Sitzplatz statt Mitleid
- Text: Stephanie Hess; Foto: unsplash
36 Grad, ein Feierabend kurz vor den Sommerferien. Ich stehe in einem nicht klimatisierten Tramwagen, halte mich an der Stange über dem Kopf, mein Babybauch ragt dick in den Gang hinein. Niemand bietet mir seinen Sitz an. Leider kann ich meine Mitpassagiere schlecht dafür verurteilen. Denn: Zeit meines ÖV-Lebens bin ich ebenfalls selten für schwangere Frauen aufgestanden. Ich hatte sie schlicht nicht im Fokus. Für ältere Leuten hingegen oder Menschen mit Gehhilfen hüpfte ich regelrecht vom Sitz, mit mir eine Horde anderer Passagiere.
Warum nur stehen – respektive sitzen – wir hierzulande schwangeren Frauen so viel ignoranter gegenüber als anderen körperlich eingeschränkten Personen? In Spanien beispielsweise ist das ganz anders. Da rügten mehrere Mitpassagiere einen Mann, weil er nicht umgehend von einem der reservierten Plätze im Bus aufstand, als ich mit meiner hochschwangeren Freundin einstieg. In den USA, erzählt eine Arbeitskollegin, seien ihr als Schwangere gleich reihenweise Sitzplätze angeboten worden. Liegt es schlicht daran, dass man in diesen Ländern offener ist, empathischer? Kaum. Eher daran, dass dort wie in vielen anderen Ländern in den öffentlichen Verkehrsmitteln explizit darauf hingewiesen wird, dass Schwangere einen Sitzplatz benötigen – meist anhand eines Piktogramms, das eine Frau mit Babybauch zeigt. Auch in der Schweiz existieren Sitze für «Personen mit eingeschränkter Mobilität». Nur: Die einzige auf dem Hinweisschild abgebildete Person ist ein Mann mit Stock.
Natürlich, ich bin da als Schwangere wohl mitgemeint. Doch blosses Mitmeinen scheint hier nicht zu funktionieren. Denn Fakt ist: Die Frau mit Babybauch ist nicht abgebildet. Dieser bildliche Ausschluss macht es für Schwangere schwieriger, die eigentlich auch für sie reservierten Plätze selbstbewusst einzufordern. Zudem widerspiegelt der Ausschluss, was von einer schwangeren Frau in einer Leistungsgesellschaft gemeinhin erwartet wird: Dass sie bitte weiterhin dieselbe Ausdauer an den Tag legt – bei der Arbeit wie in der Freizeit. Mir wurde einige Male gesagt, dass ich ja «bloss schwanger, nicht krank» sei. Doch abgesehen davon, dass sich eine Schwangerschaft durchaus wie eine monatelange Grippe anfühlen kann, sind auch beschwerdefreie Schwangere irgendwann eingeschränkt: Man schleppt schlicht mehr Blut, mehr Wasser und ein mehrere Kilo schweres Baby mit sich herum. Mitleid braucht man dafür nicht, einen Sitzplatz jedoch nähme man gern.
Damit Frauen «in anderen Umständen» und ihre Bedürfnisse auch tatsächlich wahrgenommen werden, gilt es, sie klar zu bezeichnen – in Wort und Bild. Sprache schafft Realität. Die Bildsprache leistet dies vielleicht sogar noch umfassender, weil sie eine Situation auf einen Blick erklärt. Erfreulicherweise haben die SBB den Nachholbedarf erkannt. Wie es auf Anfrage heisst, statten sie in allen neuen Zügen die Sitze für Personen mit eingeschränkter Mobilität standardmässig mit Schwangeren-Piktogrammen aus.
Das hilft nicht nur den Schwangeren, die den Sitz leichter einfordern können. Sondern allen, die ihn bisher aus – ja, auch das gibt es! – höflicher Zurückhaltung nicht freigegeben haben. Denn auch mit den besten Absichten ist ja nicht immer erkennbar, ob es sich bei der Wölbung um ein Baby oder um die Folgen eines ansonsten wonnigen Lebensstils handelt.