Tourette-Syndrom: Ein Interview mit Olaf Blumberg über seine Tics
- Interview: Claudia Senn; Foto: Verena Neuhaus
Olaf Blumberg muss zwanghaft Leute beschimpfen. Das findet er zwar nicht lustig, aber über manche seiner Sprüche kann er selber lachen. Denn nur mit Galgenhumor ist das Tourette-Syndrom zu ertragen.
Was hatte man erwartet? Einen zermürbten, gramgebeugten Kranken? Olaf Blumberg ist im Gegenteil ein vor Kraft und Selbstbewusstsein strotzender junger Mann, der während des gesamten Gesprächs niemals den Eindruck vermittelt, dass ihm seine Krankheit peinlich sei. Der 29-Jährige schliesst demnächst sein Studium als Sozialarbeiter ab. Und in diesen Tagen erscheint sein mit ungezügeltem Galgenhumor geschriebenes Buch über seine Erfahrungen mit dem Tourette-Syndrom. An dieser bizarren Krankheit, die sich durch motorische und verbale Tics zeigt, leiden mehr Menschen, als man denkt. In der Schweiz sind es ungefähr 4000.
Er könne nur für sich sprechen, sagt Blumberg. «Es gibt auf diesem Planeten keine zwei vergleichbaren Tourette-Fälle.» Wir treffen den jungen Autor im deutschen Paderborn, wo er lebt und studiert. Kaum haben wir uns im Strassencafé niedergelassen, informiert Blumberg die Bedienung über seine Erkrankung: «Wenn ich komische Geräusche mache oder jemanden beleidige, ist das nicht böse gemeint.» «Okay», antwortet die Kellnerin ohne sichtbare Irritation und nimmt seine Bestellung für ein englisches Frühstück entgegen, das er später mit dem Heisshunger eines Sportlers verschlingt.
Möglicherweise würden sich seine Tics während des Interviews kaum zeigen, warnt Blumberg die Reporterin vor. «Sie sind eben wie kleine Kinder, die den ganzen Tag nerven. Doch kaum sollen sie mal was vorführen, sind sie plötzlich ganz schüchtern.» Wie sich bald zeigt, ist diese Sorge völlig unberechtigt. Um Blumbergs Tics von seinen restlichen Aussagen zu unterscheiden, sind sie im Folgenden in Grossbuchstaben geschrieben. Er stösst sie meist mit hoher, gepresster und teilweise sehr lauter Stimme hervor.
ANNABELLE: Olaf Blumberg, mit dem Tourette-Syndrom haben Sie unter allen neurologischen Erkrankungen diejenige erwischt, die bei der Umwelt die heftigsten Reaktionen provoziert. Sind Sie schon mal verprügelt worden, weil sich jemand beleidigt fühlte?
OLAF BLUMBERG: Davor hat mich bisher zum Glück meine Statur bewahrt. Ich bin 1.90 Meter gross und halte mich mit Kampfsport fit. Die meisten Menschen erschrecken bloss über meine Tics oder wissen nicht, wie sie darauf reagieren sollen. Doch ich bin auch mit viel Ignoranz und Taktlosigkeit konfrontiert: Von alten Leuten muss ich mir manchmal «So was wie dich hätte Adolf früher vergast!» anhören. Teenager lachen mich oft hemmungslos aus. Vor ein paar Monaten hörte ein Typ, wie ich «Heil Hitler!» brüllte, und sagte: «Lass die rechte Scheisse, sonst rufe ich die Bullen.» Ich sagte: «Ich habe Tourette.» Darauf er: «Nein, du hast kein Tourette. Tourette-Patienten sagen ‹ficken› und so. Du sagst: ‹Heil Hitler!› Du bist ein Nazi.» Auch wenn die Leute über meine Krankheit Bescheid wissen, glauben sie häufig, ich würde meine Beleidigungen doch irgendwie ernst meinen, so nach dem Motto: Ein Körnchen Wahrheit wird wohl dran sein. Aber da ist überhaupt nichts dran.
Warum «Heil Hitler!»? Warum nicht etwas weniger Hässliches?
