Unsere Autorin hatte dieses dringende Bedürfnis, zu singen. Aber sie traute es sich nicht zu – aus Gründen, die nichts mit dem Singen zu tun hatten.
Wie leicht diesmal alles war! Ich stieg die Treppen rauf, in das kleine Mansarden-Studio, zog meine hohen Hacken aus, weil es immer besser ist, Bodenkontakt zu haben, nicht nur beim Singen, na klar, plauderte ein bisschen, mehr oder weniger Belangloses. Obwohls doch beim Singen ums Eingemachte geht, vielleicht auch: weil es beim Singen ums Eingemachte geht. Immerhin begegneten wir uns hier zum ersten Mal. Ich beantwortete wahrheitsgemäss die Fragen: «Ich habe nie geraucht», «Ich habe nie über einen längeren Zeitraum meine Stimme verloren», (nicht in dem erfragten Sinne). Die Gesangslehrerin, eine Frau der Oper, schlug auf dem Piano die Tasten an, und ich machte den Mund auf und sang. Einfach so. Mit einer Seele, die ich noch nicht allzu lange habe. Und mein Herz schlug dabei fast normal. Und mir zitterten nicht die Knie.
Ich habe, soweit ich zurückdenken kann, dieses mir lange unerklärliche Bedürfnis: zu singen. Und ich meine: wirklich zu singen. Auf diese Art, bei der du alles gibst. Also: dich selbst. Bei der du dir mit Freuden das Herz herausreisst. Jazz. Blues. Solche Sachen. Ich komme aus keiner musikalischen oder sonst wie künstlerischen Familie. Meine Eltern tragen kein Lied, schon gar nicht ihr Herz auf der Zunge. Oder, was das Letztere betrifft, an sonst einer leicht zugänglichen Stelle. Gesungen wurde bei uns zum Advent und an Weihnachten, das heisst: Wir drei, Mutter, Stiefvater und ich, nahmen kerzengerade am Küchentisch Platz. Meine Mutter schlug das Adventsliederheft auf und trug ein, zwei, drei Lieder daraus vor. Ich murmelte artig neben ihr her. Und mein Stiefvater harrte stumm, bis der Anfall glücklich vorüber war. Das wars. Mehr Gefühl hätte keiner von uns ertragen, nicht einmal im Advent. Und ich denke: Womöglich erklärt das schon eine Menge.
Mit zehn trat ich dem Kinder-Kirchenchor bei. Ich glaubte, ich hätte meine Berufung gefunden. Sang vielleicht nicht mit Herz, aber aus voller Kehle. Bis meine Mitsänger mir bei den Proben und Kirchenauftritten entnervt die Ellbogen in die Rippen stiessen und zischten: «Höher! Sing höher!» und «Mensch, versau nicht alles, du Brummer!» Bald bewegte ich nur noch tonlos den Mund. «Geht auch!», sagte meine Mutter. Dass ich den Chor schliesslich doch verliess, fand sie über die Massen beschämend. Lieber wäre ihr gewesen, ich hätte weiter stumm gesungen. Über die folgenden zwei Jahrzehnte sang ich nur noch in der Sicherheit meines Zimmers oder des Autos, ausschliesslich in professioneller Begleitung, gnädig übertönt von der CD-Musik und ihren Stimmen. Ich dachte lange, das würde reichen.
Ich meine, ich war Mitte dreissig, verheiratet und Mutter von sechs Kindern, als ich erstmals das Bedürfnis verspürte, Gesangsunterricht zu nehmen. Vielleicht war es nur, dass ich etwas brauchte, das mir etwas Zeit mit mir selber schenkte. Andere spielen Handball. Reiten. Oder stricken. Ich hatte das alles und manches andere bereits versucht. Etwas fehlte. Wenn ich damals schon hätte sagen können, was es war, wäre ich diesen ersten Schritt gegangen? Eine Pfarrerstochter, streng im deutschen Liedgut erzogen, in Leinenkleidern, mit Gitarre und hohen Tönen, bot im Städtchen Stunden an. Ich, cool in Jeans und Stiefeln mit Tom Waits im Herzen, dachte: «Der bist du locker gewachsen!»
