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«Idol zu sein, macht bescheiden»

«Idol zu sein, macht bescheiden»

  • Interview: Silvia Binggeli; Foto: Thomas Laisné / Rolex

Sie ist die erfolgreichste Skirennfahrerin aller Zeiten. In der Begegnung mit Chefredaktorin Silvia Binggeli verrät Lindsey Vonn, warum sie nicht gern verliert, wann Frauen schwierig sind und warum es sie manchmal stresst, ein Idol zu sein.

Lindsey Vonn (33) will vor allem eins: siegen! Rekorde begleiten sie durchs Leben wie andere Leute Bücher. Die Amerikanerin, die mit zwei das erste Mal auf den Ski stand, gewinnt im Akkord. Ihr Eintrag bei Wikipedia liest sich wie ein Thriller: Aufstieg zur Weltspitze, hart geführte Duelle, Krisen, schlimme Verletzungen, Kampf zurück an die Spitze – alles inklusive. Sie wurde vier Mal Gesamtweltcupsiegerin, gewann Olympiagold, Olympiabronze (zuletzt in der Abfahrt in Pyeongchang), Weltmeisterschaftsgold, Weltmeisterschaftssilber, Weltmeisterschaftsbronze. 81 Weltcupsiege zählt sie insgesamt. 2015 hat sie den Titel «erfolgreichste Skirennfahrerin aller Zeiten» von der Österreicherin Annemarie Moser-Pröll übernommen – nach 35 Jahren. Nur Ingemar Stenmark, ein Mann, zählt noch fünf Siege mehr als sie.

Dazu sieht Lindsey Vonn verdammt gut aus; eine blonde Schönheit, die ihren durchtrainierten Körper gerne mit Décolleté und Minis inszeniert. Freunde meinen zu ihr, sie solle nach ihrer Karriere im Skiweltcup vor die Filmkamera. Sie entgegnet: «Dann aber bitte Actionfilme.» Auf den Fotos für das Magazin «Sports Illustrated» trug sie zum lediglich aufgemalten Badeanzug das Strahlen eines Mädchens, das morgen einwilligen würde, in eine Holzfällerhütte zu ziehen. Sie hat eine Ehe hinter sich und eine Beziehung mit dem Golfer Tiger Woods – mit dem sie zusammenkam, nachdem bereits bekannt war, dass er sexsüchtig und ein notorischer Fremdgänger sein soll.

Das Treffen mit Lindsey Vonn findet abseits der Skipisten statt, in einem Hotel in der Nähe von St. Moritz. Draussen begegnet der Besucherin als Erstes Vonns Hund Lucy, an der Leine eines Freundes. Lucy ist bekannt aus Vonns Instagram-Posts (1.4 Millionen Follower). Lindsey Vonn, am selben Tag von weit her angeflogen, bringt zum Interview einen leichten Jetlag mit, trägt für den Nachmittag stark geschminkte Augen, eine Wollmütze auf dem blonden Schopf, einen hochgeschlossenen Sportrolli, verströmt eine Aura von Leichtigkeit und Entschlossenheit und signalisiert – absolut keinen Stress.

annabelle: Lindsey Vonn, Sie erzählten dem amerikanischen Talkmaster Jimmy Kimmel, dass Sie Musik hören, wenn Sie die Piste runterdonnern, stimmt das?
Lindsey Vonn: Nur noch vor dem Start. Am Anfang meiner Karriere habe ich das ein paar Mal während der Rennen gemacht. Aber es lenkte mich zu sehr ab. Wenn du mit hundert Sachen den Hügel runterrast, solltest du konzentriert sein. (Sie lacht ein erstes Mal kernig.)

Haben Sie während eines Rennens Anweisungen des Trainers im Ohr?
Nein. So schnell könnte er wohl gar nicht sprechen. Es gibt jetzt eine Technologie, bei der du ein Piepen hörst, wenn du schneller oder langsamer wirst. Aber das nervt nur. Dass du langsamer wirst, merkst du ja auch ohne Piepen.

Was treibt Sie nach dreissig Jahren Skifahren immer wieder auf die Piste?
Ich kann so schnell fahren, wie ich will, habe die Kontrolle. Ich liebe den Thrill, die Faszination, das Adrenalin. Ich liebe es, mich mit anderen zu messen. Und egal wie viele Leute zuschauen, da oben geht es nur um mich und den Berg. Es ist so schön da oben.

