Work & Cash
Streik: Was zwei Frauen mit Tieflohnjobs fordern
- Text: Stephanie Hess
- Bild: Stocksy, Collage: annabelle
Eine Reinigungsfachfrau und eine Kita-Betreuerin erzählen aus ihrem Alltag – von sexueller Belästigung, 15-Stunden-Arbeitstagen und wie männliche Mitarbeiter bevorzugt werden.
Knapp eine halbe Million Menschen in der Schweiz arbeiten in Tieflohnjobs. Mehr als jede zehnte Arbeitskraft verdient also weniger als 4335 Franken monatlich, das ist die aktuelle Tieflohnschwelle. Zwei Drittel davon sind Frauen. Ohne sie würde das heutige Arbeitssystem oft nicht funktionieren: Sie gewährleisten die gesellschaftliche Grundversorgung, etwa im Detailhandel, als Angestellte im Frisiersalon, Gastromitarbeitende oder Hotelzimmerreiniger:in. Und sie halten Eltern der Mittel- und Oberschicht den Rücken frei, damit diese in höheren Pensen in besser bezahlten Jobs tätig sein können.
Wir haben mit einer Reinigungskraft gesprochen, die knapp 20 Franken pro Stunde einnimmt. Und mit einer Kita-Betreuerin, die als Gruppenleiterin und mit zwölf Jahren Arbeitserfahrung über einen Monatslohn von 4200 Franken verfügt. Sie wurden uns von den Gewerkschaften Unia und VPOD vermittelt. Die beiden Frauen möchten anonym bleiben, weshalb die Namen von der Redaktion geändert wurden.
Olivia*, 32, Reinigungsfachfrau, Zürich: «Am liebsten würde ich nicht mehr in der Reinigungsbranche tätig sein – zu schlecht sind meine Erfahrungen»
«Wenn ich Menschen erzähle, wie wenig ich als Reinigungskraft verdiente, dann sagen sie: Das stimmt doch nicht. Aber es ist so, ich bekam 19.20 pro Stunde als Putzkraft auf dem Bau. Gemäss Gesamtarbeitsvertrag wären mir mindestens 2.30 Franken mehr pro Stunde zugestanden. Aber selbst wenn ich den korrekten Lohn ausbezahlt bekommen hätte, hätte ich nebenher noch arbeiten müssen, um mein Leben bestreiten zu können. Ich hatte noch andere, private Putzaufträge, das ergab dann oft 15-Stunden-Arbeitstage.
Dass mir zu wenig bezahlt wurde, war nur eine von mehreren Gängelungen meines Arbeitgebers. Ein kleiner Teil unseres Lohnes floss in einen Weiterbildungsfonds, in den auch Arbeitgeber:innen Geld einschiessen müssen. Damit wird ein zweijähriger Reinigungskurs für Reinigungsfachleute finanziert, der uns dann auf eine höhere Lohnstufe heben würde. Ich fragte mehrmals, ob ich daran teilnehmen könnte. Mein Arbeitgeber verneinte. Die Männer in unserem Team jedoch meldete er an. Sowieso hatten wir zwei Frauen und auch die eritreischen Angestellten einen schweren Stand, man machte sich immer wieder über uns lustig.
Und dann wurde ich von einem Bauunternehmer, also von jenem Mann, der unsere Reinigungsfirma beauftragt hatte, sexuell belästigt. Er lief mir nach, rief mich nach der Arbeit an, schrieb mir SMS: ich solle jetzt duschen gehen und zu ihm kommen. Ich erzählte meinem direkten Vorgesetzten davon, er sagte mir: «Du schweigst darüber, Olivia. Dieser Mann zahlt dir und deiner Familie das Essen und allen anderen in deinem Team auch.»
Mein Freund bewegte mich schliesslich dazu, zur Gewerkschaft und zur Polizei zu gehen. Das Verfahren ist noch hängig. Als der Bauunternehmer von meiner Anzeige erfuhr, bestellte er mich unter einem Vorwand in sein Büro, stellte sich in den Türrahmen, dass ich nicht rauskonnte, und herrschte mich an. Ich hatte wahnsinnige Angst, begann zu zittern, wurde ganz weiss. Seither habe ich Panikattacken, ich war krankgeschrieben und verliess drei Monate meine Wohnung nicht mehr. Sobald der Kündigungsschutz auslief, entliess mich mein Arbeitgeber. Nun bin ich auf dem regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV), mache Deutschkurse und suche einen Job.
Ich komme ursprünglich aus Spanien. Mein Vater, der seit Jahren hier als Bauarbeiter arbeitet, hat mich und meinen Sohn vor einigen Jahren zu sich geholt. In Spanien habe ich in einem Parkhaus gearbeitet, die Schranke geöffnet, Abos verlängert und so weiter. Ich verfüge auch über Aus- und Weiterbildung im Sicherheitsbereich. Am liebsten würde ich künftig nicht mehr in der Reinigungsbranche tätig sein, zu schlecht sind meine Erfahrungen. Was ich mir stattdessen vorstellen könnte? Auf dem Bau zu arbeiten, im Sicherheitsbereich oder auch im Verkauf.