Meine erste Gesangsstunde war am Ende keine. Weil ich nicht sang. Keinen einzigen Ton. Ich hatte im Vorraum mit zitternden Knien und enger Kehle wartend, dass meine Stunde schlägt, einen Schüler im Studio Gedichte vorlesen hören. Ich beschloss, ich käme genauso davon. Die Pfarrerstochter protestierte: «Mit der Stimme deines Vorgängers stimmt etwas nicht. Die muss ich komplett neu aufbauen. Deine Stimme ist okay.» Ich beharrte auf Gedichten. Sie lauschte verwundert, wie «hinter eines Baumes Rinde ruft die Made nach ihrem Kinde». Und anderen Werken des grossen Heinz Erhard. Kurzfristig fühlte ich mich wie eine Siegerin.
In unserer zweiten Stunde spielte die Pfarrerstochter Gitarre und sang Lagerfeuerlieder. Wohl, um mich zu animieren. Ich stand da, wusste nicht, wohin mit den Händen, machte ein bisschen «mmm-mmm» und war den Tränen und dem Erstickungstod nahe. Schliesslich presste ich ein Kinderlied hervor. Ich sang immer noch nicht. Ich sprach. Nur eben mit ein bisschen Melodie. Machen einige Menschen so: Mit ihrer Sprechstimme singen. Auch eine Art, sich zu verstecken. Stimme, denke ich, das ist nicht nur Singen. Das bist du. Der Ausdruck dessen, wer und was du bist. Was du verbergen willst. Was du dich traust – oder nicht – zu sein. Ich zum Beispiel, manchmal erwische ich mich noch heute, wie ich in Gesprächen, gewollt oder ungewollt, die Stimme verstelle. Also: mich. Ich stimme eine höhere Tonlage an. Oder eine extra tiefe. Ich quetsche die Töne. Ich bin überrascht, dass und wie viele Menschen diese kleine Unehrlichkeit nicht zu stören scheint. Dass und wie bereitwillig sie sie überhören. Singend, lässt sie sich schwerer verstecken. Eigentlich, wenn man richtig singt, gar nicht. Das war es, wovor ich mich fürchtete: mich in all meinem Sein zu offenbaren. Es war nicht meine Stimme, der ich nicht traute. Ich misstraute mir selbst.
Ich hasste es auch, mit dem Mann, mit dem ich 14 Jahre verheiratet war, zu telefonieren. Mich grauste vor seiner Telefonstimme. Ich verstand nicht, warum ich die Stimme dieses Mannes, den ich, wenn er in Fleisch und Blut vor mir stand, glaubte, mit ganzem Herzen zu lieben, verabscheute, wenn ich sie losgelöst von seinem Erscheinungsbild hörte. Wenn ich nichts hatte, mit dem ich mich von ihr ablenken konnte. Ich telefonierte über Jahre gegen das Gefühl an.
Nach jenen ersten, gesprochen-gesungenen Tönen schaffte ich es gerade so bis zu meinem Auto. Da hockte ich dann, auf dem Parkstreifen, hinter dem Lenkrad, und heulte. Zuhause sagte ich zu dem Mann, den ich damals noch hatte: «Das war, als ob da noch jemand anders in mir ist, der dringend raus will. Aber ich kann es ihm nicht gestatten.» Ich werde seinen Blick nie vergessen: zu Tode erschrocken. Ein Jahr darauf waren wir geschieden, und ich liess den Gesangsunterricht fürs Erste sausen. Die Pfarrerstochter kannte eh nichts von dem, was ich dringend singen wollte.
Ich hatte Nina Simone singen sehen. Nicht live, dafür war es, als ich sie endlich für mich entdeckte, zu spät, weil Nina seit zwei Jahren tot war. Ich sah sie in einem Konzertmitschnitt aus einem Londoner Jazz-Club Mitte der 1980er-Jahre, «Nina Simone: Live at Ronnie Scott‘s». Wie sie da inmitten eines riesigen Publikums einsam an ihrem Klavier sass und spielte und sang. Es sah mühelos aus. Nur das dünne Schweissrinnsal, das ihr die Kehlgrube hinab auf die Brust in den Ausschnitt lief, liess die Anstrengung, die sie das alles kostete, erahnen. Manchmal entglitt ihr die Stimme, manchmal brach sie. Es tönte nicht fehlerhaft. Es tönte menschlich. Ich war gefangen. Von ihrem Spiel, der Stimme. Von ihrer Stärke. Von ihrer Verletzlichkeit vor allem. Davon, dass die eine die andere nicht ausschloss. Nicht ausschliessen musste. Es schnürte mir ein bisschen die Kehle zu, so tröstlich erschien mir das.
