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Sie nahm das Kind einfach mit

Leben

Sie nahm das Kind einfach mit

  • Text: Claudia Senn; Illustration: SHOUT

Die Zahnärztin Dalma Aebischer wünschte sich verzweifelt ein drittes Kind. Als es nicht kommen wollte, entführte sie ein Roma-Baby aus einem osteuropäischen Kinderspital. Nun sitzt sie eine langjährige Haftstrafe ab, während ihre Familie zuhause um Normalität ringt.

Das Einsatzkommando kam noch vor dem Morgengrauen. Um halb fünf Uhr in der Früh klingelte es an der Tür. «Wer mag das sein?», fragte Bruno Aebischer ohne den Hauch einer Vorahnung. Auch Dalma Aebischer konnte sich die frühe Störung nicht erklären. Das Baby schlief friedlich im Ehebett, die Buben in ihren Zimmern. «Bruno ging zur Tür», erzählt Dalma, «und als er öffnete, wusste ich: Game over.»

Vor der Tür standen 17 Beamte in Zivil. «Es war nicht wie im Fernsehen», sagt Bruno, «keine Knarren, keine eingetretenen Türen, alles lief ruhig und korrekt ab.» Bruno erzählt von dem dramatischen Tag so sachlich, als wäre das alles jemand anderem passiert. Doch unter der Maske des Unerschütterlichen schimmert die Panik auf, die er empfand, als sein Leben zusammenbrach. Würde jemand jetzt, in diesem Augenblick, von aussen durchs Fenster blicken, so sähe er einen Mann,eine Frau und zwei wohlerzogene Buben mit mir, der Reporterin, am Esstisch sitzen. Der Mann, Anfang fünfzig, ist Bankangestellter und sieht aus wie ein durchschnittlicher Familienvater, verlässlich und solid. Die Frau, ein paar Jahre jünger, ist Zahnärztin. Sie hat etwas Ungezähmtes im Blick, trägt wilde Locken, bunte Kleidung und viel Schmuck, der bei jeder Bewegung klimpert. Es gibt Kaffee für die Erwachsenen, Saft für die Buben und gedörrte Früchte für alle. Das Wohnzimmer ist geschmackvoll eingerichtet und tipptopp aufgeräumt, das lichtdurchflutete Einfamilienhaus direkt am Waldrand ein Bijou – ein bürgerliches Idyll, eine heile Familie.

Doch die Familie erzählt nicht vom vergangenen Geburtstagsfest oder einem gelungenen Sonntagsausflug, sondern von ihrer Verhaftung durch eine Sondereinheit der Polizei. Der Mann, Bruno, verbirgt hinter seinem Pokerface nur mühsam Verzweiflung und Wut. Die Frau, Dalma, kennt sich in ihrem eigenen Kühlschrank nicht mehr aus, weil sie gerade eine 26-monatige Gefängnisstrafe verbüsst und in wenigen Stunden wieder ins Frauengefängnis einrücken muss, wenn ihr kurzer Urlaub vorbei ist. «Können wir diese Milch für den Cappuccino nehmen, Bruno?», fragt sie, als wäre sie hier nur zu Gast. Michael, der 15-Jährige, schämt sich für seine Mutter im Knast, weshalb wir für diesen Artikel alle Namen und einige andere persönliche Details verändert haben, um ihm blöde Sprüche in der Schule zu ersparen. Und Kai, der 9-Jährige, erfindet blumige Ausreden für Dalmas Abwesenheit. «Mami, ich erzähle allen, du seist Tierforscherin in Afrika», sagt er voller Stolz, dass ihm etwas so Kreatives eingefallen ist. «Cool, das passt zu mir», sagt Dalma mit einem kleinen, traurigen Lächeln. Nein, von Idylle kann wirklich keine Rede sein.