Sie präsentieren sich gerne in der Öffentlichkeit – auch vor einem Rennen?
Ich habe gelernt, mich zu entspannen, nicht darüber nachzudenken, was ich tue. Diese Ruhe kommt von der Erfahrung. Wissen Sie: Ich geniesse das riesige Privileg, tun zu können, was ich liebe. Das wird mir je länger, desto bewusster. Deshalb sauge ich alles auf, um mich für immer daran zu erinnern.

Da ist aber auch der Druck, gewinnen zu müssen.
Ja. In der Theorie tönt das mit dem Ruhe-Bewahren super, nicht wahr?

Kommt Ihnen manchmal Wut in die Quere?
Wut ist gut für mich. Wut und Enttäuschung. Vor vier Jahren musste ich wegen meiner Knieverletzung zwei Mal operiert werden, ich musste meine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Sotschi absagen. Die Frustration darüber habe ich aufgespart, um sie später zu nutzen, wenn ich sie dringend brauchte.

Tönt ziemlich hart.
Skifahren hilft mir, diese negativen Gefühle aus meinem System zu schaffen. Ich frage mich, was ich mal mache, wenn ich nicht mehr Ski fahre.

Bereitet Ihnen dieser Gedanke Angst?
Es wird wahrscheinlich nicht einfach, den regelmässigen Adrenalinausstoss zu ersetzen. Ich habe keine Ahnung, womit. Aber ich werde es herausfinden, das tue ich immer. Sicherlich werde ich mich dann erst mal full-time um meine Foundation kümmern – ich unterstütze Mädchen auf der ganzen Welt. Ich will ihnen ihre Möglichkeiten aufzeigen.

Ein Idol zu sein – ist das gut oder beängstigend?
Es macht dich bescheiden. Ich kann mich erinnern, wie es war, als ich früher andere bewunderte, zum Beispiel die Skirennfahrerin Picabo Street. Als ich frisch in den Weltcup kam, mochte sie mich gar nicht. Dann wurden wir Kolleginnen und ich habe viel von ihr gelernt. Roger Federer bewundere ich immer noch sehr, obwohl ich schon Mitte dreissig bin. Selber ein Vorbild zu sein, jemand, zu dem die Leute aufschauen, vor allem Kinder, ist ein Privileg. Aber es ist ein Big Job.

Inwiefern?
Ich will nie der Mensch sein, der negativ auf andere wirkt. Als ich neun war, traf ich eine damals bekannte erfolgreiche Skirennfahrerin. Ich begegnete ihr auf dem Weg zur Toilette und fragte sie nach einem Autogramm. Sie war sehr unfreundlich, richtig gemein. Dieses Erlebnis, diese zehn Sekunden, habe ich mein Leben lang nicht vergessen. Heute warten im Ziel jeweils Hunderte von Kindern auf ein Autogramm von mir. Ich kann das unmöglich bewältigen. Das versuche ich zu erklären. Und ich denke, solange ich freundlich bleibe, ist es okay. Ich kann nicht alle glücklich machen, ich muss eine Balance finden.

Sie machen sich viele Gedanken darüber.
Ja, ich hasse es, zu enttäuschen. Das war immer eine grosse Herausforderung für mich. Wenn ich mich auf ein Rennen vorbereiten sollte, aber draussen noch Statements abgebe, mir die Hände frieren, die Knie auch, ich weiss, ich müsste eigentlich Nein sagen, aber dann schaue ich in ein weiteres lächelndes Gesicht und … Auf das Interview mit Lindsey Vonn mussten wir über ein Jahr warten. Eingefädelt hat die Begegnung schliesslich Rolex, deren Botschafterin Lindsey Vonn ist. Sie ist eine der Protagonistinnen eines Videoprojektes der Schweizer Uhrenmanufaktur, in dem international erfolgreiche Frauen ihre einschneidendsten Lebensmomente teilen. Vonn erinnert sich im Video an ihren schlimmen Sturz 2010, bei dem sie sich am Knie so schwer verletzte, dass sie im Helikopter weggeflogen werden musste, an die beklemmende Angst, die sie damals empfand, vielleicht nie wieder Ski fahren zu können.

Was war die bisher grösste Herausforderung für Sie?
Kürzlich ist mein Grossvater gestorben. Das ist das Härteste, was ich bis jetzt bewältigen musste, viel härter als meine vielen Verletzungen. In derselben Woche habe ich mich von meinem Freund getrennt. Ich wollte im Zimmer bleiben und den ganzen Tag weinen. Aber ich musste raus und Interviews geben. Es ist hart, wenn du deine Gefühle zur Seite schieben und jemandem in die Augen sehen musst, obwohl du innerlich kämpfst.