Weil sich die Krankheit mit absoluter Zuverlässigkeit das aussucht, was am meisten Aufmerksamkeit erregt. Manchmal stelle ich mir meine Tics wie eine Fussballmannschaft vor. Evergreens wie «Heil Hitler!» oder «Schwuchtel!» haben sich schon als Stammspieler bewährt und können immer damit rechnen, von meinem Tourette-Trainer aufgestellt zu werden. Die anderen sitzen auf der Bank und langweilen sich. Aber im richtigen Moment werden sie eingewechselt, und dann treffen sie bei der Person, auf die sie abzielen, ins Schwarze … Würde ich jedoch nach Timbuktu ziehen, wo niemand Deutsch spricht, würde der «Heil Hitler!»-Tic sofort verschwinden.
(Ein schwerer Mann, Typ Metzger oder Bauarbeiter, geht vorbei. Blumberg flötet:) HALLO SÜSSER! (Die Reporterin prustet los.)
Bitte entschuldigen Sie mein deplatziertes Lachen.
Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Tourette ist manchmal ein sehr kreativer Stand-up-Comedian. Neulich ticte ich ganz laut in der Fussgängerzone: «Delphine sind schwule Haie!» Die Leute machten sich fast in die Hose.
Es stört Sie also nicht, wenn ich lache?
Nein, Sie lachen mich ja nicht aus, sondern Sie lachen, weil es gerade lustig war. Mit Lachen entmystifiziert man die Krankheit. Politische Korrektheit nützt gar nichts. Normalerweise sage ich den Leuten, dass ich Tourette habe, aber manchmal lasse ich es zugunsten der Situationskomik auch bleiben. Neulich zum Beispiel kläffte und miaute ich in der Unibibliothek den Kopierer an. Die Blicke der Leute waren zu göttlich. Das wollte ich nicht durch eine Erklärung verderben.
Schwer zu glauben, dass Sie Ihre Krankheit tatsächlich so locker nehmen. Schämen Sie sich nicht für Ihre Tics?
Schämen? Ich? Nie! Das heisst, am Anfang natürlich schon. Zwei Jahre lang habe ich mich grausam geschämt. Vor schönen Frauen zu ticen war das Allerschlimmste.
Wie haben Sie das überwunden?
Ähnlich wie einen sehr heftigen Liebeskummer. Am Anfang leidest du Höllenqualen. Doch irgendwann hast du einfach keinen Bock mehr, deiner Verflossenen nachzuweinen. Wenn man sich die ganze Zeit schämt und sich für jeden Tic entschuldigt, bleibt ja kaum noch Zeit für anderes. So wollte ich nicht mehr weiterleben.
(Ein Briefträger geht vorbei.) HEY, DU PAKETSCHLAMPE!
Sie haben inzwischen bestimmt bemerkt, dass ich wenig Augenkontakt halte, weil ich andauernd den Raum um mich herum überwachen muss, wie ein Personenschützer. Einerseits, weil sich meine Krankheit ständig jemand Neues sucht, den sie provozieren kann. Andererseits, um Gefahren zu erkennen: Kommt da vielleicht ein grosser, breitschultriger Mann, bei dem meine Tics eine aggressive Reaktion hervorrufen könnten? Das ist sehr anstrengend.
Können Sie sich überhaupt jemals entspannen?
Manchmal schon. Ein guter Kinofilm kann die Tics überlagern oder ein Buch. Auch Auto fahren. Mehrmals hatte ich sogar kurze Phasen ganz ohne Tics. Das war wie Urlaub. Plötzlich fiel mir wieder auf, wie gut die Blumen rochen und solche Dinge.
Können Sie sich an Ihren ersten Tourette-Anfall erinnern? Hatten Sie irgendeine Ahnung, was da gerade mit Ihnen passierte?
Kennen Sie Otto, den Komiker? Der hat so eine komische Lache: i-i-i-i – das war mein erster Tic, noch in der Primarschule. Ich ticte jedoch so selten, dass mein Vater der Überzeugung war, das liege bloss an zu viel Playstation. Richtig krass wurde es dann mit 21. Ich dachte erst, ich bin besessen.
Von wem? Vom Teufel?
Ja, von irgendwelchen Dämonen. Woche für Woche habe ich noch lauter geschrien. Ich war zu Tode verängstigt und traute mich kaum noch aus meinem Zimmer. Als ich dann die Diagnose bekam, wurde es erst mal gar nicht besser. Nur komplizierter.
Wie lässt sich Tourette behandeln?
Ich habe alles ausprobiert: autogenes Training, progressive Muskelentspannung, Yoga, Meditation, Reiki, homöopathische Globuli. Wirklich geholfen hat mir nur der Sport.