Ende des vergangenen Jahres lag ein Brief auf meinem Schreibtisch in der Redaktion, Absender: die Postfachadresse des Frauengefängnisses Hindelbank. Darin schlug Dalma Aebischer vor, eine Kolumne über den Alltag im Gefängnis zu verfassen. Dalma schrieb, sie sei in Polen geboren und lebe nun seit langem im Kanton Aargau, wo sie als Zahnärztin arbeite. Sie habe einen Mann und zwei Kinder und sei schon seit ihrer Jugend künstlerisch veranlagt, deshalb die Idee mit der Kolumne. In nüchternem Ton schilderte sie, wie sie im Oktober 2009 aus einem Spital in einem osteuropäischen Land ein «Zigeunerbaby» mitgenommen, über drei Grenzen geschmuggelt und für das Kind bei den Schweizer Behörden eine Geburtsurkunde erschlichen habe. Dafür sitze sie nun im Gefängnis. Dalma nannte sogar den Namen des Kindes, damit ich ihre Geschichte überprüfen konnte und sie nicht für eine Hochstaplerin hielt. Im Internet fand ich etliche osteuropäische Medienberichte, die den Fall aufgenommen hatten. Einige nannten Dalmas vollen Namen. Manche schilderten sie eher als Wohltäterin denn als Verbrecherin. Wie kommt eine gut situierte Akademikerin darauf, etwas so Irrationales zu tun? Meine Neugier war geweckt.

Einige Wochen später treffe ich Dalma im Besucherraum des Frauengefängnisses Hindelbank. Auf meinen Vorschlag, mir ihre Geschichte zu erzählen, hatte sie positiv reagiert, und auch ihre Familie ist mit einem Porträt einverstanden. Zufällig fällt der Tag unseres ersten Treffens auf ihren 44. Geburtstag. Eine Freundin von Dalma hatte mir zwei Tüten mit Süssigkeiten und kleinen Geschenken mitgegeben, von denen es ein Teil nicht durch die strengen Sicherheitskontrollen an der Gefängnispforte schafft. Meinen müden Scherz, ich habe keine Feile in den Kuchen eingebacken, findet der zuständige Beamte überhaupt nicht lustig.

Als Erstes fällt mir ihr Blick auf: wach, neugierig, aber auch unruhig und flackernd. Dalma hat sich sorgfältig geschminkt und trägt viel schönere und auffälligere Kleidung als die anderen Gefangenen im Besucherraum. «Ich war mein Leben lang ein bunter Hund», sagt sie.

Obwohl sie erst als Erwachsene Deutsch gelernt hatte, drückt sie sich auffallend gewählt aus. Beiläufig erwähnt sie, dass sie sechs Sprachen spricht. Ohne ins Detail gehen zu wollen, deutet sie an, ihre Kindheit sei chaotisch und traumatisch gewesen, die Mutter depressiv und immer wieder in Krisen. «Schon mit sieben, acht Jahren musste ich oft für sie da sein statt umgekehrt.» Als Dalma 15 war, starb die Mutter an Krebs. Für eine «vernünftige Lebensplanung» sei sie zu impulsiv, sagt Dalma, vielmehr sei sie in vieles «so reingerutscht», habe eine wilde Jugend und ein aufregendes Liebesleben gehabt, sich für Kunst und Theater begeistert, mehrere Fächer studiert, erfolgreich im Ausland gearbeitet und sich schliesslich in der Schweiz niedergelassen. «Möglichst immer am Rande der Überforderung sein, das ist meine Lebensmaxime. Alles auskosten.» Doch Dalma verschweigt auch nicht, dass ihr Lebenshunger eine dunkle Seite hat. «Ich bin eine starke Frau», sagt sie, «aber irgendwo in mir drin gibt es einen kaputten Teil.»

2005 lernte sie über Parship Bruno Aebischer kennen. Nach wenigen Monaten waren die beiden verheiratet, bald kam Kai. Bruno reichte das eine gemeinsame Kind vollkommen, zumal auch Dalmas Sohn Michael aus einer früheren Beziehung bei ihnen lebte. Doch Dalma wollte mehr. Unstillbar sei ihr Wunsch nach einem dritten Kind gewesen, «das hat mich total gequält». Auf natürlichem Wege klappte es nicht, auch künstliche Befruchtung brachte keinen Erfolg. Also bewarben sich Dalma und Bruno um eine Adoption, doch wegen ihres fortgeschrittenen Alters und der Tatsache, dass sie bereits zwei Kinder hatten, rutschten sie nach ganz hinten auf der Warteliste.

