Totenbeinli und Käsefüsse
- Text: Thomas Wernli; Foto: iStock/BestTravelPhotography
Darf man sich über Kleinigkeiten aufregen angesichts der grossen Probleme auf diesem Planeten? Ja, wir brauchen Banalitäten – meint Thomas Wernli in seiner kleinen Bilanz dieses Sommers.
Trägst du eigentlich nur noch Turnschuhe?» Die Frage unseres Art Director erwischt mich auf dem falschen Fuss. «Äh, ja», stottere ich, gerate ins Sinnieren. Ja, ich trage praktisch nur noch Sneakers, nicht etwa weil Designer und Schuhgott Pierre Hardy in einem annabelle-Interview den Turnschuh als «genialsten Schuh» bezeichnet hat, sondern weil es saubequem ist. Als Konsequenz sind meine Füsse verweichlicht, und seit ich kürzlich ein neues Exemplar in Grösse 47 gekauft habe, hege ich den Verdacht, dass Turnschuhe auch das Fusswachstum fördern. Schliesslich habe ich mal 44 getragen.
Alles Sneakers im Schrank? Nicht ganz: Da stehen auch Wanderschuhe. Wenn ich diese trage, weiss ich danach, warum ich Turnschuhe bevorzuge: Darin bekomme ich keine Blasen. Doch nun ist es mal wieder Zeit, diese auszuführen, in die wunderbare Bergwelt des Bündner Oberlands, meine geliebte Surselva.
Im Zug nach Chur setzt sich im Abteil neben mir gerade eine Frau. Sie zieht die Füsse aus ihren Ballerinas und legt sie nackt auf das Polster des gegenüberliegenden Sitzes. Ich soll mich ja nicht aufregen. Sagt mein Mann, mein Arzt, mein Verstand. ABER: Wie kann diese Frau in den Fünfzigern mit der schicken Pünktchenbluse und der Chanel-Sonnenbrille ihre – Pardon – kleinen, dicken, fleckigen und – nochmals Pardon! – müffeligen Füsse so selbstverständlich der Öffentlichkeit präsentieren?
Das Nervigste am Urlaub sind ja immer die anderen Urlauber. So bin ich nicht der Einzige, der sich diesen Sommer über das Phänomen «Käsefüsse auf Polster» geärgert hat. Online werden Übeltaten mit entsprechenden Fotos angeprangert. In einem deutschen Intercity ist es gar zu einem Vorfall gekommen. Zwei Männer, der eine mit nackten Füssen auf dem Polster. Beschwerde. Keine Reaktion. Streit. Ohrfeige. Bahnpolizei. Aussteigen. Ende der Reise. Also: Doch lieber nichts sagen … ich bin noch nicht in Chur.
Doch wie kann ich mich bloss über so etwas Banales wie nackte Füsse aufregen? Angesichts des Terrors, der uns diesen Sommer alle beschäftigt hat. Nizza ging mir sehr nah, oder wie in Orlando eine Schwulendisco ins Visier des Bösen genommen wurde. Die Schreckensmeldungen haben mich in den Ferien erreicht. Irgendwann habe ich mich entschieden, alle Nachrichten-Apps auf dem Smartphone zu löschen. Die prekäre Lage der Welt würde mich auch nach den Ferien noch genug beschäftigen. Da sind die Sorgen, mit denen man sich so in der Surselva beschäftigen kann, wohltuend simpel. Etwa, ob die feinen Totenbeinli aus dem Backofen von Bruder Gerhard im Shop des Klosters Disentis ausverkauft sind. Oder dass man nachts beim Blick in den Sternenhimmel aus Versehen barfuss auf eine Nacktschnecke treten könnte. Oder ob man in Ilanz eine tolle Sonnenbrille mit Korrekturgläsern findet, weil die alte beim Wandern auseinandergefallen ist.
Wir haben ein Recht auf Banalitäten. Und vielleicht würde es mit der Welt ein bisschen besser aussehen, wenn wir auf die kleinen Dinge etwas mehr achten würden. Etwa, was wir mit unseren Füssen so anstellen. Ich finde, es geht dabei nicht um die gute Kinderstube. Sondern um Respekt.
«Bei allem Respekt …», beginnt auch die Frage, die ich auf der Rückreise einer Zugpassagierin mit auf den Weg gebe, die einen Fuss mit dreckiger Ledersandalensohle aufs Polster stellt, «… möchten Sie als Nächste hier sitzen?» Sie schaut mich betreten an, und ich steige aus. Mit leicht erhöhtem Puls. Und einem guten Gefühl.