Politik
SRF-Korrespondentin Luzia Tschirky: «Es war nie mein Ziel, Kriegsreporterin zu werden»
- Text: Aleksandra Hiltmann
- Bild: Tom Haller
Die Schweizer Journalistin Luzia Tschirky berichtete aus dem Krieg in der Ukraine. Nun hat die 33-Jährige ein Buch geschrieben. Hier spricht sie über den sichersten Ort bei Luftalarm, Frauen an der Front und Mutterschaft.
annabelle: Es gibt ein Bild, dass sich wohl bei vielen Schweizer:innen festgesetzt hat: Sie und Schutzweste am Strassenrand ausserhalb Kiews. In dieser TV-Live-Schaltung 2022 erklärten Sie uns, dass in Europa ein neuer Krieg beginnt. Wie denken Sie heute über diesen Moment?
Luzia Tschirky: Dieser Moment hat eine grosse Bedeutung für mich. Wenn man während einer Live-Schaltung versucht, dem Publikum möglichst verständlich von einem Ereignis zu erzählen, ordnet man dieses automatisch auch für sich selbst ein. Ich realisierte: Mein Leben teilt sich gerade in ein Vorher und ein Nachher. Das war sicher eine Zäsur in meinem Leben – aber natürlich noch viel mehr im Leben der Ukrainer:innen.
Sie sind im Frühling dieses Jahres zuletzt in die Ukraine gereist. Wie geht es den Menschen vor Ort?
Im Moment ist es sehr schwierig. Viele Bekannte sagen mir, dass sie die jetzige Phase an den Beginn des Krieges erinnere. Viele stellen sich existenzielle Fragen.
Warum gerade jetzt?
Es gibt viele Angriffe und die Unsicherheit ist gross. Die Ukraine hat im Vergleich zu Russland weniger Waffen, sie kann sich nicht gleich stark verteidigen, wie sie angegriffen wird. Waffenlieferungen und finanzielle Hilfspakete aus den USA hatten mehrere Monate Verspätung.
Was bedeutet das?
Konkret, dass sich die ukrainische Regierung gut überlegen muss, welche Städte sie mit Luftabwehrraketen schützen kann. Für alle reicht es nicht. In Städten wie Odessa führt das dazu, dass es nun verhältnismässig viele Treffer russischer Raketen gibt. Das bedeutet mehr Zerstörung und mehr Tote. Gleichzeitig kann Russland mehr Soldaten mobilisieren. Meine ukrainischen Bekannten, vor allem die Männer, stellen sich nun die Frage: Werde auch ich bald eingezogen? Denn gerade ist ein neues Gesetz zur Mobilisierung in Kraft getreten. Männer im wehrfähigen Alter sollen so genauer erfasst werden und können neu bereits ab 25 eingezogen werden.
Was macht die aktuelle Situation mit den Menschen?
Zwei Jahre Krieg sind eine lange Zeit. Bekannte sind froh, wenn wir über etwas anderes als den Krieg sprechen. Die psychische Belastung ist hoch, viele sind müde. Manche erzählen: «Ich schaue in meiner App gar nicht mehr nach, ob es Luftalarm gibt.» Wenn ich das höre, klingeln bei mir die Alarmglocken. Ich mache mir Sorgen um meine Freund:innen. Ich frage immer wieder nach, ob sie sich psychologisch betreuen lassen.
«Ich halte Angst für sehr wichtig»
Warum haben Sie sich dafür entschieden, aus diesem Krieg zu berichten?
Ich war damals Russland-Korrespondentin für SRF. Die Ukraine gehörte bereits vor 2022 zu meinem Berichterstattungsgebiet. Es war nie mein Ziel, Kriegsreporterin zu werden.
Warum nicht?
Das hat auch damit zu tun, dass ich die Fotografin Anja Niedringhaus kannte. Sie wurde 2014 in Afghanistan erschossen, von einem Taliban, der sich als Polizist ausgab. Das geschah in einer Situation, die man von aussen betrachtet als relativ sicher hätte einschätzen können. Anja Niedringhaus hatte mir zuvor erzählt, wie vorsichtig sie sei. Sie war sehr erfahren. Und doch gibt es ein Restrisiko.
