Es sei das erste Mal seit neun Jahren, dass jemand Donald Trump auf nationaler Bühne so beeindruckend in die Schranken gewiesen habe: Das schreibt US-Expertin Annika Brockschmidt in ihrer Analyse zum TV-Duell zwischen Kamala Harris und Donald Trump.
Es war der Moment, der die Dynamik des Abends setzte: Donald Trump und Kamala Harris betraten die Bühne des TV-Duells im ABC-Studio in Philadelphia, Trump schlurfte Richtung seines Podiums, aber Harris ging auf ihn zu, streckte ihm entschlossen die Hand entgegen – und zeigte damit, wer souverän ist und wer nicht.
Es war ein Eindruck, der sich im Laufe des Fernsehduells dramatisch verstärken sollte. Eine bemerkenswerte Leistung von Harris, denn ihre Aufgabe war eine schwierige: Sie musste in diesem bisher wichtigsten Moment ihrer politischen Karriere mehrere Balanceakte gleichzeitig leisten.
Sie musste präsidial wirken neben einem ehemaligen Präsidenten, der bekannt ist für seine Verächtlichmachung von Frauen, für seinen Rassismus und seine Lust an Erniedrigung und Beleidigung seiner politischen Gegner:innen. Seine persönlichen Angriffe an sich abperlen lassen, ihn attackieren, ohne sich auf sein moralisches Level zu begeben.
Anders als Trump ist Harris für einen erheblichen Teil der Wähler:innen noch eine Unbekannte: 28 Prozent der Befragten in der jüngsten Umfrage sagen, dass sie nicht genug darüber wissen, wofür die Vizepräsidentin stehe.
Es war das erste Mal, dass Harris und Trump einander persönlich begegnet sind, da Trump sich 2021 geweigert hatte, der Amtseinführung von Biden und Harris beizuwohnen, wie es eigentlich üblich ist.
Trotz ihrer relativ kurzen Vorbereitungszeit nach der Übernahme der demokratischen Kandidatur zur Präsidentschaft war Harris nach kurzer Nervosität zu Beginn der Debatte souverän, gefasst und besonnen, liess sich von Trumps Angriffen nicht aus dem Konzept bringen.
Anders als Trump, der zumindest in diesem Punkt nicht gelogen hatte: Er schien tatsächlich nicht vorbereitet zu sein, oder zumindest nicht imstande, die Pläne seines Wahlkampfteams umzusetzen, wenn er in Rage war – was auf den Grossteil der Debatte zutraf.
«Harris gelang es, Trumps grösste Schwächen gegen ihn auszuspielen»
Harris’ langjährige Erfahrung als Staatsanwältin in Gerichtssälen und als Senatorin Kaliforniens zeigte sich, als sie schnell in die Debatte fand – und begann, Donald Trump methodisch und gelassen zu demontieren, während er ihr nahezu nichts Substantielles entgegenzusetzen hatte.
Die Strategie: Trump provozieren
Die Strategie des Harris-Teams wurde schnell deutlich: Trump provozieren, um seine niedersten Instinkte zu triggern, damit er sich von seiner schlimmsten Seite zeigte. Harris gelang es so, Trumps grösste Schwächen gegen ihn auszuspielen: sein übersteigertes Ego, seinen Narzissmus und seine fehlende Selbstdisziplin. Wieder und wieder legte Harris deutlich erkennbare Fallstricke aus – und Trump stolperte wieder und wieder darüber.
Nicht einmal die beiden Moderator:innen David Muir und Linsey Davies konnten ihn davon abbringen, immer wieder vom Thema abzuschweifen, um sich mit Verve in die von Harris aufgestellten Fallen zu werfen. Harris forderte das Publikum sogar auf, sich Trumps Rallys anzuschauen: «Die sind sehr interessant. Während seiner Rallys redet er über fiktionale Figuren wie Hannibal Lecter. Er behauptet, dass Windräder Krebs verursachen. Und Sie werden auch merken, dass die Leute aus Langeweile und Erschöpfung beginnen, seine Rallys frühzeitig zu verlassen.»
Keine Kontrolle seitens Trump
Es war eine ziemlich durchsichtige Provokation – aber Trump war nicht imstande, sich zu kontrollieren. Er habe überall das grösste Publikum, prahlte er, und auf den Vorwurf, er erzähle auf seinen Veranstaltungen bizarre Geschichten, reagierte er mit der abstrusen, rassistischen Lüge: In einer Stadt in Ohio würden Migrant:innen aus Haiti die Haustiere der Bewohner:innen entführen und essen.
