Politik
Ukraine: Wie geht es Familie Malinewskisch heute?
- Text: Helene Aecherli
- Bild: Stanislav Krupar
Die Journalistin Andrea Jeska hat 2021 für annabelle eine beklemmende Reportage über die Familie Malinewskisch geschrieben – lange bevor sich die internationale Aufmerksamkeit auf die Ukraine richtete. Wo sind die Malinewskischs heute? Und warum haben wir diesen Krieg nicht kommen sehen?
annabelle: «Willkommen bei den Malinewskischs», so lautete der Titel Ihrer Reportage über die siebenköpfige Familie im Donbass. Sie beschrieben, wie die Eltern, ihre drei kleinen Töchter und die Grosseltern zwischen Armut und Artilleriebeschuss ihren Alltag aufrecht erhielten und wie sie versuchten, trotz allem die Hoffnung nicht zu verlieren. Sie waren, kurz bevor der Krieg ausbrach, in der Region und haben die Malinewskischs wiedergesehen. Wie ging es ihnen?
Andrea Jeska: Ziemlich schlecht. Ihre Hoffnung, dass sich die Lage verbessern könnte, tendierte gegen Null. Die ukrainische Kleinstadt Marinka, in der die Familie lebt, liegt an der Frontlinie zwischen dem Osten der Ukraine und der selbsternannten separatistischen Volksrepublik Donezk. 2014 nahmen separatistische und prorussische Gruppen die Regionen Donezk und Luhansk ein und erklärten sie für unabhängig. Seither herrscht im Donbass-Becken Krieg. Als ich die Malinewskischs im Februar 2021 für die Reportage besuchte, glaubten sie jedoch trotz allem noch, dass die Lage besser würde. Ihnen blieb auch keine andere Wahl, denn sie verdienten nicht viel Geld. Sie konnten nicht wegziehen, da das Leben überall viel teurer war. Doch nun war ihnen klar: Es wird nicht besser. Snjeschana, die 32-jährige Mutter, hatte die Nase voll. Sie hatte in einer anderen Stadt von einer Wohnung gehört, die sie bezahlen konnte, und wollte sie sich ansehen. Sie sagte mir, ihr sei jetzt alles egal. Sie wolle weg mit den Kindern.
Aber – das war kurz vor dem aktuellen Kriegsbeginn.
Genau. Schon vorher wurde ja im Donbass wesentlich mehr geschossen. Es gab täglich Explosionen und unglaublich viel Artillerieaustausch. Aber sämtliche Menschen, mit denen wir während unseres letzten Besuchs geredet haben, sagten: «Na ja, das ist nur eine weitere Eskalationsstufe. Wir kennen diese Eskalationsstufen, die haben wir seit acht Jahren.»
Der russische Präsident Wladimir Putin hat also alle überrascht.
Ja, auch die Leute, die im Donbass direkt an der Front leben. Dass Putin den Krieg wirklich beginnt und ihn durchzieht, hat selbst dort keiner geglaubt.
«Sie haben weder Geld, um zu fliehen, noch eine Verbindung in den Westen.»
Wie haben Sie jenen 24. Februar 2022, den Beginn des Kriegs, erlebt?
Ich hatte am Tag zuvor gerade noch die Familie Malinewskisch gesehen. Da es in der Stadt keine Hotels gibt, sind wir am Abend aus Marinka rausgefahren, hatten uns ein Hotel genommen und den Malinewskischs gesagt: «Morgen kommen wir bestimmt wieder.» Und dann war der Krieg da. Wir konnten nicht zu ihnen zurückfahren, weil wir keinen Überblick über die Situation hatten, nicht wussten, wo sich welche Stellungen befanden. Der Fotograf und ich sind mit einem der letzten Nachtzüge nach Kiew geflohen. Ich habe dann noch einmal mit den Malinewskischs telefoniert. Sie sagten, sie würden versuchen, aus der Stadt rauszukommen und aufs Land zu Freunden zu fliehen.
