Tierwelt – Oma hat das sagen
- Text: Mathias PlüssFoto: Getty Images
Im Reich der Tiere hat das Altern oft Vorteile: Bei den Dickhäutern sind Grossmütter die Leittiere. Und unter Schimpansen gelten Seniorinnen als besonders sexy.
Als der gestrandete Finnwal letzten Sommer im dänischen Vejlefjord gefunden wurde, glaubte man zuerst, es handle sich um ein Jungtier: Nur 17 Meter lang war er – ausgewachsene Tiere kommen normalerweise auf über zwanzig Meter. Eine genauere Untersuchung ergab dann aber ein Alter von gegen 140 Jahren. Der Wal war nicht jung, sondern war im Greisenalter schlicht ein wenig geschrumpft. Ausserdem litt er an Knochenschwund und Gelenkverschleiss.
Das Altern von Tieren ist bis heute nur selten ein Thema in der Wissenschaft. Der Grund liegt darin, dass zumindest in freier Wildbahn kaum je wirklich alte Tiere zu sehen sind: Die allermeisten werden gefressen oder kommen sonst um, bevor sie alt werden. «Das Leben eines wilden Tieres nimmt immer ein tragisches Ende», schrieb 1942 der US-Naturbuchautor Ernest Thompson Seton. «Kein wildes Tier stirbt an Altersschwäche.»
In Wahrheit können Tiere durchaus an Altersschwäche zugrunde gehen, wenn dies auch nicht der Normalfall ist. Zumindest die Säugetiere altern nicht grundsätzlich anders als Menschen. Manche haben Glück und bleiben lange fit. Der ostafrikanische Pavian Sherlock war selbst im Alter von 24 Jahren (auf Menschen umgerechnet: 90 Jahre) ein erfolgreicher Liebhaber. Eine imposante Elefantenkuh, die man ebenfalls in Ostafrika fand, war noch mit 70 eine aggressive Chefin ihrer Herde und betreute überdies drei Kälber – trotz Krampfadern und Arterienverkalkung.
Tiere kennen die gleichen Altersgebrechen wie Menschen. Sie leiden an Hörschäden, Zuckerkrankheit und Herzschwäche. Bei alten Bienen lässt das Gedächtnis nach. Beutelratten haben oft schon mit zwei Jahren trübe Pupillen und einen arthritischen Gang. Überhaupt bewegen sich altersschwache Tiere so wenig wie möglich. Vor der Küste Argentiniens wurde ein älterer Glattwal beobachtet, der sich den allergrössten Teil des Tages dösend im Wasser treiben liess. Ein schottischer Rothirsch reduzierte seine Bewegungen auf den kurzen Gang von seinem Schlafplatz im Farn zum nahen Maisfeld. «Was tut er? Die meiste Zeit nichts», schrieb ein Forscher über ihn. «Er isst und schläft und schaut mürrisch.»
Äusserlich ist vom Alterungsprozess aber nicht immer viel zu sehen. Alte Wildschafe können einen leichten Hängebauch haben. Bei Leoparden werden die Flecken blass, bei Giraffen hingegen dunkler. Manche dunkelhaarige Wölfe bekommen im Alter ein graues, ja sogar ein schneeweisses Fell. Bei alten Affen sieht man runzlige Gesichter und schüttere Felle.
Wie bei Menschen kann die Alterung manchmal sehr schnell gehen: Der Schweizer Wissenschafter Jean-Jacques Abegglen hat bei den Mantelpavianen beobachtet, wie mehrere Alpha-Männchen ihres Harems beraubt wurden. Innert weniger Wochen nach dem Sturz verloren die Tiere Gewicht und Haarmähne, ihre Gesichter wurden dunkel und alt. Dafür kümmerten sie sich nun plötzlich um ihre Kinder.
Oft sind bei wilden Tieren die Zähne der limitierende Faktor. Wenn ein Elefant seine sechsten (!) und letzten Backenzähne abgewetzt hat, kann er nur noch die weiche Vegetation in der Nähe von Flüssen fressen und überlebt meist nicht mehr lange. Zahnlose Wölfe können sich oft noch eine Weile halten, weil ihnen andere Rudelmitglieder die Nahrung vorkauen. Auch der Wasserbock, eine afrikanische Antilopenart, lebt nur so lange wie seine Zähne – normalerweise nicht mehr als zwölf Jahre. Einmal wurde jedoch in Uganda ein Weibchen
mit aussergewöhnlich harten Zähnen beobachtet, das trotz grauer Haare und steifer Gelenke das stolze Alter von 18 Jahren erreichte.
