Politik
Über das Zusammenleben mit ukrainischen Flüchtenden: 3 Gastfamilien erzählen
- Text: Sonya Jamil
- Foto: Alamy
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) verzeichnet zurzeit über 47 000 ukrainische Flüchtende in der Schweiz. Nebst staatlicher Hilfe ist freiwilliges Engagement so gefragt wie noch nie. Drei Schweizer Gastfamilien erzählen über die Höhen und Tiefen der Flüchtlingsaufnahme.
«Ich weiss nicht, was sie alles erlebt haben» – Isabelle (25) aus Bern
«Die Eltern verabschiedeten sich am Bahnhof von der Tochter, ohne zu wissen, ob sie sich je wiedersehen», erzählt die 25-jährige Isabelle aus Bern. Gemeinsam mit ihrem Freund entschied sie sich kurzerhand, ein ostukrainisches Ehepaar (54 und 61) bei sich aufzunehmen. Ihnen stellten die beiden ein eigenes Zimmer mit Bad und Kochplatte zur Verfügung. Eine wahnsinnig schnelle Entscheidung – und doch die Richtige: Es gebe schöne Momente, in denen man lache, aber auch ernste, in denen kein Auge trocken bleibe: So zuckte das ältere Ehepaar zu Beginn jedes Mal zusammen, wenn ein Militärflugzeug in ihrer Nähe vorbeiflog, da es sie an die Bombenangriffe ihrer Heimat erinnerte.
«Ich weiss nicht, was sie alles erlebt haben», meint Isabelle. Kommunizierte man in der ersten Woche zunächst mit Händen, Füssen und einer Übersetzungs-App, merkten Isabelle und ihr Freund schnell, dass Taten helfen, wenn Worte fehlen. So bauten die Männer im Haus an einer Holzbank und redeten auf Russisch und Schweizerdeutsch aneinander vorbei, während Isabelle mit der 54-jährigen Ehefrau Zopf backte und ihr dabei spielerisch half, Deutsch zu lernen.
Bei intensiveren Gesprächen vermittelt die englischsprechende Tochter (27) des Ehepaars. Diese wohnt mittlerweile in unmittelbarer Nähe bei einer Gastfamilie und hat Isabelle sogar zu ihrer Geburtstagsparty eingeladen. Mittlerweile sind über zwei Monate seit der Flüchtlingsaufnahme vergangen. «Man muss mutig und geduldig den Schritt wagen, auch wenn man nicht weiss, worauf man sich einlässt», sagt Isabelle. Sie erinnert sich dabei an mehrere Lebensmitteleinkäufe, die sie anfangs aus eigener Tasche bezahlt hat.
Isabelle merkt ihren ukrainischen Gästen ihre grosse Motivation und Einsatzbereitschaft an. «Ich wünsche mir für sie, dass sie sich in der Schweiz ein neues Leben aufbauen können, falls sie das möchten.»
«Die ukrainischen Flüchtlinge kommen nicht pünktlich um 12 Uhr mit dem ICE» – Manuel (32) aus Zürich
«Man ist sich näher, als man denkt», reflektiert Manuel. In einem Haus in Stäfa haben er und sein Bruder eine fünfköpfige ukrainische Familie untergebracht. Abgeholt an der polnischen Grenze bei Minusgraden, haben die Flüchtenden für die nächsten drei Monate einen privaten Rückzugsort, der ihnen Sicherheit schenkt. «Sie dürfen die Möbel so umstellen, dass sie sich möglichst wohlfühlen.»
Manuel ist es sehr wichtig, der ukrainischen Familie respektvoll auf Augenhöhe zu begegnen: «Man darf sich nicht als Samariter aufspielen.» Es brauche Toleranz und Verständnis und vor allem Geduld. «Die ukrainischen Flüchtlinge kommen nicht pünktlich um 12 Uhr mit dem ICE», sagt er. Man könne nicht alles voraussehen und planen. Er möchte der Familie zur Selbstständigkeit verhelfen – das heisst, er gibt ihnen lieber einen Einkaufsgutschein oder zeigt ihnen die gängigen Jobportale der Schweiz, als für sie einkaufen oder auf Jobsuche zu gehen. Der Schritt Richtung Unabhängigkeit sei nicht allein durch Kleiderspenden getan, bemängelt er: «Kleider zu spenden ist schön und gut, aber nach der 27. Hose reicht es.»