Was ging Ihnen durch den Kopf?
Am Ende des Tages ist das Brutalste die Einsicht, dass es niemandem ausser mir wirklich etwas ausmacht, wenn es mir schlecht geht. Ich bin dann immer noch ein Champion, eine professionelle Skifahrerin – diese Tatsache muss ich akzeptieren.

Was machen Sie in solchen Momenten?
Mein Vater hat da eine fiese Taktik: Wenn ich ihm sage, o mein Gott, ich kann grad nicht, es ist zu viel, dann kommentiert er: Was würde Roger tun? Und ich entgegne dann: «Damn, Dad!» Gegen Roger Federer gibt es für mich kein Argument.

«Hey!» – Lindsey Vonn wendet sich kurz an ihre PR-Verantworliche, die gerade lässig auf ihrem Handy herumtippt und nun aufblickt. Sie scheint eher eine Freundin zu sein, das verrät der vertraute Ton zwischen den beiden. Enrica ist ungefähr so alt wie Lindsey: «Hey», sagt Lindsey Vonn, «wir müssen unbedingt Dad erzählen, dass ich das in einem Interview erwähnt habe. Er wird sich krumm freuen, dass ich tatsächlich auf ihn höre.»

In einem Interview sagten Sie, ein Rat Ihrer Oma laute: Du freundest dich besser mit dem Schmerz an.
Ich bin in einem Umfeld gross geworden, in dem Härte das Wichtigste im Leben ist. Nicht nur physische, sondern auch mentale. Ich werde oft gefragt: Wie hast du die ganzen Verletzungen überwunden, die harten Zeiten, blablabla. Meine Grossmutter und mein Grossvater haben beide so viel mehr überstanden, meine Verletzungen sind nichts dagegen. Meine Mutter hatte einen Schlaganfall, als sie mich zur Welt brachte. Seither hinkt sie. Aber sie hat sich nie beklagt.

Sie sprechen öffentlich über Ihre Depressionen. Warum?
Ich weiss nicht, vielleicht fasse ich zu schnell Vertrauen. Andererseits sehe ich anhand der vielen Reaktionen, dass es den Leuten hilft, wenn ich über Dinge spreche, die sonst oft verschwiegen werden. Ich wusste lange selber nicht, dass es in meiner Familie Depression gab. Es war ein Tabu. Ich finde, je mehr wir darüber sprechen, desto besser können wir damit umgehen. Es ist kein riesiges Problem, aber es zu verstecken, ist Zeitverschwendung. Besonders als Spitzenathlet wechselst du von wahnsinnigen Hochs in unglaubliche Tiefs; das kostet viel Kraft.

Geht es Ihnen dabei auch um Aufmerksamkeit?
Nein. Ich sage ja nicht: Schaut her und habt Mitleid mit mir, weil ich depressiv bin. Ich spreche darüber, um Verständnis zu schaffen, damit sich Betroffene Hilfe holen. Ausserdem: Egal, was du sagst oder machst, es wird immer jemanden geben, der das negativ kommentiert. Im Internet tummeln sich schlimme Menschen, das ist einfach so, davon darf man sich nicht beirren lassen. Es gibt Menschen, die sich daran nähren, andere runterzuziehen.

Sie donnern sich für öffentliche Auftritte gerne auf. Wenn Roger Federer neben Anna Wintour gestylt in der Frontrow einer Modeschau sitzt, erntet er Bewunderung. Eine Spitzensportlerin steht hingegen schnell unter dem Verdacht der Selbstinszenierung.
Stimmt! Und das ist frustrierend. Aber ehrlich, ich trage so oft Trainingskleidung, da habe ich einfach Lust, mich neben der Piste zurechtzumachen. Ich fühle mich gerne als Frau, trage Highheels, obwohl ich fünfzig Kilo schwerer bin als ein Supermodel. Es ist schön, andere muskulös gebaute Frauen zu sehen, die sich auch gerne zurechtmachen, Spitzensportlerinnen wie Serena Williams, Caroline Wozniacki oder die Schauspielerin Ashley Brown. Es gibt nicht nur einen Frauentypus, ein Schönheitsideal. Das wollte ich auch mit meinem Buch zeigen: Es zählt nicht nur die äussere Erscheinung, es geht um deinen Charakter, deine Stärken.

