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Soziologin Franziska Schutzbach: «Wir können nicht einfach naiv Schwesternschaft ausrufen»

Zeitgeist

Soziologin Franziska Schutzbach: «Wir können nicht einfach naiv Schwesternschaft ausrufen»

Die Emanzipation der Frauen ist immer dann vorangekommen, wenn sich Frauen miteinander verbündet haben. In ihrem neuen Buch «Revolution der Verbundenheit» plädiert die Soziologin Franziska Schutzbach dafür, sich erneut auf die weibliche Solidarität zu besinnen. Sie hat die Kraft, die Gesellschaft zu verändern.

annabelle: Franziska Schutzbach, Sie plädieren in Ihrem neuen Buch für eine Revolution der Verbundenheit. Was war der Auslöser dafür?
Franziska Schutzbach: Im letzten Buch schreibe ich, dass das vermutlich wichtigste Rezept gegen die Erschöpfung von Frauen die Verbündung unter Frauen ist. Damals wusste ich nicht, dass dieser Satz bereits den Grundstein für mein neues Buch legen würde. Nun verspürte ich aber den Wunsch, auch das Denken der Möglichkeiten, der feministischen Utopie, zu ergründen. Kurz: Ich habe ein Buch geschrieben, das mir selbst Mut macht, das unsere Seelen ein wenig wärmt. Denn ich glaube, wir brauchen hoffnungsvolle Perspektiven derzeit mehr denn je.

Von welcher feministischen Utopie ist hier die Rede?
Ich will aufzeigen, in welchen Enklaven der Gesellschaft Frauen trotz Spaltung Verbundenheit, Freiheit und Solidarität leben. Für mich ist ein feministisches Utopie-Verständnis also keine radikale Absage an das Gegenwärtige. Menschen, die beispielsweise Sorgearbeit leisten, handeln längst solidarisch. Die Verbundenheit ist da, sie existiert schon, wir sind ihrer bereits fähig, trotz allem. Ausserdem geht es mir darum, dass die Geschichte der Frauen nicht nur als Defizitgeschichte erzählt wird – sondern als Geschichte der Möglichkeiten, der Freiheit, ausserhalb der Norm zu leben. Als Geschichte darüber, wie die Lücken des Systems für Widerstände und eigene Lebensweisen genutzt werden: Frauen haben schon immer rebelliert, um sich eigene Räume zu schaffen.

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«Unsere Gesellschaft spaltet Frauen, um die patriarchale Herrschaft zu stabilisieren»

Sie erwähnen auch den Begriff «Spaltung». Was genau verstehen Sie darunter?
Zum einen die ideologischen Spaltungen innerhalb feministischer Bewegungen. Da gibt es grosse Differenzen, was nichts Neues ist. Ich spreche aber auch über die Spaltungen in der Gesellschaft, vom Rechtsrutsch bis zu religiösen Radikalisierungen. Besonders im Blick habe ich jedoch die Grundlogik unserer Gesellschaft, die Frauen spaltet, um die patriarchale Herrschaft zu stabilisieren. So werden Frauen etwa in gute und schlechte Mütter, in schöne und hässliche, in fleissige und faule, in patriarchatskonforme Frauen und Kampfemanzen eingeteilt. Dies ist die Basis der misogynen Ordnung und dient dazu, zu verhindern, dass Frauen sich verbünden und Männern Macht und Ressourcen streitig machen.

Davon rührt wohl auch das geflügelte Wort «der schlimmste Feind einer Frau ist die Frau».
Ja genau. Auch die Erzählung von der «Stutenbissigkeit» und des «Zickenkriegs» gehören zu dieser Logik. Umso faszinierender ist es, dass sich Frauen trotz dieser schlechten Voraussetzungen so oft über Differenzen hinweg zusammengerauft und verbunden haben. Sie beweisen, dass in der Überwindung von Spaltungen grosse emanzipatorische Chancen liegen.