Als seine ukrainischen Gäste in der Schweiz ankamen, stand Manuel kurz darauf mit vielen Fragen und Unsicherheiten neun Stunden vor dem Bundesasylzentrum Zürich an. «Wie geht es weiter?», fragte er sich. Laut den neusten Zahlen des SEM haben bereits knapp 45 000 ukrainische Flüchtlinge den Schutzstatus S erhalten, darunter auch die ukrainische Familie, die bei Manuel wohnt.
Die grossen und kleinen Alltagsprobleme teilen die Flüchtlinge vor allem mit seinem russisch und ukrainisch sprechenden Bruder, erzählt Manuel. Er selbst beteiligt sich an einfachen Konversationen und merkt, wie der eigene Familienhund hilft, die Sprachbarriere zu überbrücken: «Die Teenager blühen auf, sobald sie ihn sehen und mit ihm Gassi gehen.»
«Es braucht Regeln und Grenzen» – Kathy (69) aus Uitikon, ZH
Über einen Monat ist es her, seit Kathy aus Uitikon eine dreiköpfige Familie aufgenommen hat. Die zwei ukrainischen Schwestern und der siebenjährige Sohn von einer der Frauen leben für das nächste halbe Jahr in einer separaten Zweizimmer-Wohnung. Diese hat Kathy in der Vergangenheit an Expats vermietet. Durch die erschreckenden Bilder des Ukraine-Krieges rückte das Land für Kathy und ihre Tochter Sabrina viel näher. Ihnen wurde klar, dass sie helfen möchten.
Das erste Treffen mit den geflüchteten Frauen fand mit einem russischen Dolmetscher am Telefon auf dem Spielplatz des Bundesasylzentrums in Zürich statt. Seither beschnuppern sich die zwei Familien gegenseitig und gewinnen so langsam an Vertrauen zueinander. Wie das Innenleben der zwei Frauen aussieht, kann Kathy aufgrund der Sprachbarriere nicht richtig einschätzen. Die Ukrainerinnen geben sich grosse Mühe, Deutsch zu lernen und haben bei einem Gemeindetreff die Möglichkeit, sich mit Landsleuten auszutauschen.
Der siebenjährige Sohn besucht zurzeit eine Integrationsklasse und kann seine gebündelte Energie gemeinsam mit Sabrinas gleichaltriger Tochter im Tennis- und Fussballtraining rauslassen. Die zwei Kinder brauchen keine Worte, um sich zu verständigen – gemeinsam Schokolade zu naschen, tut es auch.
Von der Gemeinde erfahren Kathy und Sabrina immense Unterstützung: So habe eine der ukrainischen Frauen bereits einen Job in einem Restaurant und erzähle immer freudestrahlend von der Arbeit. Wie das SRF Regionaljournal jüngst berichtete, haben laut dem SEM schweizweit mittlerweile 276 Geflüchtete mit Schutzstatus S eine Arbeit.
Die Zukunft sei zwar ungewiss, dennoch wünschen sich Kathy und Sabrina, dass das freiwillige Engagement nicht abflache. Ein eigener Wohnraum vereinfache die Situation, wissen die beiden Frauen. Ausserdem wichtig: vor lauter Nächstenliebe die eigene Familie und insbesondere die Kinder nicht zu vernachlässigen. Es sei eine kulturelle Herausforderung, die Zeit, Regeln und Grenzen brauche, ganz nach dem Motto «miteinander, aber auch aneinander vorbei», meinen Kathy und ihre Tochter abschliessend.
Mega spannende Einblicke, vielen Dank für das Teilen und Zusammentragen dieser Erfahrungen.