Abgewetzte Zähne hatte auch Flo, die Lieblingsschimpansin der weltberühmten Primatenforscherin Jane Goodall in Tansania. Flo ernährte sich vorzugsweise von Bananen, die Wissenschafter an einer Fütterungsstelle bereitlegten. Für Schimpansenverhältnisse war sie schon eine ältere Dame, als sie mit 35 brünstig wurde. Sofort scharten sich 14 Männchen um sie, die sich mit ihr paaren wollten. Vier Jahre später, inzwischen zum ranghöchsten Weibchen aufgestiegen, war Flo nochmals brünstig und liess sich bis zu fünfzigmal am Tag begatten.
Wäre es möglich, dass Schimpansen-Männchen ältere Weibchen bevorzugen? Die Antwort lautet klar Ja. Forscher haben diese Frage in den letzten Jahren mit langen Beobachtungsreihen untersucht: Schimpansen-Männchen machen älteren Weibchen mehr Avancen als jüngeren, und sie kämpfen auch aggressiver um sie. Folgerichtig kopulieren ältere Weibchen überdurchschnittlich oft mit den ranghöchsten Männchen. Die Wissenschafter folgerten, fast ein wenig widerwillig, wie es scheint: «Vielleicht finden Schimpansen-Männchen die runzlige Haut, die ausgefransten Ohren, die unregelmässigen bleichen Flecken und die länglichen Brustwarzen ihrer bejahrten Weibchen nicht gerade so verführerisch wie Menschenmänner die vollen Lippen und die glatte Haut junger Frauen, aber auf jeden Fall reagieren sie nicht negativ darauf.»
Ähnliche Tendenzen fand man bei 14 weiteren Primatenarten. Offenbar kennen unsere nächsten Verwandten keinen Kult der Jugendlichkeit, ganz im Gegenteil: Erfahrung ist Trumpf. Der Grund dafür ist wahrscheinlich, dass ein älteres Weibchen meist bereits erfolgreich Junge aufgezogen hat, und das steigert die Chance, dass sie auch das nächste Kind durchbringt. «Die Wahl der Männchen ist vernünftig», schreibt die kanadische Zoologin Anne Dagg. «Sie wissen, dass sie Weibchen begatten, die fruchtbar und kompetente Mütter sind.» Umgekehrt bevorzugen auch die Weibchen bei vielen Arten eher ältere Begatter. Denn gesunde alte Männchen haben bewiesen, dass sie gute Gene haben und im Leben etwas taugen.
Was Unerfahrenheit für Folgen haben kann, zeigt das Beispiel eines jungen Steppenpavian-Weibchens in Kenia: Es wusste mit seinem Erstgeborenen nicht viel anzufangen und trug es am Anfang verkehrt herum – nach drei Wochen war das Kind tot. Auch bei vielen Vogelarten, etwa beim amerikanischen Kokardenspecht, steigt die Überlebenswahrscheinlichkeit der Jungen mit der Erfahrung der Eltern. Ältere kalifornische Möwen bringen doppelt so viele Küken durch wie jüngere; sie sind die besseren Wächter und die erfahreneren Futtersucher.
Ausserdem spielt hier ein Effekt mit, den es beispielsweise auch bei Rothirschen gibt: Ältere Elternpaare wenden für ihren Nachwuchs mehr Energie auf und gehen mehr Risiken ein – vermutlich spüren sie, dass ihnen nicht mehr viel Zeit bleibt. Damit ist auch gesagt, dass die Attraktivität des Alters ihre Grenzen hat. Irgendwann ist jedes Tier verbraucht, insbesondere wenn es viel Nachwuchs hatte; seine Fertilität sinkt, die Fitness lässt nach.
Doch auch hier gibt es offenbar Ausnahmen: Diesen Frühling wurde von einem nordamerikanischen Albatros-Weibchen berichtet, das mindestens sechzig Jahre alt ist und gerade sein 35. Junges aufzieht. Äusserlich zeigt es, wie übrigens viele Vögel, keinerlei Alterungszeichen. Für die Biologen ist der Fall ein Rätsel.
Überhaupt ist unter Wissenschaftern vieles umstritten – bis hin zur Grundfrage, warum wir überhaupt altern. Die einfachste Erklärung lautet, dass diese Frage in der Evolution schlicht nie besonders wichtig war. Da nur die allerwenigsten Tiere wirklich alt werden, gab es kaum einen Selektionsdruck zur Verhinderung negativer Alterserscheinungen. Hausmäuse zum Beispiel können, wenn man sie lässt, vier Jahre alt werden. In der Natur beträgt die Lebenserwartung aber nur drei bis vier Monate; neunzig Prozent aller Mäuse werden nicht älter als ein halbes Jahr. Sie werden gefressen oder kommen sonst unter die Räder. Darum ist alles darauf ausgelegt, dass sie möglichst schnell und möglichst viel Nachwuchs haben. Und so ist es bei den allermeisten Tierarten. Ob die paar wenigen, die mit Glück viel älter werden, Runzeln oder Gicht bekommen, hat in der Evolution keine Rolle gespielt.