Nehmen Sie auch Medikamente?
Nicht, solange ich mich nicht selbst verletze. Eine Zeit lang hatte ich einen ganz krassen Tic, bei dem ich mir immer mit dem Finger ins Auge stach. Auf dem linken Auge sehe ich seither nur noch wenig.
Das ist ja grauenhaft! Wie sind Sie das wieder losgeworden?
Indem ich mir irgendwann gesagt habe: Okay, dann ist es eben so, dann wirst du jetzt eben blind. Bedingungslose Annahme ist das Einzige, was Tourettte schachmatt setzt. Aber der Tic kann wiederkommen. Nicht gerade ein erbaulicher Gedanke.
(Eine Frau mit Kinderwagen betritt das Lokal.) HUAHUAHUA, COOL, EIN MENSCHEN-AZUBI! SÄUFT IHR BABY HEIMLICH? WER SO BRABBELT, HAT MINDESTENS ZEHN BIER INTUS! Oh, diesen Spruch kannte ich selbst noch nicht. Nicht persönlich nehmen, Windelmatz!
Können Sie Ihre Tics irgendwie unterdrücken?
Kaum. Ich kann sie manchmal ein bisschen aufschieben, aber das ist unglaublich anstrengend, und wenig später entladen sie sich nur umso heftiger, wie die Kohlensäure in einer Mineralwasserflasche, die man geschüttelt hat. Tourette lässt sich nicht verarschen. Wenn es einen Schokoriegel will, und du gibst ihm eine Karotte, dann rächt es sich.
Sie schliessen demnächst Ihr Studium ab. Ihre Dozenten mussten wohl auch einiges einstecken.
Ja, da mache ich mir nichts vor. Die Krankheit verlangt wirklich viel von meinen Mitmenschen. Einmal hatte ich einen Dozenten aus Berlin-Kreuzberg, der so abgebrüht war, dass er sich über meine Beleidigungen nicht mal erschrocken hat. Also hat es mein Tourette mit Komplimenten versucht: «Du hast aber einen geilen Arsch!» – zack, da hatte ich ihn. Der arme Kerl musste eine Pause machen.
(Die Kellnerin stapelt das leere Geschirr auf ein Tablett und geht damit in Richtung Küche.) MMMMHPFFFFF! AH! Uff, das war jetzt sehr schwer. Ich hatte einen starken Drang, sie zu erschrecken, damit sie das Tablett fallen lässt. Das musste ich unterdrücken, um Schaden zu vermeiden. Das hätte mir sonst leidgetan.
Sie sind ein attraktiver junger Mann. Wie schnell ergreifen Frauen die Flucht, wenn sie von Ihrer Krankheit erfahren?
Sie ergreifen nicht die Flucht. Alle meine bisherigen Freundinnen waren tolle Frauen, die mit meinem Tourette kein Problem hatten. Manchmal glaube ich sogar, dass es mir dank der Krankheit leichter fällt, Frauen kennen zu lernen.
Im Ernst?
Ja. Bei Tourette hilft nur die Flucht nach vorn. Manche Frauen empfinden es als sympathisches Eingestehen von Schwäche, wenn ich von meiner Krankheit erzähle, also erzählen auch sie etwas Persönliches, und man kommt sich schnell näher.
Finden Frauen Sie gerade wegen des Tourette-Syndroms interessant?
Klar, das ist eine Art Kuriositätenbonus. Allerdings kann das auch schnell nerven. Ich möchte nicht auf meine Krankheit reduziert werden.
Sind Sie ein Schürzenjäger?
So würde ich es nicht nennen. Als ich meine Diagnose bekam, fühlte ich mich wie ein Mutant, wie ein Aussätziger – ein Monster. Ich dachte, das Thema Frauen sei für mich für alle Zeiten erledigt. Später, als ich gelernt hatte, selbstbewusster mit meiner Krankheit umzugehen, hatte ich einen gewissen Nachholbedarf. Durch das Tourette-Syndrom stehe ich rund um die Uhr im Mittelpunkt. Das ist furchtbar – hat aber auch positive Seiten. Referate vor Publikum zu halten oder Frauen anzusprechen, macht mich zum Beispiel überhaupt nicht mehr nervös. Das sind Chancen, die man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte.
— Olaf Blumberg: Ficken sag ich selten. Mein Leben mit Tourette. Ullstein-Verlag, Berlin 2013, 208 Seiten, ca. 26 Franken