Trotzdem sind Sie in der Ukraine geblieben.
Ich konnte nicht an mehreren Orten gleichzeitig sein, in Russland und der Ukraine. Für mich war klar: In dieser Situation steht für mich die Ukraine im Fokus. Ich wollte die Auswirkungen des Krieges zeigen. Sie sind unvorstellbar. Und wirken sich auf die Psyche aus. Deshalb habe ich mir auch bewusst vorgenommen, jeweils nicht zu lange im Land zu bleiben. Ich bin immer wieder aus der Ukraine ausgereist und habe zwei Monate nach Beginn des Angriffskrieges eine Wohnung in der polnischen Hauptstadt Warschau bezogen. Von dort bin ich dann regelmässig weiter in die Ukraine ein- und ausgereist.
Wie war es jeweils, aus der Ukraine rauszukommen?
Das war jedes Mal «fffhhh» (lässt die Arme von oben nach unten fallen). Es zieht sich eine Art unsichtbarer Schutzwall der Sicherheit durch Europa. Auf der einen Seite kann jederzeit eine Rakete einschlagen. Auf der anderen Seite dieses Schutzwalls das Gefühl der Sicherheit. Es ist so ein grundlegend anderes Leben, wenn man nicht davon ausgehen muss, dass etwas vom Himmel fällt und einen tötet. Das Gefühl von Sicherheit hat für mich einen ganz anderen Stellenwert erhalten.
Wie lernt man eigentlich, als Journalistin aus einem Krieg zu berichten?
Grundsätzlich gilt im Journalismus oft: Learning by Doing. Als ich in den Beruf eingestiegen bin, gab es ständig neue Situationen, in denen ich mich zurechtfinden musste. Diese waren aber natürlich nicht vergleichbar mit Krieg. Bevor ich nach Moskau ging, absolvierte ich ein Sicherheitstraining, zusammen mit anderen Korrespondent:innen. Unter der Leitung ehemaliger britischer Soldat:innen stellten wir unterschiedliche Szenarien nach, etwa Entführungen, andere Krisensituationen, erste Hilfe.
Gab es später Situationen, in denen Sie sich an diesen Kurs erinnert haben?
An ein paar Tipps habe ich mich erinnert. Es gab aber auch viele Dinge, auf die ich mich nicht vorbereiten konnte. Der Krieg verändert sich ständig, die Gefahrenlage auch. Über neue Waffentypen wie die iranischen Drohnen, die Russland einzusetzen begann, muss man sich erst mal informieren. Wie schnell fliegen sie, wie viel Zeit habe ich, um zu reagieren? Das lernt man meist im Gleichschritt mit den Leuten rundherum. Aber dann kommen neue Situationen, in denen man erst einmal nicht weiss, wie man sich am besten verhält. Was ich immer vorab gemacht habe: Mich über die Sicherheitslage informieren, bevor ich an einen Ort fahre. Es gibt Warnungen der ukrainischen Armee und des Katastrophenschutzes, zum Beispiel über Minen. Ich bin nicht nur mir selbst, sondern auch meinem Team gegenüber in der Verantwortung.
Man kann sich an Anweisungen halten, sich informieren, aber wie Sie gesagt haben: Ein Restrisiko bleibt. Welches Verhältnis haben Sie zu Angst?
Ich halte Angst für sehr wichtig. Sie ist ein Schutz in Bedrohungssituationen. Wir sind darauf ausgerichtet, uns in Sicherheit zu bringen. Es ist also entscheidend, Angst wahrzunehmen und zuzulassen. Wenn man keine Angst mehr spürt, ist das ein schlechtes Zeichen.
Weshalb?
Es kann bedeuten, dass eine Person eine derartige Traumatisierung erlebt hat, dass sie nichts mehr spüren kann. Das ist gefährlich, weil man droht, sich in Situationen zu begeben, von denen man nicht merkt, wie gefährlich sie sind.
