Der One-Night-Stand unserer Autorin streifte ohne ihre Zustimmung das Kondom ab. Ein Essay darüber, was es bei ihr auslöste und warum Stealthing als Vergewaltigung benannt werden muss.
Inhaltshinweis: Sexualisierte Gewalt
An einem Tag im Juli 2021 wurde ich vergewaltigt. Ein bisschen zumindest. Was das heisst? Jemand hat ohne meine Zustimmung während des Sex das Kondom abgezogen. «Stealthing» heisst das. Sein Name ist Sean, er war zum Zeitpunkt der Vergewaltigung 29 Jahre alt, ich 25. Es war mein erster One-Night-Stand. Er wirkte nett, kennengelernt haben wir uns in einer Bar in San Diego, USA. Wir haben getanzt, gelacht, uns verstanden. Ich entschied, mit ihm nach Hause zu gehen.
Er streifte ein Kondom über. Alles war in Ordnung. Dann streifte er es ab, drang ungeschützt von hinten in mich ein. Ich griff hinter mich, spürte Seans nackten Penis. «Hör auf.» Er stiess nochmals zu. «Ich will das nicht.» Er drückte mich herunter. «Nein, scheisse. Stopp.» Er hört auf. Meine Vergewaltigung dauerte eine Minute.
Was folgt, sind Worthülsen: Es tut mir leid. Ich weiss auch nicht. Das war dumm. Hör auf, so zu schreien. Du weckst meinen Mitbewohner. Ich hab nicht nachgedacht. Bleib hier. So schlimm ist das doch nicht. Ohne fühlt sich besser an. Ich hatte seit Monaten nur Sex mit einer Person. Ich habe kein HIV.
Ich müsse ihn anzeigen können, wenn ich wolle
HIV. Es fühlt sich an, als hätte er mir die drei Buchstaben auf den Schoss gekotzt. Der Raum ist warm und stinkt. Ich erinnere mich nicht an das, was danach passiert. Von einer Freundin weiss ich, dass ich angerufen habe, sie kam und mich nach Hause brachte. Dann wollte ich allein sein. Sie ist geblieben und hat mich gezwungen, alles über Sean herauszufinden. Ich müsse ihn anzeigen können, wenn ich wolle.
Sean ist Fussball-Coach, 29, hat zwei Handynummern und einen Mittelnamen. Ich kenne die Namen seiner Eltern. Ich könnte seine Mutter anrufen und fragen, was sie da herangezogen hat. Aber ich will sein Leben nicht ruinieren. Am nächsten Morgen lasse ich mich beim Gynäkologen testen. Die Arzthelferin ist die Erste, die «Vergewaltigung» sagt. Ich solle ihn anzeigen. Ich frage mich, ob ich wirklich vergewaltigt wurde. Wie sehr muss man missbraucht werden, um es sich selbst einzugestehen? Reicht eine Minute?
21 Tage Angst
Meinen HIV-Test kann ich erst in drei Wochen durchführen. Das bedeutet 21 Tage Angst. Soll ich HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP) einnehmen? Das sind Medikamente, die das Virus daran hindern, sich in meinem Körper festzusetzen. Mir werden potenzielle Nebenwirkungen aufgelistet: Vier Wochen lang Kopfschmerzen, Durchfall, Übelkeit und Erbrechen. Rund 1500 Dollar müsste ich zahlen, um sofort PEP zu bekommen. Ich bin überfordert. Es fühlt sich an, als würde sich mit jedem Atemzug nur noch ein Lungenflügel füllen. Ich schreibe Sean. Er soll sich testen lassen.
Ich sei «ein bisschen panisch», tippe ich. Und dass ich seine Hilfe hierbei wirklich zu schätzen wisse. Er kooperiert, schreibt: «Yeah, wenn du dich dann besser fühlst, auf jeden Fall. Ich wollte keinen Schaden anrichten.» Er will sich melden, sobald er getestet ist. Vier Tage vergehen. Der Zeitraum, um HIV-Postexpositionsprophylaxe einzunehmen, ist verstrichen. Meine Ohnmacht ist komplett. Dann schreibt Sean: «Ich bin negativ.» Kein Screenshot oder Foto vom Ergebnis, kein Beweis, dass er sich wirklich testen liess. Ich schreibe: «Danke. Sorry, ich wollte nicht so ausrasten.»
«Stealthing» ist nichts, worüber ich sprechen wollte
Seitdem frage ich mich, ob das mein Ernst ist. Danke? «Danke» wofür? Danke, dass du mich ein bisschen vergewaltigt hast. Danke für die Depression, die darauf folgte. Danke, dass ich mich von jedem, der mir nahesteht, distanziere? Ich konnte es nicht aussprechen, wollte nicht, dass mein Umfeld von meinem Schmerz weiss. «Stealthing» ist nichts, worüber ich sprechen wollte, nichts, worüber ich bis jetzt gesprochen habe. Meine Familie erfährt durch diese Worte von meiner Vergewaltigung.
Danke, Sean, für das Gefühl, schuld zu sein. Immerhin wollte ich mit dir nach Hause gehen. Ich habe nie verstanden, wieso sich Opfer schuldig fühlen – und ich verstehe auch heute nicht, wieso ich mich schuldig fühle. Du hast du mir jede Kontrolle genommen. Statt dich anzuzeigen, wollte ich dich und dein Leben schützen. Mir wird bewusst: Mein Schweigen ist Teil des Problems.
In der Schweiz klafft eine Gesetzeslücke
81 Tage nach der Tat wurde «Stealthing» in Kalifornien in Abschnitt 1708.5 des Zivilgesetzbuches als sexuelle Nötigung aufgenommen. Ich hätte Sean also zivilrechtlich verklagen können. Ich bereue, es nicht getan zu haben. Heute würde ich es tun. Die offizielle Deklaration als rechtswidrig dämpft mein Gefühl der Schutzlosigkeit. In der Schweiz klafft derweil eine Gesetzeslücke. Wie viele Menschen hierzulande von «Stealthing» betroffen sind, ist nicht klar. Offizielle Zahlen gibt es keine.
In der Schweiz gilt «Stealthing» nicht als Vergewaltigung, da der Sex einvernehmlich ist. Laut Bundesgerichtsurteil vom Juni 2022 ist es keine Schändung, weil das Opfer getäuscht wird und nicht als widerstandsunfähig oder urteilsunfähig anzusehen sei. Es gilt als sexuelle Belästigung – dafür gibt es eine Busse. Das Schweizer Sexualstrafrecht befindet sich in Revision, «Stealthing» soll strafbar werden. Irgendwann.
An einem Tag im Juli 2021 wurde ich vergewaltigt. Es hat eine Minute gedauert. Die Machtlosigkeit bleibt. «Stealthing» ist Vergewaltigung und wir müssen das so benennen.
Mehr Informationen und Hilfsangebote findest du hier:
Danke für diesen Artikel. Habe dasselbe erleben müssen .. das zu lesen hilft einem