2016 hat Lindsey Vonn den Ratgeber «Strong Is the New Beautiful» veröffentlicht, in dem sie Ernährungs-, Fitness- und Lebenstipps gibt. Regelmässig postet sie zudem auf Instagram Videos, die sie beim Extremtraining auf Fitnessmaschinen zeigen, beim Stemmen von Gewichten, Klimmzügen mit schweren Ketten um die Hüfte – Videos, die einem beim Betrachten fast schon Angst einjagen. Vonn war vor ein paar Jahren die erste Rennfahrerin, die auf Männerski umstellte – die schneller, aber auch gefährlicher sind.

Schön ist jede Frau: Diese Aussage fällt einem natürlich leichter, wenn man so blendend aussieht wie Sie.
Das empfinde ich nicht so. Das Topmodel Gigi Hadid fühlt sich nicht schön – und sie ist eine der schönsten Frauen der Welt! Selbstbewusstsein zu erlangen ist etwas vom Schwierigsten. Nur weil man schön ist, heisst das noch lange nicht, dass man selbstbewusst ist.

Was möchten Sie unbedingt noch erreichen?
Ich möchte Ingemar Stenmarks Rekord brechen und … Ich weiss nicht, einfach noch mehr gewinnen. Ich liebe es, zu gewinnen.

Sie denken sofort an sportliche Erfolge?
Es ist doch so: Egal wie lange ich noch Skifahren möchte, mein Körper wird es nur noch ein paar Jahre mitmachen, so ist die Realität. Deshalb konzentriere ich mich jetzt auf den Sport. Alles andere kommt später.

Sie haben 2013 beantragt, gegen die Männer fahren zu dürfen. Warum ist Ihnen das wichtig?
Ich fühle mich anders, fahre anders, wenn ich gegen sie antrete. Ich trainiere oft mit ihnen. Wir ziehen uns auf. Wir sprechen von Linien, Ski, Skischuhen, Bindungen – ganz locker. Das erlebe ich nicht so, wenn ich unter Frauen bin. Wir sind nicht so offen, es geht mehr darum: Ah, was wird sie machen, wie wird jene fahren. Ich weiss nicht, ehrgeizige Frauen um dich zu haben, ist anstrengend. Unter Männern fühlt es sich an, als wäre mein Potenzial grenzenlos. Wenn ich gegen Frauen antrete, gehe ich taktischer vor. Ich denke dann ans Gewinnen, an Gold, an Titel, an Medaillen. Unter Männern denke ich nur an schnelles Fahren.

Wollen Sie etwas beweisen?
Es wäre ein Statement. Ich würde eine gläserne Decke durchbrechen. Aber das ist nicht der Hauptgrund. Vielleicht würde ich Letzte. Vielleicht würde ich gewinnen. Ich will einfach herausfinden, wozu ich fähig bin.

Spätestens nach einer Stunde landet man mit Lindsey Vonn im Du-Modus; sie erzählt, dass sie bei einem Rennen mal ein Haus in Bulgarien gewonnen hat, das jetzt auf ihren Namen lautet. Und insgesamt sicherlich fünfzig Kühe, die irgendwo in Österreich weiden. «Ich muss sie mal besuchen.» Sie lädt spontan zum Rennen am nächsten Tag ein und will wissen, wie es ist, eine Frauenredaktion zu leiten. Fehlt eigentlich nur noch das Bier auf dem Tisch.

Lindsey, wie leicht vergibst du?
Wir leben in einer sehr urteilenden Zeit. Ich versuche zu vergeben, aber es ist nicht immer einfach. Es dauert sehr lange, bis ich eine Linie ziehe. Ich gebe eine zweite Chance. Na ja. Eher eine zweite, dritte und vierte. Aber wenn ich eine Linie ziehe, dann ist es vorbei.

In welchen Situationen passiert das?
Wenn jemand schlecht über meine Familie spricht. Oder mir aggressiv kommt, das vertrage ich nicht.

Wie einfach ist es für eine starke Frau wie dich, einen Partner zu finden?
Es braucht einen sehr speziellen Mann. In der Theorie wünschen sich viele Männer eine starke Frau …

Und in der Realität?
… können sie nicht damit umgehen. Dabei spielt es keine so grosse Rolle, ob er selber Erfolg hat oder nicht – das sagt nichts darüber aus, ob er mit deiner Stärke umgehen kann. Es hängt von der Person und ihrem Charakter ab. Ich glaube, dass er da draussen irgendwo ist. Aber ich bin im Frauenweltcup unterwegs, wie soll ich ihn da finden?

(Und dann mit kumpelhaftem Augenzwinkern:) Aber hey, wenn du die Lösung gefunden hast, dann lass es mich wissen.