Leben
«Stress hilft dem Körper»
- Redaktion: Helene Aecherli; Text: Kerstin Hasse; Illustration: iStock / Valeriy Kachaev
Urs Willmann, Wissenschaftsjournalist der Wochenzeitung «Die Zeit», liebt den Stress – und hat ihm deshalb ein Buch gewidmet.
annabelle: Urs Willmann, wenn Sie jemand nach Ihrem Befinden fragt, wie oft antworten Sie dann mit «Danke, mir geht es prächtig, ich bin so richtig schön gestresst»?
Urs Willmann: Ungefähr vier- bis fünfmal pro Tag.
Können Sie Stress definieren?
Stress ist die Reaktion des Gehirns auf eine Gefahr. In der Steinzeit war das vielleicht ein Säbelzahntiger, heute kann es der Anruf des Vorgesetzten sein, der einen an eine Deadline erinnert. In dieser Notfallsituation wird der Körper in Alarmbereitschaft versetzt. Das Gehirn lässt den Körper Adrenalin und Cortisol ausschütten, Hormone, die die Leistungsfähigkeit verbessern, gleichzeitig werden Zucker und Fett in den Blutkreislauf gepumpt, um das Gehirn zusätzlich mit Nahrung zu versorgen. In diesem Moment ist der Mensch bereit zu fliehen, anzugreifen oder sich tot zu stellen.
Warum empfinden Sie Stress als etwas Positives?
Weil ich schon in der Schule besser arbeitete, wenn ich unter Zeitdruck stand. Als ich anfing, mich mit Stress auseinanderzusetzen, realisierte ich, dass wir sogar in unserer Freizeit Stressmomente einbauen; Momente, die man geniesst. Ich zum Beispiel ging mit meinen Nichten und Neffen auf Achterbahnen, oder ich schaue mir ein Fussballspiel im Stadion an. Stressreaktionen sind entgegen der gängigen Meinung nicht schädlich. Im Gegenteil: Stress hilft dem Körper. Das Immunsystem wird aktiver, die Muskeln sind angespannt, alle Sinne geschärft, das Gehirn fokussiert.
Das klingt gut, doch nehmen gerade Stresserkrankungen in unserer Gesellschaft zu. Was läuft schief?
Stress ist negativ, wenn es sich um Langzeitstress handelt. Ist man über Monate hinweg im Dauerstress, zapft man zu viel von den Notfallenergien an, und das belastet die Gesundheit.
Wann kippt der positive, kurzzeitige Stress in Langzeitstress um?
Wenn wir uns nach einer Stresssituation keine Ruhe gönnen, sondern immer neue Kräfte mobilisieren. Im Alltag sollte man sich fragen: Hilft mir der Stress in dieser Situation? Muss man eine Rede halten, dann ja, weil der Stress dazu führt, dass man konzentriert ist. Ist der Stressfaktor der ständige Termindruck, hilft einem der erhöhte Puls nicht. Diesen Stress gilt es zu vermeiden.
Wie?
Indem man Langzeitstress durch Kurzzeitstress abbaut.
Das müssen Sie erklären.
Eine Möglichkeit ist Sport. Wenn man sich beim Lauftraining auspowert, wird der Körper anschliessend zu einer Ruhephase gezwungen. Er schüttet unter anderem das Hormon Oxytocin aus, was dafür sorgt, dass man sich hinlegen will – eine Reaktion, die man im Langzeitstress vergisst oder hinausschiebt. Die andere Möglichkeit ist psychischer Kurzzeitstress. Ein Beispiel: Ich habe Schlafstörungen, weil mir dauernd einfällt, was ich alles erledigen muss. Solche Gedankenschleifen lassen sich durchbrechen, wenn ich mich auf etwas anderes fokussiere. Und das wiederum geht am besten unter Stress. Sich nach der Arbeit einen Horrorfilm anzusehen, der richtig Angst macht, kann dabei helfen, nicht mehr ans Büro zu denken und gut zu schlafen.
Das heisst, wer unter Langzeitstress leidet, sollte entweder am Abend einmal um den See rennen oder sich «The Shining» angucken?
Genau. «Scream» ist auch nicht schlecht. Mein Buch soll aber keine zynische Sichtweise auf den Stress sein, das ist mir wichtig. Neulich wurde ich darauf angesprochen, dass mit meinem Buch jeder Arbeitgeber die Entschuldigung habe, seine Leute noch mehr unter Druck zu setzen. Aber um das geht es nicht. Leute permanent zu stressen, ist falsch. Man sollte seinen Angestellten die Gelegenheit geben, Kurzzeitstress zu erleben – und das können sie am besten in ihrer Freizeit.
— Urs Willmann: Stress. Ein Lebensmittel. Pattloch-Verlag, München 2016, 303 Seiten, ca. 28 Franken