Es gibt aber auch Ausnahmen: Arten, bei denen nicht alles auf eine möglichst rasche Fortpflanzung ausgelegt ist. Zum Beispiel jene Tiere, die kaum Fressfeinde haben und darum beim Nachwuchszeugen nicht pressieren müssen. Ein gutes Beispiel ist der Grottenolm, ein höhlenbewohnendes, blindes Amphibium, das keine Feinde hat, langsam lebt, sich etwa alle zwölf Jahre fortpflanzt und hundert Jahre alt werden kann. In diese Kategorie gehören auch die gut gepanzerten Schildkröten, von denen manche Arten eine Lebensspanne von 200 Jahren haben, oder verborgen lebende Tiefseefische wie der Stachelkopf Sebastes aleutianus, von dem schon einmal ein 205-jähriges Exemplar gefunden wurde. Bei all diesen Arten, die das Leben gemütlich nehmen, sind auch kaum Altersbeschwerden ersichtlich.
Eine zweite Ausnahme sind hoch entwickelte, grosse Säugetiere wie Wale, Elefanten und manche Menschenaffen. Natürlich kennen diese Tiere einen Alterungsprozess. Aber sie haben alle eine sehr hohe Lebenserwartung, und oft bleiben sie weit länger fit, als nötig wäre, um bloss Kinder auf die Welt zu stellen. Gemeinsam ist diesen Tieren, dass sie intelligent und sozial sind, eine lange, lernintensive Kindheit haben und in dieser Zeit viel Betreuung brauchen. Das heisst, es gibt einen Bedarf für Grossmütter, die beim Schutz der Gruppe und bei der Erziehung mithelfen.
Grossmütter sind auf den ersten Blick ein wandelnder Widerspruch zur Evolution: Sie konsumieren Ressourcen, pflanzen sich aber nur noch selten (Elefanten, Gorillas) oder gar nicht mehr (Mensch, manche Wale) fort. Doch offenbar sind sie für das Überleben ihrer Enkel so wichtig, dass sich dieses Modell durchsetzen konnte. Beim Menschen haben grosse historische Studien ergeben, dass Familien deutlich mehr Kinder durchbringen, wenn eine Grossmutter (oder noch besser zwei) helfend zur Seite steht.
Bei den Tieren kann die Rolle der Alten sehr unterschiedlich sein. Bei den indischen Languren-Affen bilden die Grossmütter eine Art Einsatztrupp, der die Gruppe und damit auch ihre eigenen Nachkommen bis aufs Blut verteidigt. Trotzdem stehen diese Kampfgrossmütter auf der untersten Stufe der sozialen Leiter.
Umgekehrt ist es bei den Elefanten, wo Weibchen und Jungtiere in Herden zusammenleben: Hier wächst das Ansehen mit dem Alter. Elefanten wachsen ihr Leben lang weiter, und oft schlüpft das grösste, älteste und damit auch erfahrenste Weibchen in die Rolle des Leittiers, das die Entscheidungen für die Herde trifft. Wie wichtig die Erfahrung ist, hat jüngst eine Untersuchung gezeigt: Nur reife Chefinnen können das Gebrüll eines (gefährlichen) Löwen-Männchens von dem eines (eher ungefährlichen) Löwen-Weibchens unterscheiden. Kein Wunder, bringen Elefantenherden desto mehr Nachwuchs hervor, je älter das Leittier ist.
Dem menschlichen Modell am nächsten kommen lustigerweise einige Wal-Arten. Grindwal-, Pottwal- und Schwertwal-Weibchen können sechzig bis achtzig Jahre alt werden, haben aber nach vierzig meist keine Kinder mehr. Alle kennen sie eine Art Babysitting: Während die Mütter arbeiten gehen, also im tiefen Wasser nach Nahrung suchen, kümmern sich die Grossmütter an der Wasseroberfläche um die Kleinen.
Es geht aber um weit mehr als ums Hüten: Die Alttiere geben den Jungen ihr Wissen weiter. Grosse Schwertwale (Orcas) etwa sind sehr lernfähig und werden von den erfahrensten Tieren in Fächern wie Jagdstrategien, Echo-Ortung und sogar in lokalen Wal-Dialekten unterrichtet. Manche Grossmütter unternehmen mit jungen Verwandten eigentliche Bildungsreisen über Hunderte von Kilometern.
Noch heute werden die Grossen Schwertwale wegen ihrer Treibjagden manchmal Killerwale genannt. Das ist etwa so fair, wie wenn man Menschen als Killeraffen bezeichnen würde. «Jeder, der das Verhalten von Schwertwalen gründlich untersucht hat, sieht sie nicht mehr als Killer», sagt die Zoologin Anne Dagg. «Sondern als jene sozialen, intelligenten und leistungsfähigen Tiere, die sie sind.»