Können Sie Beispiele hierfür nennen?
Spannend ist etwa die Frauenrechtsbewegung im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert. Damals haben sich Frauen durch WGs, Liebesbeziehungen und Freundinnennetzwerke erstmals von Männern unabhängige Leben ermöglicht – ökonomisch, aber auch emotional. Dank dieser Frauenbeziehungsstrukturen konnte dann eine politische Bewegung entstehen. Ein anderes Beispiel ist die Frauenhausbewegung in den Siebzigerjahren. Weil der Staat nicht genug gegen häusliche Gewalt getan hat, haben Frauen selbst Frauenhäuser gegründet. Ein aktuelles Beispiel betrifft das Thema Abtreibung: In Ländern, in denen Abtreibungen verboten oder schwer zugänglich sind, haben sich heimliche Unterstützungsnetzwerke gebildet, in denen Frauen anderen Frauen helfen, einen Abbruch zu bekommen. In Berlin gibt es etwa ein Kollektiv, das Frauen aus Polen hilft, für Abtreibungen über die Grenze zu kommen, den Eingriff finanziert und die Betroffenen begleitet.

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«Wenn wir mehr Frauengeschichten erzählen, haben wir mehr Möglichkeiten, uns zu identifizieren»

Sie sagen, die Überwindung von Spaltung könne auch im Kleinen geschehen. Wie?
Indem wir versuchen, die Geschichte unserer Grossmutter kennenzulernen, und damit einen anderen Massstab dafür entwickeln, was in Familien eine wichtige Geschichte ist. Oder indem ich mal nachfrage, warum meine Tante so geworden ist, wie sie ist und warum sie eine völlig andere Sicht auf die Dinge hat. Wenn wir mehr Frauengeschichten erzählen, haben wir mehr Möglichkeiten, uns zu identifizieren.

In diesem Zusammenhang schreiben Sie von einer «Amnesie der weiblichen Genealogie»: Frauen würden zu wenig wahrgenommen, auch von Frauen selbst, weil die Bedeutung von Männern, Söhnen, Vätern, Brüdern in Familien und auch in der gesamten Gesellschaft höher bewertet werde. Wie lässt sich dieser Amnesie entgegenwirken?
Diese Amnesie fängt schon nur mit der Weitergabe des Namens an. In der Schweiz nehmen nur vier Prozent der Paare bei der Eheschliessung den Namen der Frau an. 70 Prozent übernehmen immer noch den Namen des Mannes. 26 Prozent der Paare behalten ihren eigenen Namen. Bei Gesprächen kommt oft heraus, dass es sich Männer kaum vorstellen können, den Namen der Frau anzunehmen. Und die Frauen fügen sich dann meistens. Analog dazu vergessen wir die Geschichten von Frauen in Familien. Ich habe mich für mein neues Buch auf die Suche nach Frauenbezügen in meiner eigenen Familie gemacht und bemerkt, wie sehr es meinen Blick auf meine Familie verändert, wenn ich sie aus der Frauenperspektive recherchiere und erzähle. Plötzlich fühle ich mich zugehörig zu einer Geschichte, von der ich vorher abgetrennt war.

Das soll nun aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Verwandtschaft auch destruktive Frauenfiguren gab und gibt.
Natürlich nicht, es gibt Frauen, die verletzt, Gewalt ausgeübt oder Kinder vernachlässigt haben. Aber auch die Auseinandersetzung mit diesen schwierigen Frauen halte ich für emanzipatorisch, weil sie oft auch aus bestimmten Gründen schwierig waren. Ein Verständnis für das Scheitern der Frauen in meiner Familie zu entwickeln, kann mir helfen, meine eigene Biografie und meine eigenen Kämpfe besser zu verstehen.

Vielen Frauen fällt es schwer, sich mit der eigenen Mutter zu identifizieren, sie grenzen sich eher von ihr ab. Das liege unter anderem an der gesellschaftlichen Abwertung der Mutterrolle. «Auch die moderne Mutter ist als Vorbild für Töchter in der Regel mittelmässig attraktiv», schreiben Sie. Wie durchbrechen wir diesen Kreis?
Ich glaube, dass das Sprechen über die Ambivalenz der Frauenrolle in der Gesellschaft schon sehr viel bewirken würde. Die heutigen modernen Mütter sind für ihre Töchter auch deshalb abschreckend, weil sie durch die extremen Mehrfachbelastungen so erschöpft sind. Sie geben oft nicht die traumhaften Vorbilder ab, wie man sie im Zuge der Emanzipationsgeschichte erwarten würde. Andererseits vermitteln wir den Töchtern ein realistischeres Bild: So ist es eben und manchmal ist es richtig scheisse! Ich finde es gut, das mit meiner Tochter besprechen zu können.