Später las ich, wie schwierig das für sie gewesen war. Sie war die talentierte Tochter armer schwarzer Eltern. Später die Frau eines brutalen Mannes. Sie hatte nicht nur ein paar Ecken, sie hatte messerscharfe Kanten entwickelt. Verzweifelte immer wieder mal an der Welt und an sich, und die Musik-zu-Geld-Macher verzweifelten, wohl in der Folge, an ihr. Das war verständlich. Aber ich dachte auch: Wenn du nicht durch die ein oder andere Hölle gegangen bist, wovon willst du dann singen? Ich meine: auf jene Art, die dir das Herz herausreisst.
Auf der anderen Seite der Grenze, an der ich damals wohnte, lehrte eine den Jazz. Sie sang selbst in einer Band und spielte Saxophon. Ich sah sie mir im Internet an. Sie war Mitte sechzig. Herb. Kühl. Ich dachte: Die ist mein Typ Mensch! Eines Sommernachmittags stand ich dann erstmals in ihrem alten, krummschiefen Häuschen und dachte, ich sänge. Meiner Erinnerung nach muss es ein Beatles-Song gewesen sein, «Lady Madonna». Die Herbe spielte dazu Klavier.
Sie schüttelte immer wieder unwillig den Kopf, was mich in Furcht und Schrecken versetzte. Schliesslich nahm sie die Finger von der Tastatur, legte die Hände in den Schoss, atmete schwer und fragte: «Was bedeutet Singen für dich?» Ich rief ohne Zögern: «Sich zusammenreissen! Mutig sein!» Sie legte den Kopf schief, für einen langen, schweigsamen Augenblick. «Und was ist mit ‹süss›?», fragte sie. – «Mit lieblich?» – Sie nickte. «Ich glaube, du hast ganz und gar vergessen, wie man süss und lieblich ist.» Ich starrte sie an. Kloss in der Kehle. Ich sagte mit stockender Stimme: «Aber weisst du denn nicht: Wenn du süss bist, tun sie dir weh!» Woher war dieser Satz gekommen? Er war einfach so da. Ich weinte, und die Herbe nahm mich in den Arm. «Das weiss ich», sagte sie. «Na, und ob.» So standen wir eine ganze Weile. Und ich dachte, dass sie für mich tatsächlich die Richtige war, und es fühlte sich grossartig an. Wie nachhause kommen. Das war es am Ende auch. Nur leider auf die falsche Weise.
Während des Jahres, in dem ich in die raue Lehre der Herben ging, fand ich mich manchmal bei Sessions ein, bei Musikertreffen in einer nahen Blues-Kneipe, mit offenem Mikrofon. Wer wollte, durfte hier musizieren. Meist sass ich am Rand, lauschte dem Spiel und Gesang der anderen, mein Herz raste, die Knie zitterten, die Kehle wurde mir eng und enger. Während ich dachte: «Jetzt aber! Jeden Moment! Werde ich mich zusammenreissen und meine Stimme erheben!» Ich tat es ein einziges Mal. Ich weiss nicht mehr, woher mich der Mut dazu überkam. Eine Norwegerin mit bombastischer Stimme hatte Joni Mitchells «River» gesungen, schöner fast als im Original. Als sie fertig war, trat ich wie in Trance zu ihr auf die kleine Bühne und bat sie zittrig um ein Duett. Sie ergriff meine Hand – und von dem Moment an erinnere ich mich an beinahe nichts. An den Song nur, «The Rose», drei Strophen. Ich sang sie wie im Traum, die Norwegerin an meiner Seite. Und als es vorbei war, stand das Kneipenvolk da, rief «Bravo!», «Zugabe!», sie klatschten wie blöde, und ich taumelte durch sie hindurch, zu meinem Stuhl. Die Norwegerin hielt mich am Ärmel, ich schüttelte stumm den Kopf. Für einen zweiten Song hätte ich nicht die Kraft gehabt.
Aber ich wusste jetzt: Ich musste singen! «So?», fragte die Herbe, als ich ihr von dem Abend erzählte. «Und jetzt glaubst du, du bist ein Star?» Sie verzog die Mundwinkel in einer mir schrecklich vertrauten Art. Und mein Herz wurde klein und mit ihm die Stimme. «Dann lass uns mal eine Aufnahme machen. Gleich jetzt!» Ich brauchte Tage, bis ich endlich den Mut aufbrachte, mich auf der CD anzuhören. Es klang fürchterlich. Ich ging nie zu der Herben und den Musikertreffen zurück.
