und sie war nicht die Einzige: «Die meisten Lehrerinnen und Lehrer hatten Bedenken. Doch die Erziehungsdirektorenkonferenz hielt an ihrem Frühsprachenkonzept fest.» Es wurde behauptet, jüngere Kinder lernten Fremdsprachen schneller. Heute belegen Studien das Gegenteil. Im Unterricht lernen Oberstufenschüler in wenigen Wochen so viel wie Unterstufenschüler während Jahren. In St. Gallen und in anderen Kantonen diskutiert man jetzt darüber, die frühen Fremdsprachen wieder abzuschaffen. Die unzähligen Aus- und Weiterbildungen, die Anschaffung der Lehrmittel, die stundenlangen Vorbereitungen auf das neue Fach, das alles hat Millionen von Franken gekostet – und viele Nerven. Es war vermutlich umsonst.
Seit Jahren wehren sich die Lehrerverbände gegen die Reformflut und die damit verbundene Bürokratisierung der Schule. Genützt hats nichts. Im Gegenteil, die Kadenz der verordneten Neuerungen wird immer höher, die Reglementierungswut grösser. Das zeigt sich bereits im Kleinen. In manchen Kantonen sind Süssgetränke und Geburtstagskuchen an den Schulen verboten, ebenso der Ausschank von Alkohol an Lehrer oder Eltern am Schulfest. Ein Ausflug an den Hallwilersee? Nicht erlaubt. Lehrpersonen ohne Rettungsschwimmerausbildung ist es untersagt, mit ihren Klassen ans Wasser zu gehen. Das führt zur absurden Situation, dass man selbst auf der Maturreise nicht mehr in die Badi darf. Neue Regeln werden in regelmässigen Abständen aufgestellt. Das Volksschulamt im Kanton Zürich etwa verbreitet sie unter dem Euphemismus Leitungszirkular. Pro Monat werden drei bis fünf neue Anweisungen herausgegeben, denen, so heisst es auf der Website streng, «die Adressaten Folge leisten müssen».
Roger von Wartburg ist Sekundarlehrer und Präsident des Baselbieter Lehrerverbands, 38-jährig und leidenschaftlicher Sänger. Er sagt: «Die Lehrer, die mich prägten, waren alle verschieden. Jeder hatte seinen eigenen Stil und war auf seine Art authentisch.» Doch heute wolle man alle Lehrpersonen gleichmachen, sie sollen unhinterfragt Weisungen umsetzen. Kürzlich hat die kantonale Schulbehörde eine dicke Broschüre zum Thema Teamarbeit herausgegeben. Sie sorgte für grossen Unmut. «Wir Lehrer arbeiten bei Bedarf seit Jahren in Teams. Man braucht uns nicht im Detail vorzuschreiben, wann, wie und mit wem», so von Wartburg. Eine weitere Vorschrift, die ihm widerstrebt, betrifft die Elterngespräche. Sie müssen neu zwingend einmal pro Jahr stattfinden und genau nach Vorschrift ablaufen. Er fragt sich: «Wenn der Schüler gute Noten hat, zufrieden ist und seine Eltern kein Gespräch wünschen, wozu müssen wir uns dann treffen?» Wenn hingegen ein Jugendlicher Schwierigkeiten habe, führe er selbstverständlich innert kurzer Zeit mehrere Gespräche. Von Wartburg wünscht sich, dass die Verwaltung weniger reglementiert. «Gestandene Berufsleute darf man nicht entmündigen», so von Wartburg.
Den Lehrerinnen und Lehrern in der Schweiz wird nicht mehr vertraut. Aber sie sind nicht die Einzigen. Auch Ärzte, Pfarrer oder Professoren haben an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Das ist nicht nur schlecht. Noch vor einem halben Jahrhundert konnten Lehrer ihre Schüler blossstellen oder schlagen. Die Loyalität der Eltern und Behörden lag jenseits der Schmerzgrenze. Das ist heute zum Glück anders. Roland Reichenbach erklärt, es habe ein Demokratisierungsprozess stattgefunden. Er ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich und spricht ein überraschend schnelles Berndeutsch. Reichenbach hat sowohl Verständnis für die Bildungsbehörden als auch für die Lehrerinnen und Lehrer: «Es ist keine dumme Idee, dass die Lehrpersonen transparent arbeiten und Rechenschaft ablegen. Die Behörden müssen verantworten können, wofür die staatlichen Gelder ausgegeben werden.» Reichenbach bescheinigt den Behörden edle Motive: «Die wollen nur das Beste.» Aber: «Manchmal übertreiben sie.» Es herrsche eine Kontrollwut. Diese sei aber unbegründet, die meisten Lehrer machten ihre Arbeit gut.
Reichenbach stellt fest, dass die Rolle des Lehrers geschwächt wird. In der Sprache der Lehrplanmacher soll der Lehrer nur noch Coach sein, ein Gestalter der Lernumgebung und Begleiter von Lernprozessen. Reichenbach hingegen ist der Meinung, die Lehrperson müsse im Mittelpunkt des Unterrichts stehen. «Leadership», sagt Reichenbach und legt eine Kunstpause ein, «darum sollte es in der Schule gehen. Aber was heute vorangetrieben wird, ist nicht Leadership, sondern Management.» Der Unterschied? «You manage Things. You lead People.»
Reichenbach wünscht sich, dass man dem Bewährten wieder mehr Beachtung schenkt. Aber anders als die konservativen Bildungspolitiker will er keine rückständige Anker-Schule, sondern eine bedachte Weiterentwicklung der Pädagogik. Die Bildungsbehörde sei durch die rasanten Veränderungen in der Gesellschaft verunsichert und packe deshalb die Lehrpläne voll mit neuen Inhalten. Sie müsste aber gerade jetzt für Ruhe sorgen. Er erklärt weshalb: «Für viele Kinder ist die Schule der einzige Ort für Verlässlichkeit, ein Ort, den sie vielleicht nicht lieben, an dem manche sich langweilen und andere sich überfordert fühlen, aber eben auch ein Ort, an dem sich Erwachsene um sie kümmern.»
Schule kann nur gelingen, wenn der Mensch vorne an der Tafel motiviert ist. Es hängt entscheidend von ihm ab, ob die Schüler etwas lernen. Selbst wenn ihm die Behörden noch so viele Vorschriften machen, diese Verantwortung können sie ihm nicht abnehmen. Aber sie können ihm die Lust rauben. Denn Dienst nach Vorschrift macht den wenigsten gut ausgebildeten, intelligenten Menschen Spass. Die guten Lehrer wollen ihren Unterricht frei gestalten, selbstständig Entscheidungen treffen, Projekte umsetzen. Sie wollen im Dunkeln Platon vorlesen und danach frei diskutieren.
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Kompetenz ist das neue Zauberwort, das die Lehr- und Studienpläne umkrempelt