«Mir ist es wichtig, den Leuten so zu begegnen, wie ich erwarten würde, dass man mir begegnet»
Können Sie sich an eine konkrete Situation erinnern, in der Sie Angst hatten?
Ja. In Saporischja, einer Stadt im Südosten der Ukraine. Ich befand mich dort in einem Hotel, 50 Kilometer von der Front entfernt. Bei dieser kleinen Entfernung bleibt wenig Zeit, um Luftalarm auszulösen. In Saporischja kommt es regelmässig vor, dass die Sirenen erst zu hören sind, wenn es draussen bereits geknallt hat. Ich erhielt also die Meldung «Achtung, Luftalarm. Die Stadt wird mit S300 beschossen, von S300». S300 sind eigentlich Luftabwehrraketen aus sowjetischer, jetzt russischer Produktion. Diese Raketen sind sehr ungenau, das heisst: die russische Armee kann ein konkretes Ziel haben, die Raketen können dann aber etwas ganz anderes treffen. Wenn man sich also überlegt, wo es sicher ist, dann bleibt es eine Lotterie.
Was haben Sie gemacht?
Ich wusste: Ich schaffe es nicht mehr in den Luftschutzkeller, ich muss schneller sein. In solchen Situationen gilt die Grundregel: Suche einen Raum mit vier Wänden und, wenn möglich, ohne Fenster. Durch die Druckwelle einer Explosion werden Glassplitter und andere Trümmerteile durch die Luft geschleudert. Dadurch gibt es immer wieder schwere Verletzungen und auch Tote. Badezimmer und Flure bieten sich hier an, denn sie haben oft keine Fenster. Noch bevor ich es aus dem Hotelzimmer auf den Gang schaffte, hörte ich draussen Explosionen. Und dann war da diese Situation mit meiner Hündin Bluma (lacht).
Was war mit ihr?
Bei der Explosion dachte sie, es hätte an der Tür geklopft. Sie hat ja keine Ahnung, dass es Krieg oder einen russischen Präsidenten gibt. Sie mag Menschen und freute sich auf Besuch. Und ich sagte zu mir selbst: Luzia, mach vorwärts, das ist gefährlich, such Schutz! Gleichzeitig, in all der Angst, habe ich so lachen müssen, weil Bluma die Tür anbellte. Absurd. Es war gut, jemanden dabei zu haben, der keine Angst hat. Letztendlich wurde unser Hotel nicht getroffen.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie in Ihrem Job auch zuerst Mensch und dann Journalistin sind. Können Sie das erklären?
Mir ist es wichtig, den Leuten so zu begegnen, wie ich erwarten würde, dass man mir begegnet. Ich kann nicht wirklich nachvollziehen, in was für einer Situation sich die Leute befinden. Trotzdem versuche ich, mir vor Interviews konkret zu überlegen: Wie wäre es für mich, wenn meine Eltern in einer Stadt leben würden, die beschossen wird? Wenn ich hätte im Auto flüchten müssen und im Vorbeifahren andere gesehen hätte, die bei ihrem Fluchtversuch getötet wurden? Für mich ist es eine Frage des Respekts, mich zu fragen: Wie begegne ich den Leuten?
«Manchmal habe ich mich für andere Journalist:innen fremdgeschämt»
Diese Haltung hat dazu geführt, dass Sie auch bewusst auf Interviews mit manchen Personen verzichtet haben.
Ja. Konkret ging es um eine junge Frau. Sie war in der Ausbildung zur Übersetzerin für die ukrainische Armee. Ihr Vater war Oberst in der ukrainischen Armee. Beide hielten sich in derselben Kaserne auf, als diese von russischen Truppen angegriffen wurde. Die Frau hat überlebt, ihr Vater nicht. Später konnte ich mit der Frau sprechen. Sie fürchtet sich seit dem Angriff davor, sich in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Sie hat Angst, nicht lebendig rauszukommen. Für mich war das ein Zeichen, dass sie noch keine Distanz zum Erlebten hatte und ich riskieren würde, sie mit Fragen zu retraumatisieren. Also verzichtete ich auf das Interview. Das machen aber nicht alle Journalist:innen so. Manchmal habe ich mich fremdgeschämt für andere, die journalistisch tätig waren.