Warum diese Vehemenz, Dalma? Weshalb glaubtest du, dieses Kind so unbedingt zu brauchen? Dalma wählt ihre Worte mit Bedacht, im Wissen, dass ihre Erklärung für meine Ohren seltsam klingen könnte. «Mein Wunsch war so übermächtig, dass ich glaubte, es sei gar nicht mein eigener, sondern meine verstorbene Mutter spreche da aus mir.» Dalma erzählt von Reinkarnation, von geheimnisvollen Mächten, die eine Verbindung zwischen den Generationen schaffen könnten. Ich bemühe mich, meine Irritation zu verbergen, doch Dalma spürt, dass mich ihre Äusserungen befremden. «Ich weiss, dass ich zur Mystifizierung neige», erklärt sie, «ich habe ein blumiges spirituelles Leben. In meiner Fantasie machte ich dieses Kind zu etwas Riesengrossem, ich habe es maximal überhöht. Ich glaubte, es könne mich irgendwie heilen.»

Im Herbst 2009 fuhr Dalma nach Osteuropa, um nach «ihrem» Kind zu suchen, erst allein, dann mit ihrer Familie. Wochenlang klapperte sie Spitäler und Waisenhäuser ab, sah wund gelegene, verwahrloste, halb verhungerte Babys ohne Ende. Roma-Frauen boten ihr für 2000 Euro ihr Kind zum Kauf an. Doch Dalma wollte nicht irgendein Kind, «ich wollte, dass ich es sofort als mein Kind erkenne». Den Namen wusste sie bereits: Lilia.

Als sie Lilia schliesslich in einem Kinderspital fand, zweifelte sie keine Sekunde, dass sie am Ziel war. Sofort habe sie eine Verbindung gespürt. «Sie war sehr klein und in grosser Not», sagt Dalma, «das hat mich ergriffen.» Das etwa zwei Monate alte Mädchen war schwer vernachlässigt und so mangelernährt, dass sein Überleben auf der Kippe stand. Die medizinisch geschulte Dalma erkannte zudem ein Schiefhals-Syndrom: eine Fehlstellung des Kopfs – gut therapierbar, sofern das Kind die entsprechende Behandlung bekäme. Dalma sprach mit einer Ärztin über eine mögliche Adoption. Noch existierte die Möglichkeit einer Entführung nicht einmal als Idee in ihrem Kopf. Die Mutter des Kindes sei eine in Frankreich lebende minderjährige Roma-Prostituierte, so erfuhr sie, der Vater unbekannt, niemand besuche das Kind oder erkundige sich nach seinem Zustand. Doch habe die Mutter das Mädchen zurückgelassen, ohne eine Adoptionsbewilligung zu hinterlegen. Ausserdem werde es vermutlich sowieso sterben, sagte die Ärztin. Dalma, wild entschlossen, «für dieses Kind alles zu tun», sprach mit dem Sozialarbeiter der Klinik. Doch auch er konnte nicht weiterhelfen. Nicht einmal mit Schmiergeld liessen sich die Dinge beschleunigen. Nirgends tat sich eine Tür auf. Da erst entschloss sich Dalma, das Kind einfach mitzunehmen. Die Konsequenzen ihres Handelns schob sie beiseite. Bruno und die Buben warteten derweil im Auto vor dem Spital. Lilias gesamtes Körperchen war von einem nässenden Ausschlag bedeckt. Später äusserte der Kinderarzt die Vermutung, dass sie wohl noch niemals mit Wasser gewaschen worden sei. Zwischen den Pobacken steckten ein Schwamm und alte, durchweichte Lumpen. Bei der ersten Gelegenheit hielten sie an, machten das Kind mit Feuchttüchern sauber, crèmten es ein, wickelten es und zogen ihm die Kleidung an, die sie zuvor besorgt hatten. Nachdem es ein Fläschchen und einen Nuggi bekommen hatte, schlief es satt und zufrieden ein. Dalma legte es zu ihren Füssen auf den Boden des Autos. Als sie die Grenze passierten, sah der Zöllner eine Familie mit zwei schlafenden Buben und einer halb wachen Mutter auf dem Rücksitz. Dass da auch noch ein Baby war, erkannte er nicht. «Das war kriminell», sagt Dalma, «auch dafür sitze ich.»

