Silvester steht vor der Tür
- Text: Olivia Sasse; Foto: Aperture Vintage / Unsplash
Silvester, weisst du noch, wie ich als Kind aufgeregt auf dich wartete? Als Mitternachtssnack gab es Toast Hawaii mit Schinken, Käse und Ananas. Dann sahen wir zusammen den explodierenden Farben am Himmel zu – dem Neujahrsfeuerwerk über dem Lago Maggiore. Das war unsere Tradition, als ich und meine Schwestern noch Kinder waren. Die ganze Familie nahm sich Zeit für dich.
Als Teenager beschloss ich, das neue Jahr nicht mehr mit meiner Familie, sondern mit Freunden zu feiern. Ich lernte andere Traditionen kennen, zum Beispiel «Dinner for one». Ich kannte das vorher tatsächlich nicht, da ich ohne Fernseher aufgewachsen bin. «Dinner for one» schauten wir also, wenn du alljährlich zu Besuch gekommen bist. Zur Feier des Tages floss in der Regel Alkohol, meistens nicht grad wenig. Und wenn du dich in den Morgenstunden davongeschlichen hattest, blieb ich mit einem brummenden Schädel zurück. Nicht unbedingt die beste Art, ins neue Jahr zu starten.
Als Kind hatte ich mich noch Wochen im Voraus auf dich gefreut, dann warst du plötzlich immer schneller da und hast mich unvorbereitet überrascht. Ehrlicherweise kann ich mich an einige deiner Besuche gar nicht mehr erinnern. Nicht aufgrund von Blackouts – so überbordend war mein Alkoholkonsum nicht. Aber einige Male habe ich gearbeitet oder bin einfach früh schlafen gegangen. Früher war dein Besuch wie der Geburtstag eines lieben Freundes gewesen, ein Grund zum Feiern oder um liebgewonnene Rituale aufrechtzuerhalten. Doch dann wurde der letzte Tag des Jahres allmählich wie der Besuch eines entfernten Verwandten. Man weiss zwar, dass er kommt, aber für viel Aufruhr sorgt er dann doch nicht. Vielleicht kauft man noch schnell auf dem Nachhauseweg an der Tankstelle eine Flasche Sekt. Vielleicht aber auch nicht.
Ich kenne viele, die dir zu deinem Besuch kleine Briefe schreiben. Zumindest in Gedanken: Sie nennen es Neujahrsvorsätze. Sie lassen die vergangenen 12 Monate Revue passieren und fragen sich, was sie im nächsten Jahr besser machen könnten. Sie nehmen sich vor, endlich mehr als zwei Liegestützen zu schaffen oder die Zigaretten endlich durch eine gesündere Sucht zu ersetzen. Sie sehen dich als guten Geist der Neuanfänge. Sie bitten dich um ein besseres Jahr als das letzte, um mehr Energie, mehr Lachen, ein besseres Leben. Dass man selbst wenig bis nichts getan hat, um die Vorsätze der letzten Jahre einzuhalten, das lässt man unter den Tisch fallen.
Ich halte nicht viel von Neujahrsvorsätzen, aus einem sehr offensichtlichen Grund: Ändern kann man an jedem Tag im Jahr etwas. Was kannst denn du dafür, Silvester, wenn das Jahr beschissen war (oder auch super gut)? Es ist nicht nett, all die Verantwortung, all den Frust und all die Hoffnung einfach auf dich abzuschieben – und sich dann zu betrinken.
Trotzdem schreibe auch ich dir dieses Jahr, Silvester. Aber nicht mit zu hohen Erwartungen und gänzlich ohne gute Vorsätze. Dieses Jahr möchte ich dir einfach sagen, dass ich mich auf dich freue. Dass ich mir Zeit für dich nehme und dass ich dich wieder neu kennenlernen möchte. Denn ich bin aus alten Ritualen herausgewachsen und auf der Suche nach neuen.
Tanzen wir zusammen zur Whitney-Houston-Schallplatte, die ich zu Weihnachten bekommen habe?
Probieren wir gemeinsam den Ingwerschnaps, der schon so lang in meiner Bar steht?
Spielen wir zusammen «Cards against Humanity», bis wir nicht mehr anders können, als vor Lachen zu weinen?
Ich bin hier, Silvester – und warte auf dich.