Ich zog nach Irland und lebte zwei Jahre sangeslos dort, als mir jemand von Walter erzählte. Einem deutschen Tenor, pensioniert. Zuletzt hatte er am Staatstheater in St. Gallen gesungen. Jetzt lebte er hier, eine Autostunde von mir, in der Grafschaft Offaly. War 85 Jahre alt, und hatte «vielleicht sein Verfallsdatum als guter Lehrer überschritten». So zweifelte diejenige, die mir von ihm erzählte. Ich rief ihn trotzdem an. Er antwortete mit der Stimme eines energiegeladenen, in seiner Haut heimischen jungen Mannes. Er hatte gleich in der folgenden Woche Zeit. Ich konnte den Tag kaum abwarten.
Er war, vor allem anderen, zu Recht ein Techniker. Exzellent. Unerbittlich. Er liess mich «Freude schöner Götterfunken» singen, das ich hasste, weil ich es fürchtete; «O sole mio», an dem ich seiner Kraft und meiner Kraftlosigkeit wegen verzweifelte; «On My Own» und «I Dreamed a Dream» aus «Lés Miserables», die ich verehrte, und die, aus meinem Mund, miserabel tönten, weil, so fluchte er, ich sie jeden Gefühls beraubte. «Mensch, sing das doch mal mit Seele! Oder hast du keine?» Ich blaffte trotzig zurück: «Nein!» Worauf er mitleidlos mit den Schultern zuckte: «Na, das ist dann ja nicht mein Problem!» Er lehrte mich, dass die hohen Töne tief aus mir heraus, nicht aus der Kehle zu holen waren. «Steckt dir der Ton im Hals, ist er im Arsch!» Wenn ich, wieder einmal, zuhause nicht weitergeübt hatte, hörte er es in unserer nächsten Stunde sofort. Sein Kummer darüber machte mich traurig und tat mir gut. Weil ich verstand, dass dieser Kummer tatsächlich mir, meiner Nachlässigkeit, nicht etwa seinem Ego galt. Dass er, all meinem Unglauben an mich zum Trotz, an mich glaubte.
Er war in Bezug auf solche wie mich mit Erfahrung geschlagen. Hatte einen Sohn, der ein begnadeter Kunstmaler war, ein genialer Sattelbauer, brillanter Bildhauer und Bassist. Ein Mann mit so zahllosen, wie vergeudeten Talenten. Er hatte mal Bass in Van Morrisons Band gespielt. Kurzfristig, wie alles, was er anfing und in dem er grossartig war. Jetzt war er Ende fünfzig, hatte das Sattelbauen ganz und das Malen so gut wie aufgegeben. Bass spielte er nur noch im Keller, das aber mit Seele. Wenn ich mich, nach einem Jahr Arbeit mit Walter, dazu gesellte und mich in seiner Begleitung an Songs von Bob Dylan, Leonard Cohen und Janis Joplin wagte, brüllte der Vater die Treppen hinunter: «Jetzt versau sie mir nicht mit deinem Blues, bevor sie überhaupt singen gelernt hat!» Ich wusste, das war ein Lob. Es fiel mir nur schwer, es zu glauben.
Nach zwei Jahren war es mit Walter und mir aus. Ich hatte die Gesangsstunde ein, zwei, drei Wochen ausfallen lassen. Aus keinem guten Grund. Als er mich anrief, beteuerte ich mit kleiner, scheusslich eifriger Stimme: «Ich komme nächste Woche, bestimmt!» – «Ach, mach doch, was du willst», knurrte er. «Ist mir egal.» Ich ging nicht wieder hin. Ich muss geglaubt haben, ich könne ihn so bestrafen.
Ich verschwendete noch einmal eine halbe Dekade, in der ich nicht sang. Mich nur nach dem Singen sehnte. Aber vielleicht war es auch einfach so, dass «es» das brauchte. Dass es seine Zeit dauert, bist du weisst, wer du bist. Und ihm traust.
«Riesig!», sagte die Opernfrau in der Mansarde. «Das ist eine Riesenstimme. Nahe an vier Oktaven. Mit einer für eine Frauenstimme ungewöhnlichen Bandbreite von tiefen und zudem wunderbar entwickelten Tönen.» Und von wem immer ich die Technik gelernt hätte, sagte sie, der habe fantastische Arbeit geleistet. Was mich freute. Und ein bisschen traurig machte, weil es mich beschämte. «Was ist dein Ziel, was willst du singen?», fragte sie. «Blues», sagte ich. «Jazz.» – «Grossartig!», rief die Opernfrau. «Genau richtig». Und ich dachte: Ja, das bin ich.