Zurück in der Schweiz, meldete Bruno das Kind beim Zivilstandsamt als Hausgeburt an. Die Beamten gratulierten herzlich, kurze Zeit später kam per Post die ID, und Lilia war ein Schweizer Mädchen. «Es war so verdammt einfach», sagt Dalma. Dem Kinderarzt und ihren Bekannten erzählte sie, sie habe das Kind adoptiert. Die ersten zwei Wochen befand sich Lilia noch immer in kritischem Zustand. Sie war so abgemagert und kraftlos, dass sie nur wimmern konnte. «Im Spital hatte ja keiner auf ihr Schreien reagiert», glaubt Dalma. Doch dann legte sie im Nullkommanichts an Gewicht zu, bekam Therapien beim Osteopathen und Chiropraktiker, eine Behandlung mit Infrarot-Licht, die ihren Hautausschlag abheilen liess, und das schönste Zimmer im Haus, mit Alpenblick. Als sie das erste Mal gebadet wurde, machte sie grosse Augen. «Wir waren sehr vorsichtig, sehr liebevoll mit ihr. Es war eine schöne Aufgabe, unheimlich erfüllend.»

Sie sei überzeugt davon gewesen, etwas Wertvolles zu tun, sagt sie mit fester Stimme, in der kein Zweifel hörbar ist. «Ich weiss, dass ich zu Recht im Gefängnis sitze. Ich habe die Strafe verdient, und ich sitze sie ohne Murren ab. Aber meine Absichten waren gut.» Würdest du es wieder tun, Dalma? «Nein. Aber ich bereue es trotzdem nicht. Ich bedaure einzig, dass ich meinen Liebsten Schmerzen bereitet habe, dass ich einen Schatten auf die unbeschwerte Kindheit meiner Söhne warf.» Brachte Lilia ihr das Gefühl von Ganzwerdung, nach dem sie sich so verzweifelt gesehnt hatte? «Ja», sagt Dalma. Doch das Glück war nur von kurzer Dauer.

Knapp zwei Monate nach der Entführung kam ihr die Polizei auf die Schliche. Zum Verhängnis wurde Dalma ein Zettel mit einer Telefonnummer, den sie im Spital hinterlassen hatte. Es war eine osteuropäische SIM-Karte, ihren Namen hatte sie nicht dazugeschrieben. Doch dieselbe Nummer hatte Dalma auch bei einer Mietwagenfirma benutzt, wo sie ihren Führerschein vorweisen musste, und sie hatte damit ihre Familie in der Schweiz angerufen. Ohne diesen blöden kleinen Fehler wäre jetzt wahrscheinlich alles gut, glaubt Dalma. Lilia wäre eine fröhliche Erstklässlerin, ihre Jungs zwei unbeschwerte Buben. «Wie konnte ich nur zulassen, dass man mich erwischt?», sagt sie. «Warum habe ich nicht besser aufgepasst?» Nicht die Tat selbst bereut sie, sondern ihre Dummheit, dabei nicht vorsichtig genug vorgegangen zu sein. Dalma ist nun sichtlich aufgelöst, sie bittet darum, das Gespräch abzubrechen, «das nimmt mich alles zu sehr mit». Wir verabreden, uns während eines ihrer kommenden Urlaube wiederzusehen, gemeinsam mit ihrer Familie.

Einige Wochen später lädt mich Bruno per SMS zum Kaffee ein. Auch die Buben sind dabei. Und Dalma. Einmal im Monat darf sie das Gefängnis für 32 Stunden verlassen. Dazu kommt ein fünfstündiger Urlaub mit Ausgangsrayon, der für einen kurzen Badeplausch mit der Familie im Berner Marzilibad reicht, für einen Besuch des Klee-Museums oder einen Kinofilm in Solothurn. Die Besuche im Gefängnis hat die Familie inzwischen eingestellt. Zu lang ist die Autofahrt, zu spartanisch der Besucherraum. Einmal durfte Dalma ihren Jungs die Zelle zeigen, sie schmückte den Raum mit Kerzen und Bildern. Michael und Kai waren fasziniert von der Toilette gleich neben dem Bett. «Ich hatte mir solche Sorgen gemacht, dass sie das entwürdigend finden könnten», sagt Dalma, «doch sie fanden es bloss praktisch, weil man nicht so weit laufen muss, wenn man nachts pinkeln geht.»

