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Sind Frauen unpolitischer als Männer?

Politik

Sind Frauen unpolitischer als Männer?

Über hundert Jahre lang kämpften Frauen für ihre politische Stimme – und jetzt nutzen sie viele nicht. Politikwissenschafterin Martina Mousson über die Hintergründe.

annabelle: Martina Mousson, 2019 sind 49 Prozent der wahlberechtigten Männer an die Urnen gegangen – aber nur 41 Prozent der Frauen. Sind Frauen einfach unpolitischer als Männer?
Martina Mousson: Frauen gehen im Schnitt weniger wählen und abstimmen – das stimmt. Dennoch wäre ich mit solchen Aussagen vorsichtig.

Warum?
In den 90er-Jahren hat eine Studie gezeigt, dass Frauen schlicht weniger interessiert an den konventionellen Formen der Politik sind. Sie weichen lieber auf andere Möglichkeiten aus – auf freiwilliges Engagement, Streiks und Demonstrationen etwa. Zugleich stellen wir fest, dass der Geschlechterunterschied immer kleiner wird. Es kommt stark auf die Altersgruppe an, wie weit die Wahlbeteiligung auseinanderklafft. Am grössten ist der Unterschied bei den über 65-Jährigen.

Wie ist das zu erklären?
Je älter eine Frau ist, desto schlechter war ihr Zugang zu Bildung – und Bildung beeinflusst das Politikverhalten massgeblich. Zudem wurden einige ohne Stimmrecht sozialisiert. Das wirkt sich bei manchen ein Leben lang aus – als Desinteresse, aber auch als Wut oder Enttäuschung darüber, aus dem politischen System ausgegrenzt worden zu sein. In der Altersgruppe der 35- bis 44-Jährigen ist die Wahlbeteiligung der Männer ebenfalls deutlich höher als die der Frauen.

Wieso das?
Allenfalls weil Frauen in unserem Gesellschaftssystem stärker in die unbezahlte Care-Arbeit eingebunden sind. Wenn zum Job Kinder dazukommen, bleibt Frauen oftmals nichts anderes übrig, als sich auf den Mikrokosmos Familie zu fokussieren. Für anderes fehlt schlichtweg die Zeit.

Welche Gründe gibt es noch, warum Frauen nicht wählen oder abstimmen gehen?
Eine deutsche Studie aus dem Jahr 2001 hat gezeigt, dass Frauen eine politikfernere Sozialisation erfahren und schon als junge Mädchen lernen, sich mehr auf den privaten Lebensraum auszurichten. Auch wenn sich das mehr und mehr ändert, wird es noch dauern, bis der Fortschritt in allen Altersgruppen angekommen ist. Deshalb brauchen Frauen heutzutage politisch oftmals noch einen Schupf, wie beispielsweise durch Initiativen wie «Helvetia ruft». Zudem ist Politik oft eine Frage der Ressourcenverteidigung: Je mehr man hat, desto höher ist der Anreiz, sich politisch zu beteiligen.

Heisst: Weil Männer mehr Besitz und Vermögen haben, gehen sie eher wählen?
Ja, auch deshalb. Zwar sind Frauen heute mindestens so gut ausgebildet – sozioökonomisch sind sie trotzdem schlechter gestellt: Die Kaderpositionen mit hohem Lohn sind immer noch überwiegend mit Männern besetzt, Frauen arbeiten aufgrund der Care-Arbeit mehr Teilzeit, die sogenannten «Frauenberufe» werden schlechter bezahlt – und auch den Gender-Pay-Gap gibt es nach wie vor.

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Einige Vorlagen wären ohne die Stimmen der Frauen anders ausgegangen – beispielsweise 1994 das Ja zur Rassismus-Strafnorm oder 2020 das Nein zum Jagdgesetz. Auffallend ist, dass es sich hier häufig um sozial- und umweltpolitische Themen handelt. Ein Zufall?
Keineswegs. Meistens sind Frauen und Männer zwar gleicher Meinung, aber Frauen pochen vermehrt auf einen Service public sowie auf den Schutz von benachteiligten und schwächeren Gruppen. Ausserdem sind sie ökoaffiner und weniger militärfreundlich.

Sind Frauen politisch also mehr links?
Ja – Frauen sind weltweit linker und grüner. Linke Parteien sprechen eher Themen an, die Frauen in ihrer Lebenswelt abholen. Soziale Gerechtigkeit oder Familienpolitik sind beispielsweise klassisch linke Themen. Zudem wurde deutlich früher mit gezielter Frauenförderung angefangen. Die SVP hat bis heute keine einzige Bundesrätin oder Ständerätin gestellt – links gibt es in der Schweiz mittlerweile eine ganze Tradition an Politikerinnen. Sie sind für Frauen ein wichtiger Identifikationsfaktor: Eine Untersuchung der Universität Zürich hat gezeigt, dass Politikerinnen weitere Kandidatinnen nach sich ziehen.

Apropos Identifikation: Wenn man an Greta Thunberg oder die US-Star-Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez denkt, scheinen Mädchen und junge Frauen heute eine deutliche grössere Auswahl an Vorbildern zu haben.
Absolut. Junge Mädchen wachsen heutzutage viel eher mit der Selbstverständlichkeit auf, dass Frauen eine Stimme haben. In den 80er-Jahren, als ich Kind war, gab es noch sehr wenige Frauen in der Politik – und diejenigen, die es gab, wurden argwöhnisch betrachtet. Man darf nicht vergessen, dass auch Frauen zum Teil gegen das Stimmrecht waren. Sie fanden: Das sind alles Spinner-Emanzen, die Radau machen. Heute gibt es nicht nur viel mehr Frauen in der Politik – sie müssen auch nicht mehr als Männer auftreten, damit ihr Wort gehört wird.

Was meinen Sie damit?
Michelle Obama etwa ist eine sehr warmherzige Person, ein Familienmensch, eine Tierliebhaberin. Alles Eigenschaften, die klassischerweise Frauen zugeordnet werden – und die es früher in der Politik als reine Männerdomäne entsprechend schwer hatten. In der Schweiz denke ich da an Frauen wie Regula Rytz oder Simonetta Sommaruga. Sie stehen völlig selbstverständlich zu ihrer Weiblichkeit.

Bei «Fridays for Future» sind Mädchen deutlich präsenter als Buben; der Feminismus ist plötzlich cool geworden. Wie politisch ist die junge Generation Frauen wirklich?
Konventionelle, institutionalisierte Formen politischer Teilnahme haben es bei den Jungen nach wie vor schwer. Aber dennoch ist die heutige Jugend politisiert – das zeigen Umfragen weltweit. Social Media hat da eine grosse Themensetzungskraft. Hier können Anstösse passieren, zum Beispiel auch durch Celebrities. Und bei den Mädchen scheint sich tatsächlich besonders viel getan zu haben. Ich gehe davon aus, dass #MeToo und hierzulande auch der Frauenstreik eine grosse Signalwirkung hatten. Wer weiss: Vielleicht beteiligen sich Frauen sogar irgendwann politisch stärker als Männer.

Ach ja?
Bei den letzten Wahlen gab es zumindest im Kanton Zürich dafür erste Anzeichen: Von den unter 25-Jährigen gingen mehr Frauen als Männer wählen. Das ist ein Novum.

Die Politikwissenschaftlerin Martina Mousson (40) ist am Forschungsinstitut gfs.bern als Projektleiterin tätig und analysiert in dieser Funktion das Schweizer Politikgeschehen wie auch Gesellschaftsfragen.

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