Harris nutzte diese Gelegenheit, um Trump «extrem» zu nennen, appellierte an die Republikaner, dass Platz für sie in der demokratischen Anti-Trump-Koalition sei und wies darauf hin, dass Dick und Liz Cheney – die beide nicht in Gefahr laufen dürften, je als zentristisch oder gar links zu gelten – ihre Unterstützung für sie bekanntgegeben hätten.
Beim Thema Abtreibung, einem der wichtigsten Themen des Wahlkampfes, präsentierte sich Harris als leidenschaftliche Verteidigerin des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung von Frauen und Schwangeren. Damit unterschied sie sich deutlich von Präsident Joe Biden, der zwar ebenfalls das Recht auf Abtreibung unterstützt, aber das Wort Abtreibung selbst kaum über die Lippen gebracht hatte. Harris versprach, dass sie als Präsidentin ein Gesetz unterzeichnen würde, das die im Fall «Roe» enthaltenen Schutzmassnahmen des Rechts auf Abtreibung enthalte.
Trump hat seit 2022 mehrfach behauptet, dass die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung sich gewünscht hätte, dass das Grundsatzurteil von 1973, das ein Recht auf Abtreibung garantierte, vom Obersten Gerichtshof gekippt werden sollte – er habe das möglich gemacht.
Der stärkste Moment von Harris
Als Trump die von ihm ernannten drei erzkonservativen Richter, die diese Entscheidung möglich gemacht hatten, lobte, konterte Harris: «Sie wollen darüber reden, dass die Menschen das so wollten? Schwangere Frauen, denen in der Notaufnahme die Behandlung verweigert wird, weil ihre Gesundheitsdienstleister Angst haben, sie könnten ins Gefängnis kommen, während sie auf dem Parkplatz verbluten? (…) Oder eine 12- oder 13-jährige Überlebende von Inzest, die gezwungen wird, eine Schwangerschaft auszutragen?»
Es war der stärkste Moment von Harris während des Duells: «Die Regierung und Donald Trump sollten einer Frau nicht sagen, was sie mit ihrem Körper tun darf.»
«Wieder und wieder brachte Harris Trump auf die Palme»
Trump weigerte sich ausserdem, die Frage der Moderator:innen zu beantworten, ob er als Präsident ein nationales Abtreibungsverbot blockieren würde. Seine Verbündeten aus dem Dunstkreis von «Project 2025» und einflussreichen Anti-Abtreibungs-Organisationen haben ausserdem betont, dass kein neues Gesetz verabschiedet werden müsse, um ein effektiv nationales Abtreibungsverbot durchzusetzen – sondern lediglich ein seit mehr als 50 Jahren nicht mehr angewendetes Gesetz aus dem 19. Jahrhundert wieder durchgesetzt werden soll.
Immer lauter und wütender
Harris gelang es jedoch nicht nur, Trump vorzuführen, sondern schaffte es, ihre rhetorischen Angriffe auf den ehemaligen Präsidenten mit einer empathischen Vision und Politik zu verbinden, die das Leben der durchschnittlichen Bevölkerung verbessern würde.
Der Kontrast war bemerkenswert: Kamala Harris reagierte mit dem Gesichtsausdruck, der einer jeden Frau bekannt sein dürfte, die hoch qualifiziert ist, und sich mit einem männlichen Kollegen konfrontiert sieht, der sie nicht nur unter der Gürtellinie angreift, sondern ihr auch offensichtlich inhaltlich nicht das Wasser reichen kann: Einer Mischung aus Verwunderung, Amüsement, leichter Fassungslosigkeit und etwas, das fast an Mitleid grenzte.
Trump hingegen hatte ihrer Strategie nichts entgegenzusetzen, ausser, immer lauter und wütender zu werden – was hilflos fahrig wirkte. Der Altersunterschied trug das Seine dazu bei: Während Harris fit und vital wirkte, wirkten Trumps zunehmend lautere, realitätsferne Rants bizarr und disqualifizierend.
Wieder und wieder brachte Harris Trump auf die Palme – und lieferte dem Publikum den Beweis dessen, was sie in der Debatte wieder und wieder betonte: dass Trump sich um niemanden schert als sich selbst. Trump bestätigte diese These, weil er immer wieder anbiss, und statt über seine politischen Pläne zu sprechen, persönliche Vendettas ausfocht, die an seinem Ego kratzen.