Haben Sie mittlerweile in Erfahrung bringen können, ob es ihnen gelungen ist?
Ja, ich habe die Malinewskischs erreicht. Es geht ihnen gut. Sie sind noch einmal nach Marinka zurück, um zu packen. Zurzeit befinden sie sich bei Verwandten in einer Stadt, in der es noch ruhig ist.
Inzwischen sind über drei Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Werden auch die Malinewskischs ihre Heimat verlassen?
Nein, sie wollen nicht aus der Ukraine weg. Sie haben weder Geld, um zu fliehen, noch eine Verbindung in den Westen. Sie werden bleiben.
«Politiker:innen wie Geschäftsleute haben Wladimir Putin unterschätzt.»
Erlauben Sie uns eine Rückblende: Sie sind im Februar vergangenen Jahres in den Donbass gereist, zu einer Zeit, in der die Region noch nicht im Fokus der internationalen Medien stand. Was bewog Sie zu diesem Schritt?
Zu jener Zeit hatte Wladimir Putin die Truppenstärke an der Grenze zu den Separatistengebieten stark erhöht. Kurz darauf sprach er der Ukraine das Existenzrecht ab, erklärte, die Ukraine gehöre historisch gesehen zu Russland. Das war bedenklich. Damals fragte man sich: «Dreht er jetzt ein bisschen ab?» Wir haben uns in den Donbass aufgemacht, weil die Aufmerksamkeit der Medien endlich mal wieder auf diese Region gerichtet war – wenigstens zeitweise. Doch dann hat sich Wladimir Putin zurückgezogen, und man ging hier in Europa – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – davon aus, dass jetzt alles wieder in Ordnung sei. Aber es war nicht in Ordnung, es war eigentlich seit der Annexion der Krim vor acht Jahren nie in Ordnung gewesen.
In Ihrer Reportage schrieben Sie, der Kampf um die Ostukraine werde vom Westen als eingefrorener Konflikt bezeichnet. Das sei eine blinde Gleichgültigkeit gegenüber der Realität.
Genau. Das sollte aber kein Vorwurf sein. Heute stellt sich vielmehr die Frage: Warum sind sowohl die westliche Politik wie auch die westliche Gesellschaft bereit gewesen, die Bedrohungslage, die auf Europa zukommt, so lange zu ignorieren? Warum haben die Politiker:innen, die viele Expert:innen an ihrer Seite haben, warum haben die Sicherheitsexpert:innen und die Geheimdienste nicht geglaubt, dass dieser Angriffskrieg möglich ist – selbst als die russischen Truppen so nahe an der ukrainischen Grenze waren? Das ist das Erschreckende. Dabei gab es durchaus Anzeichen der Alarmbereitschaft. Ein Beispiel: Ich war vor einem Monat auf der schwedischen Insel Gotland, die über Jahrzehnte entmilitarisiert gewesen war. Jetzt hatte das schwedische Militär Truppen und Panzer dorthin gebracht. Ich sah, wie sie durch die mittelalterliche Stadt Visby fuhren. Es war wie in einem schlechten Film.
Warum haben wir das nicht kommen sehen – trotz aller Warnsignale? Das ist eine Frage, die es während der kommenden Monate zu analysieren und aufzuarbeiten gilt. Haben Sie erste Antworten darauf?
Zwei Ansätze: Ich denke, Politiker:innen wie Geschäftsleute haben Wladimir Putin unterschätzt oder schlicht falsch eingeschätzt. Darüber hinaus hat die Politik zugunsten der Wirtschaft während all der Jahre wohl mehr als ein Auge zugedrückt – kurz, sie hat ihre Verantwortung nicht wahrgenommen. Und ja, auch die Medien, wir Journalist:innen, sind in der Verantwortung. Wir kreisten um vegan, woke, Antikolonialismus, Gendersternchen, Hashtags – bis zum geht nicht mehr. Und die Politik mit uns. Jetzt, da auch wir plötzlich eine Bedrohungslage erleben, findet in unserer Wahrnehmung ein Paradigmenwechsel statt: Plötzlich ist pazifistisch, vegan oder nachhaltig nicht mehr das, was uns und die Welt retten wird, sondern heldenhaft, todesmutig und opferbereit.
