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Stören Sie mich bitte!

Leben

Stören Sie mich bitte!

  • Text: Jana Avanzini; Foto: Pexels

Jana Avanzini hört gern zu und redet gern – auch mit Wildfremden. Doch im öffentlichen Raum scheint dies nicht angebracht zu sein. Unter dem Motto Respekt wird Interaktion zum rücksichtslosen Benehmen. Das geht so nicht, findet sie. 

Es ist Feierabend. Kurz nach fünf. Im Zug ist jeder Platz besetzt. Es herrscht Stille. Rundherum. Irgendwo, ein paar Abteile weiter, unterhalten sich zwei kaum hörbar. Der Rest sitzt stumm auf den Polstern, Kopfhörer im Ohr, Handy vor dem Gesicht. In seltenen Fällen liest jemand einen Krimi, viel öfter aber ein paar skandalöse Schlagzeilen. Aus der Heizung riecht es leicht nach verbranntem Staub, die Fenster beginnen sich zu beschlagen. Dann leuchtet es auf, simultan auf allen Screens im Zug: «Respekt!» Mit Herzchen umrandet. Bitte zeigen Sie Respekt Ihren Mitreisenden gegenüber. Hören Sie Musik leise und mit Kopfhörern, führen Sie Telefongespräche nur kurz und in angemessenem Ton, essen im Zug ist nicht erlaubt. Ich blicke mich um. Kein Ton, kein Blick, kein solidarisches Augenrollen, jemand atmet tief aus, doch keiner scheint die Aufforderung zu mehr Rücksichtnahme mitbekommen zu haben. Wahrscheinlich nimmt kaum jemand wahr, dass rundherum andere Menschen die Plätze belegen. Hier also, wo sich kaum jemand traut, einem anderen Menschen in die Augen zu blicken, wird gefordert, sich doch bitte ruhig zu verhalten. Es wird gewünscht, dass man seine Mitmenschen auf keinen Fall irgendwie auf die eigene Präsenz aufmerksam macht. Wir sollen Rücksicht nehmen auf die Menschen, die sich im öffentlichen Raum bewegen. Die Menschen, die nicht darauf aufmerksam gemacht werden möchten, dass sich dort noch andere Menschen aufhalten. Mir scheint dies doch ein ganz bisschen übertrieben.

Sind es doch die «Störungen», die den alltäglichen Trott, die immer gleichen Abläufe, die wir fast wie im Schlaf erleben, unterbrechen. Die den Tag aufheitern. Ich liebe diese Momente: Wenn in der Bahnhofshalle einer lautstark die Wiedergeburt Jesu verkündet, eine den ganzen Platz aus ihrem Rucksack mit Samba-Rhythmen beschallt oder die Seniorenreisegruppe im Abteil nebenan leicht beschwipst die gemeinsame Reise Revue passieren lässt. Wenn eine sich am Telefon streitet, ein Kind zum 47 Mal in einer selbst erfundenen Tonart den Refrain von «Frozen» zum Besten gibt oder ein Bündner Kondukteur mit den Kunden Schabernack treibt. Es sind doch, seien wir ehrlich, diese Momente, in welchen wir uns gegenseitig in die Augen schauen, an den Ort und in den Moment zurückkehren und mit einem Lächeln weiter unserer Wege gehen.

Deshalb finde ich die Forderung, «Respekt» zu zeigen, im man die Interaktion zwischen Fremden auf null reduziert, vor allem zwei Dinge: bünzlig und buchstäblich asozial. Ich fordere hier weder «Nächstenliebe» noch gebe ich den Tipp, jeden Tag einem unbekannten Menschen ein Kompliment zu machen. Auch wenn das wirklich nett ist. Ich würde mich bereits darüber freuen, wenn Sie mir das nächste Mal in die Augen sehen, wenn Sie sich zu mir ins Abteil setzen. Sie dürfen mich auch etwas fragen oder mir etwas erzählen. Sie dürfen selbstverständlich ganz laut Musik hören – am liebsten irgendwas Übles aus den 90er-Jahren oder auch Death Metal. Lackieren Sie sich die Nägel, kämpfen Sie mit der Mascara oder der Kebab-Sauce, trennen Sie sich am Telefon und lästern Sie lautstark über die Augenbrauen einer Bekannten. Stören Sie mich.

Jana Avanzini ist freie Journalistin