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“Tanz ist sichtbar gewordener Atem”

“Tanz ist sichtbar gewordener Atem”

  • Interview: Helene AecherliFoto: Kent RenoErstellt: 31. Dezember 2009

Sie tanzt um ihr Leben: Die Amerikanerin Anna Halprin ist eine Pionierin des Modern Dance. Jetzt kommt ein Film über Leben und Schaffen der 89-Jährigen in die Kinos.

annabelle: Seit siebzig Jahren suchen Sie Antworten auf die Frage «Was ist Tanz?». Sind Sie fündig geworden?
Anna Halprin: Oh dear, ja, natürlich! Die Frage stellt sich mir zwar immer wieder neu. Aber mir ist mittlerweile klar geworden: Tanz ist die Mutter aller Künste. Mehr noch: Tanz ist sichtbar gewordener Atem. Wenn ich nicht atmen kann, kann ich mich nicht bewegen – und ohne Bewegung entsteht keine Kunst.

Das müssen Sie näher erklären.
Martha Graham, eine Pionierin des Modern Dance, sagte mal, man brauche zehn Jahre, um Tänzer zu werden. Ich behaupte: Man braucht zehn Sekunden. In zehn Sekunden kann man erfahren, dass jedes Gefühl Bewegung und somit auch Tanz ist. Nur schon das Ein- und Ausatmen ähnelt einer Wellenbewegung, dem Rhythmus von Ebbe und Flut. Insofern ist jeder, der sich bewusst mit seinem Atem bewegt, ein Tänzer.

Sie haben den Tanz neu definiert.
Ja. Es besteht ein grosser Unterschied zwischen dem Tanz als Bühnenspektakel und seiner eigentlichen Aufgabe: den Menschen mit seinem Körper und seinem Leben zu verbinden. Seit je haben Menschen getanzt, um Götter zu beschwören, sich Mut zu machen oder Heilungsprozesse voranzutreiben. Um diese Spiritualität, um die heilende Kraft des Tanzes geht es mir heute.
Vor Jahren erkrankten Sie an Darmkrebs. Hat dies Ihr Schaffen beeinflusst?
Meine Krebserkrankung war die grosse Wende in meinem Leben, wie eine Erleuchtung mit vorgehaltener Pistole: Ich würde nun leben oder sterben. Falls ich leben dürfte, was würde mein Lebensinhalt sein? Und falls ich sterben müsste: Wie könnte ich lernen, meinen Tod zu akzeptieren? Ich hatte vor dem Krebs nur für den Tanz gelebt. Nun wollte ich tanzen, um zu leben.

Wie tanzt man, um zu leben?
Ich horchte in meinen Körper hinein, um zu verstehen, was er mir sagen wollte, und realisierte, dass viele Informationen in ihm stecken – Angst, etwa, Minderwertigkeitsgefühle, Verletzungen, aber auch Stolz oder Freude –, die über Bewegung sichtbar gemacht und zum Fliessen gebracht werden können. Ich begann zu studieren, wie Bewegungen entstehen, welche Emotionen welche Bewegungsabläufe generieren, und habe mir so den Weg zu meiner Heilung buchstäblich freigetanzt. Seither setze ich tänzerisch nur noch Themen um, die für mein Leben relevant sind. Zugleich will ich diese Erkenntnisse für andere Menschen erfahr- und tanzbar machen.

Sie arbeiten mit Aids- und Krebskranken …
… und mit hochbetagten Menschen. Mit unseren Tänzen zelebrieren wir die Schönheit des alternden Körpers und schaffen damit ein Vermächtnis für unsere Kinder und Freunde. Tanzen hilft, mit seinem Leben ins Reine zu kommen und auch den eigenen Tod zu akzeptieren.

Kinostart: 14. Januar 2010