Von unseren Müttern hörten wir das eher nicht.
Frühere Mütter standen noch stärker unter dem Druck, ein idealisiertes Bild von Familie und Ehe zu vermitteln. Sie mussten sich selbst und anderen erzählen, dass Familie immer was Schönes ist. Die Überforderung der heutigen Frauen entlarvt dieses hetero-patriarchale Kernfamilien-Projekt in Zusammenhang mit den Erfordernissen am Arbeitsmarkt als Ideal, das nicht erreichbar ist – und nie erreichbar war.

Trotzdem hält es sich hartnäckig.
Gerade deshalb ist eine ehrliche Auseinandersetzung zwischen Müttern und Töchtern das, was ich mir wünsche. Ein ehrliches Sprechen darüber, wie es eigentlich ist, Frau, Mutter, erwerbstätig zu sein und so vielen sich widersprechenden Anforderungen gleichzeitig gerecht werden zu müssen.

«Das Kernfamilien-Projekt ist nicht erreichbar – und war nie erreichbar»

Bereuen Sie es, Mutter geworden zu sein?
Nein, aber ich stelle mir manchmal die Frage, ob ich mich mit meinem heutigen Erfahrungswissen nochmals dafür entscheiden würde, Mutter zu werden. Und ich habe nicht wirklich eine Antwort darauf. Weil ich die Liebe zu meinen Kindern als etwas unglaublich Bereicherndes empfinde. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es ohne sie wäre. Aber wenn ich mir den Preis vor Augen führe, den ich auch bezahlt habe, den Verschleiss, dann denke ich manchmal, ich wäre gern nicht so verschlissen worden. Für mich ist Mutterschaft immer wieder richtig schwer, es gibt zum Muttersein verschiedene Stimmen in mir.

Sich mit Frauen zu verbinden bedeute, die eigene Unzulänglichkeit zu akzeptieren – auch die der anderen, schreiben Sie. Warum braucht es diesen Umweg?
Weil viele Frauen dauernd das Gefühl haben, nicht zu genügen. Dieser Stress, nicht gut, schön, sportlich oder selbstbewusst genug zu sein, ist ein Hindernis für tragende Beziehungen unter Frauen – überhaupt für tragende Beziehungen. Wer sich ständig defizitär fühlt, geht anderen aus dem Weg. In dieser Gesellschaft der permanenten gegenseitigen Bewertung und Selbstwertung müssen wir daran arbeiten, einen wohlwollenden Blick auf uns selbst und auf andere zu bekommen. Und uns einander auch als Unzulängliche anvertrauen. Das ist nicht einfach. Es gibt Studien, die zeigen, dass Frauen von anderen Frauen eine signifikant schlechtere Meinung haben als Männer von anderen Männern. Sich dieser Bewertungslogik bewusst zu werden und sie zu verlernen, halte ich für wichtig, um erfüllende Frauenbeziehungen zu leben.

Beziehungen unter Frauen seien häufig stark nutzenorientiert. Was meinen Sie damit?
Mit der zunehmenden Erwerbstätigkeit von Frauen hat ihre Zuständigkeit für die Care-Arbeit nicht abgenommen. Das bedeutet, dass sie wiederum auf andere Frauen angewiesen sind, um den Alltag zu bewältigen – das können bezahlte Care-Arbeiterinnen sein, aber auch Mutter, Schwiegermutter oder Freundinnen. Das führt dazu, dass oft sehr nutzenorientierte Beziehungen entstehen, die wiederum rückverpflichten und somit auch retraditionalisieren. Denn sie fordern, dass auch ich etwas gebe: Mein Kind kann zum Mittagessen zu meiner Freundin, dann muss aber auch ich einen Mittagstisch anbieten. Das heisst nicht, dass dies keine wertvollen schönen Beziehungen sein können, aber es herrscht trotzdem eine Form von Nützlichkeitsdruck.

In der Berufswelt ist es nicht anders.
Überhaupt nicht, da wird gerade von feministischer Seite dazu aufgerufen, sich zu vernetzen. Dadurch überlegen wir uns ständig, ob uns eine Beziehung für die Karriere nützt oder nicht. In meinem Buch frage ich, wie wir Beziehungen leben können, die nicht nutzenorientiert sind, sondern erfüllend wirken durch gemeinsame Interessen oder die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Ohne meine Freundinnen wäre ich nicht die Person, die ich heute bin.