Es sind alte archaische Attribute, die nun, da es ums Überleben geht, in den Fokus gelangen. Dennoch: Diese Diskussionen um Gendergerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Antikolonialismus haben und hatten durchaus ihre Berechtigung – und werden künftig möglicherweise wichtiger als je zuvor.
Ja, natürlich. Ich finde es super, dass über diese Diskussionen alte Muster und Stereotypen kritisch hinterfragt und auf den Kopf gestellt werden. Aber sie haben zumindest in den Mainstreammedien und den sozialen Medien einen derart hohen Stellenwert bekommen, so viel Aufmerksamkeit erhalten, dass kaum mehr Raum für anderes geblieben ist. Es sind Diskussionen, die wir in unseren Bubbles führen konnten, weil wir glaubten, in unserer Welt sei die Geschichte zu Ende, dass Freiheit und Frieden selbstverständlich und umsonst zu haben seien. Wir haben das so sehr glauben wollen, dass wir nicht mehr richtig hingeschaut haben. Denn die Geschichte ist nicht zu Ende. Überall um uns herum ging und geht sie weiter – und sie geht mit Brutalität und Gewalt weiter.
Sie kritisieren in diesem Zusammenhang sogar die feministische Bewegung in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Warum?
Weil ich sie zum Teil als eine Bewegung mittelständischer Frauen empfinde, die auch nur um sich selbst kreist. Was ihr fehlt, ist ein globales Gefühl der Schwesternschaft, der Empathie. Sexualisierte Gewalt zum Beispiel wird in vielen Kriegen und Konflikten nach wie vor als Kriegswaffe eingesetzt. Doch das nehmen wir hier kaum wahr. Im Kongo werden Frauen seit 15 Jahren von Rebellengruppen vergewaltigt. Ich weiss von Fällen, da hatte man Frauen mit Macheten und toten Ratten missbraucht. Die Zahl der Opfer ist so immens, dass ich nicht verstehen kann, dass es hier nicht zu einem Aufschrei kommt, dass nicht konsequenter gefordert wird, dass sexualisierte Kriegsgewalt weltweit geächtet wird und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Es kann doch in unserem Engagement nicht bloss um uns selbst gehen.
Es gibt sehr wohl manche nationale wie internationale feministische Organisationen, die sich für Frauen in der ganzen Welt einsetzen, gegen Gewalt an Frauen kämpfen. Nur finden sie selten Gehör, werden kaum finanziert. Und das bringt uns wieder zum Punkt: Sie rufen zivilgesellschaftliche Organisationen, vor allem aber die Medien dazu auf, genauer hinzusehen, ja, auch hinzuhören, was jenseits ihrer jeweiligen Bubbles geschieht. Sozusagen als Seismografen für Veränderungen.
Absolut. Allen voran wir Journalist:innen hätten schon lange viel massiver warnen müssen – nicht nur bezüglich der Ukraine, sondern auch davor, was in vielen anderen Ländern geschieht. In Afghanistan, zum Beispiel, das ich seit Jahren immer wieder bereist habe, habe ich immer nur Untergang gesehen. Die Armut wurde immer schlimmer, doch hier gab es nur Erfolgsmeldungen. Es hiess, der Krieg gegen den Terrorismus laufe gut. Aber er lief nicht gut. Es wurden unglaublich viele Afghaninnen und Afghanen getötet, Amerika dafür gehasst. Aber solche Geschichten liessen sich kaum platzieren.
«Die Aufgabe der Medien ist, konsequent und kontinuierlich zu berichten.»