Wo zum Beispiel?
Es gab diese Situation in Butscha. Ich habe dort einen Mann besucht. 2022 war er mit seiner Familie auf der Flucht. Dabei tötete die russische Armee seine Frau und seine Kinder. Zwei Jahre nach dem Beginn des Angriffskrieges, am 24. Februar dieses Jahres, konnte ich den Mann in Butscha zu einer Gedenkfeier für die getöteten Zivilist:innen begleiten. Vor Ort sprach mich ein Journalist an. Er wolle die Mutter des Mannes fragen, ob er sie fotografieren könne. Ich übersetze ihm ihre Antwort: Nein, lieber nicht. Später sehe ich, wie er sie trotzdem fotografiert.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe ihn darauf angesprochen. «Habe ich das jetzt richtig gesehen?» Er sagte: «Ich weiss, ich bin ein schlechter Mensch.» Das geht gar nicht! Die Frau hat das Recht auf ihr Bild, und sie hat das Recht zu sagen, dass sie nicht fotografiert werden möchte. Kein:e Journalist:in sollte das Recht dieser Frau verletzen.
Haben Sie die Erfahrung gemacht, als weibliche Journalistin nicht immer ernst genommen zu werden?
Was Russland betrifft, habe ich folgende Erfahrung gemacht: Man ist dort in einer Gesellschaft unterwegs, die noch viel stärker von stereotypen Rollenbildern geprägt ist. Ich wurde oft nicht ernst genommen. Wenn ich jemanden anrief, sagte ich am Telefon: «Ich bin Luzia Tschirky, ich arbeite als Korrespondentin für das Schweizer Fernsehen in Russland.» Die Rückmeldung lautete nicht selten: «Wir würden gerne mit Ihrem Chef sprechen.» Ich antwortete: «Okay, der Chef ruft gleich zurück.» Ich habe aufgelegt, nochmals angerufen und gesagt: «Jetzt ruft der Chef an.» Ich habe mir einen Spass daraus gemacht. Vielleicht, weil ich keine Lust hatte, am Telefon zu erklären: «Ja, ich bin tatsächlich Korrespondentin, auch wenn Sie sich das nicht vorstellen können.»
War es in manchen Momenten auch von Vorteil, eine Frau zu sein?
Ja, zum Beispiel an Demonstrationen. Vor dem Angriffskrieg in Russland war das zumindest so. Da war die Wahrscheinlichkeit, dass man geschlagen wird, kleiner. Denn sie nehmen einen als Frau grundsätzlich nicht so ernst und nehmen einen folglich auch nicht gross als Gefahr wahr. In solchen Situationen konnte ich mir mehr erlauben als ein Mann.
Und in der Ukraine?
Aus diesem Krieg berichten eher Männer als Frauen, zumindest für ausländische Medien. Ich bin sicher, dass es einen Unterschied macht, ob eine Frau oder ein Mann berichtet. Nur schon, weil man als Frau anders unterwegs ist in einem Kriegsgebiet. Man kann sich nicht gleich bewegen wie ein Mann.
Warum nicht?
Unter anderem, weil es bisher keine Schutzwesten für Frauen gibt. Die US-Armee hat nun immerhin erste Prototypen gefertigt, die an den Körper von Frauen angepasst sind. Und weiter: WCs. In einem verminten Gebiet ein WC zu finden, ist ein riesiges Problem.
Wie haben Sie das gemacht?
Ich habe mir antrainiert, neun, zehn, elf Stunden lang ohne Toilette auszukommen. Man will die Strasse wirklich nicht verlassen, wenn man nicht weiss, ob rechts und links Minen liegen. In der Zwischenzeit gibt es eine spezielle Vorrichtung, die für Frauen in der ukrainischen Armee konzipiert wurde; eine Art Trichter. Das ist gerade für Frauen in den Schützengräben wichtig, wo die WC-Situation speziell schwierig ist.
«Es gelingt mir heute besser als früher, Prioritäten zu setzen»
Was haben Sie von den Frauen im Krieg in der Ukraine gelernt?