Für die Pflege von Freundschaften braucht es jedoch Zeit und Raum. Das ist neben der Erwerbs- und Care-Arbeit doch kaum zu schaffen.
Zugegeben, wir leben in einem zeitfressenden System und müssen immer mehr lohnarbeiten, um über die Runden zu kommen. Trotzdem gibt es Handlungsspielräume, davon bin ich überzeugt. Müssen wir denn zum Beispiel wirklich das ganze Wochenende als Familie verbringen? Oder jeden Abend alle zusammen essen? Oder reicht es, wenn wir es nur zweimal pro Woche tun und nur an einem Tag des Wochenendes etwas gemeinsam unternehmen?

Das nimmt auch Druck raus.
Auf diese Weise entsteht mehr Freiraum für andere Beziehungen ausserhalb der Familie, der Partnerschaft und des Jobs. Ich denke, es ist gerade für heterosexuelle Paarbeziehungen wichtig, dass beide vielfältige Freundschaften pflegen. Es war für mich immer entscheidend, dass mein Partner sich nicht darauf ausruht, dass er alle emotionalen Belange in unserer Paarbeziehung erfüllt bekommt, sondern emotional auch in andere Beziehungen involviert ist. Das generiert viel Raum zwischen uns, und paradoxerweise ist es gerade dieser Raum, der ein hohes Mass an Intimität und Nähe ermöglicht.

Da haben Sie nun eben ein Rezept für eine gelingende Paarbeziehung abgegeben.
Ich kann da nur von mir reden. Für mich war immer klar: Nur, wenn es nicht zu viel, zu eng, zu nahe ist, kann die Zeit, die wir zusammen verbringen, auch eine gute sein. Sie kann gut sein, weil ich weiss, dass ich wieder Zeit für mich und für andere – freundschaftliche – Beziehungen ausserhalb der Familie habe.

Mit anderen Worten: Wenn man sich entbindet, kann man sich wieder verbinden. Das zu formulieren und dann auch zu leben, ist in sich eine kleine Revolution.
Genau, die Philosophin Simone Weil sagte: Es geht auch um die Kunst des Abstands, darum, den «Abstand zu verehren zwischen einem selbst und dem, was man liebt». Ich glaube, wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass es nur eine einzige wichtige Liebesbeziehung in unserem Leben gibt, der wir alles andere unterordnen. Wir können den Liebesbegriff auf Freundschaften erweitern, wir können sie aufwerten und auf dieselbe Ebene stellen wie die Paarbeziehung. Auf diese Weise bekommt man ein reichhaltiges Beziehungsleben. Das macht uns nicht nur freier, sondern ist gerade für Frauen auch emanzipatorisch wichtig, weil sie dann weniger Gefahr laufen, in ein Abhängigkeitsverhältnis zu geraten.

Sie nehmen in dieser Hinsicht aber auch die Männer in die Pflicht.
Natürlich. Männern obliegt es genauso, die Verantwortung dafür zu übernehmen, auch ausserhalb der Paarbeziehung emotional befriedigende Beziehungen zu haben und nicht einfach nur bei ihren Frauen Nähe und Fürsorge zu suchen.

«Wir tendieren dazu, grosse Aufmerksamkeit mit tatsächlicher Veränderung zu verwechseln»

Die Arbeit an einer echten Verbundenheit zwischen Frauen erfordert auch Trauerarbeit für die Gräuel, die wir einander angetan haben und immer noch antun, schreiben Sie. Wie ist das einzuordnen?
Trauerarbeit bedeutet, dass wir nicht einfach naiv eine harmonische Schwesternschaft ausrufen können, sondern immer auch das Scheitern von Solidarität in Vergangenheit und Gegenwart durcharbeiten müssen. Unter Feministinnen geschehen Verrat und Diskriminierung. Manche Frauenrechtlerinnen haben mit dem Faschismus kooperiert, im Feminismus gibt es eine Geschichte des Rassismus und des Antisemitismus, Frauen waren und sind auch Täterinnen. Marginalisiert sein bedeutet nicht, dass man nicht wiederum andere marginalisiert. Deshalb müssen wir uns immer kritisch fragen: Was für eine Perspektive habe ich, aus welcher Position spreche und denke ich? Gehe ich nur von mir aus, oder versuche ich auch, andere Lebensrealitäten zu berücksichtigen?