Ich wünsche mir vom Streik, dass er auf Situationen wie meine aufmerksam machen kann. Ich wünsche mir mehr Wertschätzung Reinigungsleuten gegenüber und einen höheren Mindestlohn für Reinigungsangestellte, der der Schweiz würdig ist. 23 Franken pro Stunde wäre schon mal etwas. Ich denke nicht, dass ich damit Geld sparen könnte. Aber ich könnte in Ruhe mein Leben leben, meinem Sohn mal eine Freizeitaktivität ermöglichen und müsste dafür nicht zwei Jobs gleichzeitig machen.»
Nina*, 28, Kinderbetreuerin in einer Krippe, Basel: «Der Betreuungsschlüssel stimmt schlicht nicht mit der Wirklichkeit überein»
«Sie denken, in meinem Beruf gibt es weniger Diskriminierung, weil er sowieso zum allergrössten Teil von Frauen ausgeübt wird? Im Gegenteil. Männer sind derzeit gesucht. Sie werden bei der Auswahl bevorzugt und schneller befördert. In meinem Team wurde ein Mann zum Gruppenleiter ernannt, obwohl eine Frau besser qualifiziert gewesen wäre, also mehr Arbeitserfahrung hatte. Und wir haben auch per Zufall erfahren, dass ein Mann in unserem Team mehr verdient als die Frauen in derselben Position – bei gleichem Alter und gleichen Qualifikationen.
Ein weiteres Problem ist der Betreuungsschlüssel, das ist im Grunde eigentlich hinreichend bekannt, nur ändert sich nie etwas. Er stimmt schlicht nicht mit der Wirklichkeit überein. In unserem Fall haben wir ein:en ausgebildete Betreuer:in pro fünf Kinder. Ausserdem werden Kinder in unserem Betrieb, wenn sie eineinhalb Jahre alt sind, von gleich vielen Fachkräften betreut, wie wenn sie fünf Jahre alt sind. Das macht keinen Sinn. Kinder, die gerade mal laufen können, brauchen viel mehr Betreuung als solche, die kurz vor der Einschulung stehen. Zudem haben Praktis, Lernende oder Zivildienstleistende oft zu viel Verantwortung dafür, dass sie keine Ausbildung haben.
Bei Krankheitsabwesenheiten kann es sein, dass man als ausgebildete Fachfrau Betreuung auch mal acht Kinder allein betreut. Wie ich an solchen Tagen aus der Kita komme? Mit Kopfschmerzen, manchmal mag ich fast nicht mehr nach Hause zu laufen. Und dann überlege ich mir, was hätte ich anders machen können, um dem Kind, das meine Hilfe benötigt hätte, mehr Zeit zu schenken? Dann merke ich, es wäre zeitlich gar nicht möglich gewesen. Wir hätten eigentlich das Wissen, wie wir Kinder etwa in der Sprache, der Motorik oder der Sozialkompetenz fördern könnten, nur haben wir im Alltag schlicht keine Zeit dafür. Das ist mega frustrierend, darüber rede ich praktisch jeden Tag mit meinen Kolleg:innen.
Es gibt zu wenig Bewusstsein in der Politik und auch bei manchen Eltern, wie angespannt die Situation in den Krippen oft ist. Wir betreuen Kinder, wir fördern sie, wir lehren sie, wir bilden sie. Wir haben eine Zukunft in der Hand. Dass man bei uns spart, ist doch der komplett falsche Weg.
Ich arbeite 100 Prozent als Gruppenleiterin, bilde Lehrlinge aus und habe jeden Monat 4200 Franken auf meinem Konto. Angemessen für meine Arbeit fände ich einen Brutto-Lohn von 6000 Franken monatlich. Dass ich je so viel verdienen werde in diesem Job, ist aber völlig utopisch, wenn alles so bleibt, wie es jetzt ist. Ich schätze, dass etwa 80 Prozent aller Fachkräfte, die sich weiterentwickeln wollen, aus dem Job aussteigen, die anderen absolvieren eine Ausbildung zum:zur Heimleiter:in.
Am Frauenstreik will ich Aufmerksamkeit schaffen für die Missstände in der Kita und allgemein für die Gleichberechtigung von Frauen einstehen. Ich habe dafür ein T-Shirt bedruckt, darauf steht: «I know, I know I’m standing up for myself, I’m such a bitch.» Ich nehme zusammen mit zwei anderen Betreuerinnen aus unserem Betrieb an der Demo teil – sofern niemand der arbeitenden Fachpersonen krank wird und wir einspringen müssen.»
Hier findet ihr das Streikprogramm der Gewerkschaft Unia.