Dass es wichtig ist, einen Teil seines Lebens für sich zu behalten und dort selbst zu entscheiden. Eine Freundin von mir geht weiterhin zur Maniküre, egal, wie müde sie von einer Nacht mit Luftangriffen ist. Für sie ist es wichtig, sich um sich selbst zu kümmern. Diese Einstellung geht natürlich über die Maniküre hinaus.
Was haben Sie während dieser Zeit über sich selbst gelernt?
In einer Extremsituation bleibt vor Ort oft nur wenig Zeit, um Entscheidungen zu treffen. Das kann das Leben in gewissen Momenten auch einfacher machen. Denn um Entscheidungen lange gegeneinander abzuwägen, fehlt es an Kraft und Ressourcen. Es gelingt mir heute besser als früher, Prioritäten zu setzen. Auf die Frage: «Was ist mir wirklich wichtig?» finde ich schneller eine Antwort. Ich hätte mich vor dem Krieg, während meiner Zeit als Korrespondentin, nicht getraut, ein Kind zu bekommen.
Weshalb?
Die Angst war zu gross, danach nicht mehr in den Job einsteigen zu können, nicht mehr so viel leisten zu können, wie ich es von mir selbst erwarte. Während des Krieges habe ich aber gemerkt, dass es keine richtige und keine falsche Zeit gibt, um diese Entscheidung zu treffen. Immer wieder diskutierte ich mit gleichaltrigen Frauen über dieselben Fragen: «Was tun, wenn plötzlich keine Zeit mehr da ist? Was tun, wenn man selbst das Ende dieses Krieges nicht erlebt? Was tun, wenn der Partner das Ende dieses Krieges nicht mehr erlebt? Und nichts bleibt?»
Wie war es schliesslich, in so einer Situation schwanger zu sein?
Es gibt Berufe, die sich besser mit Schwangerschaft und dem Elternsein verbinden lassen als die Arbeit einer Korrespondentin. Unabhängig davon, ob im Kriegsgebiet oder in einem sicheren Land. Die Arbeitszeiten sind unregelmässig, die Arbeit zieht sich oft lange in den Abend und in die Wochenenden hinein. In einem Kriegsgebiet ist alles noch komplizierter, aufgrund der ständigen Bedrohungslage. Ich habe also während meiner Schwangerschaft versucht, zusätzliche Sicherheitsmassnahmen zu treffen. Irgendwann musste ich akzeptieren, dass sich meine Erwartungen an mich selbst und meine Vorstellungen nicht mit der Realität decken.
Sie haben während Reportagereisen in der Ukraine mit Ihrem Kind im Bauch gesprochen. Was haben Sie ihm gesagt?
Ich habe oft mit meiner Tochter gesprochen. Ich habe ihr erzählt, wo wir gerade unterwegs sind oder wen wir getroffen haben. Manchmal habe ich mich beim Kind entschuldigt, etwa, wenn es unterwegs auf Drehs keine richtigen sanitären Anlagen gab.
«Für mich ist es keine Selbstverständlichkeit, dass ich in einem Spital in Ruhe gebären konnte»
Hat sich Ihr Blick auf den Krieg verändert, seit Sie Mutter sind?
Der Krieg hat meinen Blick geschärft für meine eigenen Privilegien. Durch meine Erfahrungen und Gespräche mit ukrainischen Frauen ist es für mich keine Selbstverständlichkeit, dass meine Tochter in Frieden und in Sicherheit leben kann. Oder dass ich in einem Spital in Ruhe gebären konnte und mir keine Sorgen machen musste, eine gegnerische Armee könnte das Spital mit Raketen oder Bomben unter Beschuss nehmen. Früher hätte ich diese Sicherheit für selbstverständlich gehalten, heute bin ich für die Sicherheit in der Schweiz sehr dankbar.
Aktuell leben Sie in der Schweiz. Wie schwierig ist es, aus einem Kriegsgebiet in die Normalität zurückzukehren?