Feministischer Aktivismus findet heute vermehrt in den Sozialen Medien statt. Sie sind der Ansicht, Netzaktivismus schade feministischen Anliegen aber eher, weil er vorgaukelt, der Feminismus ist progressiver, als er eigentlich ist.
Wir tendieren dazu, grosse Aufmerksamkeit mit tatsächlicher Veränderung zu verwechseln. Echte Veränderung erfordert viel Lobbyarbeit, den Aufbau von Strukturen und tragenden feministischen Organisationen, die über Jahre hinweg auch hinter den Kulissen dranbleiben. Die sich zum Beispiel dafür einsetzen, dass nach #metoo in Unternehmen und Institutionen tatsächlich Stellen eingerichtet werden, an die man sich wenden kann, wenn man sexuell belästigt wird. Der digitale Aktivismus hingegen beschädigt ein Stück weit unsere Energie und Fähigkeit, tragende Bewegungsstrukturen aufzubauen – auch über Meinungsverschiedenheiten hinweg. Netzaktivismus hat viel Gutes bewegt. Aber Aufmerksamkeit für Anliegen von Minderheiten zu generieren, ist eben nur eine Seite. Wir müssen uns auch darauf fokussieren, jenseits des Internets zu agieren.

Sie propagieren Schwesterlichkeit als Idee der Verbundenheit unter Frauen. Das Konzept von Schwesterlichkeit ist aber nicht unumstritten.
Da will ich kurz ausholen: Es muss uns klar sein, dass Frauen immer dann Dinge erkämpft und vorangebracht haben, wenn sie sich zusammengeschlossen haben. Die Verbündung ist eine Essenz der feministischen Erfolge – allerdings auch der Streit. Wir kommen der Wahrheit nur streitend näher. Der Punkt ist, dass das Ausrufen der schwesterlichen Einheit unterschiedliche Unterdrückungserfahrungen, Privilegien und Machtausübung unter Frauen unsichtbar macht. Etwa die spezifischen Erfahrungen von Women of Color, Frauen mit Behinderung, Arbeiterfrauen oder trans Frauen.

Wie ändern wir das?
Die universalisierende Geste von «Sisterhood» funktioniert nur, wenn es gelingt, für die Freiheit aller Frauen zu kämpfen – nicht nur für die eigene. Wir stehen vor der Herausforderung, einerseits gemeinsam gegen patriarchale Gewalt vorzugehen und universelle Ansätze zu verfolgen, während wir andererseits die spezifischen Diskriminierungserfahrungen einzelner Gruppen erkennen und gezielt bekämpfen müssen.

Dennoch: Schwesterlichkeit ist ein schöner Begriff, drückt er doch die tiefe Verbundenheit aus, die Frauen zueinander haben, weil sie Frauen sind.
Ich würde eher sagen: Wir sind tatsächlich sehr unterschiedlich von patriarchaler Gewalt betroffen. Andererseits sollten wir uns in der Diagnose von Differenzen nicht verlieren, das politische Konzept der Schwesternschaft ist trotz berechtigter Kritik daran wichtig. Es bringt zum Ausdruck, dass sich patriarchale Macht und Gewalt, Ausbeutung von Care-Arbeit, sexualisierte und häusliche Gewalt gegen Frauen als Gruppe, gegen das Weibliche generell richtet.

Sie verwenden Schwesterlichkeit auch als eine Metapher für die Vision einer anderen Gesellschaft. Wie sähe diese Gesellschaft aus?
Es geht mir nicht um den grossen, alternativen Entwurf einer gerechteren Gesellschaft, sondern darum, dass wir uns Momente der Verbundenheit erobern. Was für mich zählt, ist Feministin zu sein und jeden Tag darauf hinzuarbeiten, emanzipatorische Freiheiten zu erringen in den Lücken, die sich uns bieten. Ich weiss nicht, ob aus all diesen kleinen Bestrebungen je eine grosse befreite Gesellschaft wird. Aber kleine Schritte kann ich sofort tun: Ich kann mich mit meiner Mutter verbünden, mit meiner Arbeitskollegin, mit meiner Freundin – und kann etwas Solidarisches oder Erfüllendes verwirklichen in meinem Alltag.

«Revolution der Verbundenheit», Droemer Knaur, 320 Seiten. Ihr neues Buch stellt Franziska Schutzbach unter anderem am 8. Oktober in Zürich, am 31. Oktober in Basel, am 5. November in Luzern und am 28. November in Bern vor – hier findet ihr die Einzelheiten zum Buch und zu allen Veranstaltungen. 

Franziska Schutzbach ist Geschlechterforscherin, Soziologin und Aktivistin. Im Jahr 2017 initiierte sie den #SchweizerAufschrei, seitdem ist sie eine der renommiertesten feministischen Stimmen im deutschsprachigen Raum. Franziska Schutzbach lebt in Basel.

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