Gerade die Geschehnisse in Afghanistan sind jetzt aus dem Fokus verschwunden. Es ist, als hätte man einen Schalter umgelegt. Wie gehen Sie damit um?
Der Krieg in der Ukraine erhält aufgrund seiner Nähe zu uns eine Dringlichkeit, die wir hier in Europa lange nicht mehr erlebt haben. Und die Aggression Wladimir Putins droht, die gesamte Geopolitik zu verändern. Da ist klar, dass der mediale Fokus deshalb auf der Ukraine liegt, liegen muss. Dennoch beunruhigt es mich, dass Afghanistan kein Thema mehr ist. Erst vor kurzem habe ich mich gefragt, ob überhaupt noch Evakuierungen vorgenommen werden. Die neue deutsche Bundesregierung wollte eine neue Liste von hochgefährdeten Menschen aufstellen, die aus dem Land herausgeholt werden sollen. Darüber redet keiner mehr. Und die Taliban? Die sind aus den Schlagzeilen verschwunden. Auch über den Jemen redet keiner mehr, obwohl dort weiterhin jeden Tag gehungert und gestorben wird. Wir haben das Chaos in Mali, Burkina Faso ist am Kippen. Zudem sind wir noch nicht durch mit dem Balkan: In Bosnien-Herzegowina und Serbien schwelt es. Derzeit brennt es in der Ukraine, da schauen wir jetzt alle hin, sehen aber nicht, dass es hinter uns auch schon lodert – bis es uns den Rücken verbrennt. Und dann drehen wir uns um und sagen: «Hätten wir uns doch nur vorher schon mal umgedreht!» Wenn wir nicht rechtzeitig das Auge draufhaben und eingreifen, wer weiss, was da auf uns zukommt?
Sie fordern von den Medien künftig mehr Weitsicht und Verantwortung.
Ja. Denn es kann nicht die Aufgabe des Individuums sein, alles Elend der Welt auf seine Schultern zu laden. Aber es ist die Aufgabe der Medien, konsequent und kontinuierlich darüber zu berichten. Und nicht nur dann, wenn es darum geht, viele Klicks zu generieren, sondern zu sagen: Auch, wenn ein Thema nicht mehr im Bewusstsein der Öffentlichkeit ist, schicken wir jemanden hin, um zu sehen und zu verstehen, was ist – und wie dies mit dem Grossen und Ganzen zusammenhängt.
Zurück zu den Malinewskischs. Haben Sie mit den drei Töchtern je darüber geredet, wie sie ihre Zukunft sehen? Was sie einmal werden möchten?
Natürlich. Nadja, die jüngste, ist zwar noch zu klein dafür. Aber die älteste, Sonja, will Tiktok-Star werden. Sie ist nun bereits 10 Jahre alt, hat einen Riesenkoffer mit Schminksachen und eine Ringleuchte fürs Handy, die sie von ihren Grosseltern zum Geburtstag geschenkt bekommen hat. Als wir zu Besuch waren, haben wir lauter kleine Tiktok-Videos mit ihr gedreht. Sweta, die mittlere, ist mit ihren 6 Jahren der Wildfang der Familie. Sie will nur eines: Clown werden.
Andrea Jeska berichtet seit 20 Jahren aus Krisengebieten. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Töchtern und lebt an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste. In den nächsten Tagen wird sie sich wieder in Richtung Ukraine aufmachen. Heute Dienstag ist Andrea Jeska Gast im SRF-Club zum Thema «Krieg, das grosse Verbrechen».
Vielen Dank für den Bericht. Es ist für mich erstaunlich ( positiv gemeint), dass ich in der annabelle “solche” Reportagen lesen kann, während dem die Main Stream Medien nur noch einseitig hetzen. Damit wird kein Grundstein für den Frieden gelegt. Frieden ist mehr als Abwesenheit von Krieg, sowie Gesundheit auch mehr ist, als Abwesenheit von Krankheit ….