Die Stimmung am Familientisch in Aebischers gemütlichem Wohnzimmer ist bedrückt. Erst als wir schon mitten im Gespräch sind, realisiere ich, dass nur Dalma es gewohnt ist, offen über ihr Delikt zu sprechen. Für den Rest der Familie scheint das Thema wie ein Spaziergang im Minenfeld zu sein. Michael erzählt, wie er an jenem Morgen im Dezember 2009 aufstand, um sich ein Taschentuch für seinen Schnupfen zu holen, «und plötzlich stehen da all diese Leute, Polizei, Spurensicherung und so». Wie der damals 9-Jährige und sein sechs Jahre jüngerer Bruder in einem Streifenwagen zur Polizeistation gebracht wurden und dort lange sitzen mussten, bis jemand die beiden Buben in eine SOS-Pflegefamilie ins Appenzell fuhr. Wie er überhaupt nicht verstand, was los war und sich in seiner Verwirrung und Ratlosigkeit an niemanden wenden konnte. Zehn Tage später bewilligten die Behörden im Schnellverfahren, dass die Buben bei Brunos Schwester unterkommen konnten. «Kai schrie die Nächte durch», sagt Bruno, «er weinte nicht, er schrie.» Und Michael habe angefangen, sich zwanghaft die Hände zu waschen, bis sie entzündet und rissig waren und «aussahen, als habe er sie in Säure gebadet». Beide Buben sitzen zusammengesunken am Tisch, während Bruno erzählt. Weil es so offensichtlich ist, dass ihnen das Gespräch zusetzt, sage ich, sie müssten nicht bleiben, wenn es zu schwierig sei, über die schlimme Zeit zu sprechen. Erleichtert verschwinden sie in ihren Zimmern.

Bruno und Dalma wurde die Obhut über ihre Kinder entzogen. Sie kamen in zwei verschiedene Untersuchungsgefängnisse und durften erst nach Ende der viermonatigen Untersuchungshaft wieder Kontakt miteinander aufnehmen. Nach ihrer Heimkehr erhielten sie die Obhutsrechte schrittweise zurück. Lilia wurde in einem Schweizer Kinderheim untergebracht, das kostete die Aebischers 50 000 Franken. Denn die Behörden hatten Lilias biologische Mutter zwar bald ausfindig gemacht, doch es dauerte achteinhalb Monate, bis sie sie dazu überreden konnten, ihre Tochter in der Schweiz abzuholen. In Lilias Heimat schien niemand das Kind zu vermissen.

Es folgte ein jahrelanger Prozess mit mehreren Revisionen. Stets legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein, weil ihr das Urteil zu mild erschien. Entführung sei härter zu bestrafen als Mord, weil die Angehörigen nicht wüssten, ob ihr Kind überhaupt noch lebe, sagte ein Richter in seiner Urteilsbegründung. «Dabei gab es in diesem Fall doch gar keine Geschädigten», sagt Bruno. Dalma und Bruno wurden wegen qualifizierter Freiheitsberaubung und Entführung sowie Erschleichung einer Falschbeurkundung verurteilt. Nach Abzug der Untersuchungshaft blieben für Dalma, die Haupttäterin, 26 Monate übrig, die sie abzusitzen hatte. Bruno, ihr Komplize, kam mit 6 Monaten Halbgefangenschaft davon. Beide erhielten zusätzlich lange bedingte Gefängnisstrafen.