Während der ersten Wochen und Monaten des Angriffskrieges fiel es mir manchmal schwer, in der Realität ausserhalb des Kriegsgebietes anzukommen. Es passierte öfters bei Spaziergängen mit meinem Hund, dass ich dachte: «Komm runter von der Wiese! Wir wissen nicht, ob das Gebiet hier von Minen geräumt wurde!» Bis mir einfiel, dass ich nicht mehr in der Ukraine bin und ich mir keine Gedanken um Minen machen muss.
Im Buch fragen Sie sich, wann man abstumpfe, wo man all die Bilder abspeichere. Wo haben Sie das Erlebte für sich verstaut?
Um das Erlebte für mich an einem Ort platzieren zu können, habe ich das Buch geschrieben. Dabei ging es mir auch darum, mit meiner Zeit in Russland abschliessen zu können. Unter der aktuellen russischen Regierung werde ich auf absehbare Zeit voraussichtlich keine Akkreditierung mehr erhalten. Meine Abreise aus Russland verlief nicht wie geplant. Ich wohnte damals zusammen mit meinem Mann in Moskau. Als ich Mitte Februar 2022 unsere Wohnung verlassen habe, hatte ich vor, nach ein paar Tagen aus der Ukraine zurückzukehren. Die Wohnung habe ich nie wieder betreten. Mein Mann musste das Land notgedrungen verlassen, ich habe keine neue Akkreditierung erhalten. Die Erlebnisse in der Ukraine werden mich voraussichtlich ein ganzes Leben lang begleiten. Mit dem Buch konnte ich eine gewisse Distanz schaffen, die für mich langfristig bestimmt gut ist.
Sie schreiben darüber, wie Sie sich oft nicht erlaubt haben, zu weinen. Wie ist das heute?
Meine Entscheidung, dieses Buch zu schreiben und dafür meinen Korrespondentinnenposten in der Ukraine abzugeben, war die schwierigste Entscheidung, die ich je getroffen habe. Ich habe bei meiner letzten Reise aus der Ukraine auf dem Nachhauseweg geweint. Aber ich habe stets versucht, dies nicht in Anwesenheit von Ukrainer:innen zu tun. Das erlaube ich mir weiterhin nicht. Für mich war das Gefühl, die Menschen im Stich zu lassen, um ein Buch schreiben zu können, erdrückend. Ich halte es für sehr wichtig, Gefühle zulassen zu können, dabei aber auch Rücksicht zu nehmen und sich selbst in einem grösseren Kontext zu sehen.
Was werden Sie in Zukunft machen?
Zurzeit befinde ich mich in Gesprächen mit dem SRF, wie wir von nun an zusammenarbeiten könnten. Ich bin grundsätzlich ein optimistischer Mensch. Ich bin sicher, dass ich auch in Zukunft einer Tätigkeit nachgehen werde, die mich erfüllt und in welcher ich einen Sinn für mich und für andere sehe.
Wo finden Sie Hoffnung?
In erster Linie in mir selbst – im aussen nach Hoffnung zu suchen, scheint mir wenig zielführend. Eine bessere Zukunft ist nur möglich, wenn wir davon überzeugt sind, dass dies möglich ist.
Luzia Tschirky wurde 1990 in Sargans geboren. 2019 wurde sie als erste Frau Korrespondentin für Russland und die ehemalige UdSSR. Von da an lebte sie bis 2022 in Moskau und berichtete bereits vor Beginn des russischen Angriffskrieges aus der Ukraine. 2021 wurde sie zur «Schweizer Journalistin des Jahres», 2022 zur «Reporterin des Jahres» gewählt.
In ihrem Buch «Live aus der Ukraine» (Echtzeit-Verlag; 32 Franken) erzählt sie, wie sie aus dem Krieg in der Ukraine berichtet hat, aber auch aus Russland und Belarus. Sie schreibt aus einer sehr persönlichen Perspektive über eigene Erlebnisse und über viele Menschen, denen sie begegnet ist. Diese Begegnungen verwebt sie mit Fakten und ordnet sie ein in einen politischen und historischen Kontext. Ein Buch, das einen innehalten und rekapitulieren lässt, was seit 2022, aber auch in den Jahren zuvor in Russland und der Ukraine geschehen ist.