Nach wie vor ein Kopf-an-Kopf-Rennen
Die Gender-Dynamik zwischen den beiden Kandidaten war bezeichnend, auch was die jeweilige Redezeit betraf: Harris sprach etwa 37 Minuten, Trump fast 44. Seinem Wahlkampf dürfte er damit keinen Gefallen getan zu haben, länger zu reden als seine Herausforderin. Denn je mehr er sich in Rage redete, desto besser für Harris. Sie unterbrach zwar seine offensichtlichsten Lügen – aber liess sonst zu, dass er sich um Kopf und Kragen redete.
Es ist das erste Mal seit neun Jahren, dass jemand Donald Trump auf einer nationalen Bühne in so beeindruckender, nachhaltiger Form in die Schranken gewiesen hat. Für Harris geben die positiven Reaktionen einer Mehrheit der Zuschauer:innen nun Aufschwung – den sie dringend benötigt, denn es handelt sich nach wie vor um ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Unter normalen Bedingungen haben Fernseh-Duelle für gewöhnlich keine grosse Auswirkung auf die Wahlentscheidung, doch diese Präsidentschaftswahl ist keine gewöhnliche Wahl. Ja, es wird knapp – und ja, auch Hillary Clinton hat ihre TV-Duelle gegen Trump gewonnen.
Aber die Voraussetzungen 2016 waren anders als diesmal: Clinton war eine bekannte Grösse, der Bevölkerung seit Jahrzehnten ein Begriff, Trump hatte noch keinen Staatsstreich angezettelt und war neun Jahre jünger – und fitter.
Zwei Versionen von Amerika
Zwei Versionen von Amerika stehen im November zur Wahl – und Kamala Harris hat ihre Gesellschaftsvision eines pluralistischen, toleranten Amerikas, das die Rechte von Frauen und Schwangeren schützt, das für die Ukraine einsteht und Autoritarismus und Faschismus eine Absage erteilt, bestmöglich verteidigt. Bis November ist es noch eine Weile hin – aber im Harris-Team dürfte vorübergehende Hochstimmung angesagt sein. Verdient.
Dass Taylor Swift kurz nach Ende des TV-Duells als «kinderlose Cat Lady» (als solche hatte Vance mehrfach die Demokraten beschimpft) ihre Unterstützung für Harris auf Instagram gegenüber ihren 284 Millionen Followern bekannt gab, dürfte die willkommene Kirsche auf der Sahnetorte des Abends gewesen sein.
Die bemerkenswertesten Momente:
1.
1.
Harris erinnert Trump daran, gegen wen er kandidiert: «Es ist wichtig, den ehemaligen Präsidenten daran zu erinnern, dass er nicht gegen Joe Biden antritt, sondern gegen mich.»
2.
2.
Als Trump nach seinen Plänen in Sachen Krankenversicherung gefragt wird, sagt er: «Ich habe Konzepte eines Plans.»
3.
3.
Harris provoziert Trump: «Donald Trump wurde von 81 Millionen Menschen gefeuert. Und es fällt ihm augenscheinlich sehr schwer, das zu verarbeiten.»
4.
4.
Trump behauptet, Demokraten würden Babys «nach der Geburt hinrichten».
5.
5.
Trump weigert sich zu sagen, ob er will, dass die Ukraine den Krieg gegen Putin gewinnt.
6.
6.
Trump weigert sich zu sagen, ob er ein nationales Abtreibunsgverbot blockieren würde – als die Moderator:innen erwähnen, dass sein Vize-Kandidat JD Vance das behauptet, sagte Trump: «Nun, um ehrlich zu sein habe ich das noch nicht mit JD besprochen».
7.
7.
Trump behauptet, Demokraten seien Schuld an dem versuchten Attentat auf ihn.
8.
8.
Trump klagt über angebliche «Migrantenkriminalität» – Harris erwidert: «Ich denke, es ist ein starkes Stück, dass das von jemandem kommt, der wegen Verbrechen gegen die nationale Sicherheit, Wirtschaftsverbrechen und Wahlbeeinflussung angeklagt wurde, der wegen sexueller Nötigung verurteilt wurde und dessen nächster grosser Auftritt vor Gericht im November bei seiner Urteilsverkündung ist.»
9.
9.
Trump nennt Orbán als ausländischen Staatschef, der ihn gut findet. Harris kontert: «Diese Diktatoren und Autokraten wünschen sich, dass Sie wieder Präsident werden, denn es ist so klar, dass sie Sie mit Schmeicheleien und Gefälligkeiten manipulieren können.»
Beeindruckende Analyse. Vielen Dank für diesen Beitrag!