Im Bundesgerichtsurteil heisst es, Bruno sei Dalma «hörig» gewesen, «zumindest aber massiv von ihr abhängig». Bruno, hättest du Dalma diesen Wahnsinn nicht ausreden können? Du als ihr Ehemann, als Stimme der Vernunft? Erst schweigt Bruno für einige Augenblicke, dann bricht es umso heftiger aus ihm heraus: «Sie drohte, mich zu verlassen, wenn ich ihr nicht helfe, und es einfach allein durchzuziehen. Was wäre dann aus den Buben geworden?» Dalma habe behauptet, es sei ihre Bestimmung, das Kind zu sich zu holen. Manipulativ sei sie, aufbrausend, zuweilen geradezu besessen von einer Sache. «Besessen – nein …», wehrt sich Dalma, aber es stimme schon, ihre Stimmung unterliege starken Schwankungen. Manchmal jagten sich die Gedanken in ihrem Kopf so sehr, dass sie kaum Schlaf finde, und auch mit depressiven Phasen sei sie vertraut. Bruno, der, als die Buben noch mit am Tisch sassen, wie ein Fels in der Brandung wirkte, kann seine Wut nun kaum noch zügeln. Er spricht von Scheidung, sagt, er habe «das dauernde Auf und Ab» satt, «Immer muss ich der Besänftiger sein!». Es ist, als wäre ein Damm gebrochen, um seinem jahrelang aufgestauten Groll Platz zu machen. Unversehens finde ich mich inmitten eines Orkans wieder, den ich mit meinen Fragen ausgelöst habe, im naiven Glauben, Dalma und Bruno hätten diese Fragen längst miteinander geklärt – ein Irrtum. Höchstens ein- oder zweimal hätten sie in den vergangenen sechs Jahren über ihr Delikt geredet, sagt Bruno. «Wir müssen unsere Probleme zu zweit besprechen oder mit einem Paartherapeuten», sagt Dalma beinah flehentlich, «bitte, Bruno, ich lechze nach Gesprächen.» «Nein», knurrt Bruno, «denn dann sprichst wieder nur du, und alles, was ich sage, wird flachgeredet.»

Ihr Mann habe ihr verboten, mit ihm über das Delikt zu sprechen, sagt Dalma, als ich sie das nächste Mal in Hindelbank besuche. «Er verdrängt es und leidet noch immer wie am ersten Tag.» Äusserlich verhalte er sich absolut korrekt, schicke ihr Zigaretten und Telefonkarten, die er von ihrem Ersparten kaufe, doch innerlich platze er beinah vor Wut. «Eigentlich ist er wütend auf sich selbst, doch er projiziert alles auf mich. Ich bin schuld, ich ganz allein. Ich bin die Schuld auf zwei Beinen. Dabei ist er doch ein erwachsener Mann. Er hätte sich mir widersetzen können.» Glaubst du, ihr könnt diese Krise bewältigen, wenn Bruno nicht mit dir spricht, Dalma? «Ich weiss es nicht», sagt sie. Im Gefängnis habe sie lernen müssen, dass nichts in ihrer Macht stehe. «Hier sind mir die Hände gebunden. Alle Probleme bleiben wie eingefroren.» Doch Dalma sagt auch, wie gut Bruno für die Buben sorge, wie viel Mühe er sich gebe, sie während ihrer Haft zu ersetzen. «All die Geborgenheit, Liebe und Zeit, die er früher mir widmete, gibt er jetzt den Kindern. Damit kann ich mich arrangieren, denn sie brauchen seine Zuneigung dringender als ich.» Im Interesse der Kinder erlaubten die Justizbehörden den Eltern, ihre Haftstrafen aufeinander abzustimmen. Im Juni 2014 rückte Bruno ins Gefängnis ein. Da es sich bloss um Halbgefangenschaft handelte, war er jeden Morgen zum Frühstück wieder zuhause, ging später zur Arbeit und fuhr gegen 19 Uhr zurück ins Gefängnis. Sein Arbeitgeber wusste von der Strafe, doch er kündigte ihm nicht sofort, Bruno verlor seine Stelle in der Bank erst bei der nächsten Entlassungswelle.

Im Januar 2015 trat Dalma ihre Haftstrafe an. Zuvor war die ganze Familie nach Florida in die Ferien gefahren. Dalma hatte sich das so gewünscht. Am Tag an dem sie ins Gefängnis einrücken musste, nahm sie so viel Beruhigungsmittel, dass sie kaum noch etwas fühlte. Sie küsste die Kinder wie immer und sagte: «Wir sehen uns bald.» Dann fuhr Bruno sie nach Bern. Unterwegs hörten sie Radio und schwiegen. Es gab nichts mehr zu sagen.

In Hindelbank ist Dalma eine der wenigen Akademikerinnen unter den 107 inhaftierten Frauen. Manche Gefangene lachten über die «Harmlosigkeit» ihres Delikts, sagt sie, «ich bin hier echt der Softie-Häftling». Die Vollzugsbeamten werfen ihr vor, dass sie sich zu wenig integriere. Doch Dalma will sich gar nicht integrieren. «Ich möchte nicht wie eine dieser Frauen werden, die hier schön und gepflegt ankommen und sich innerhalb eines Monats nach ihrer Inhaftierung der Hoffnungslosigkeit ergeben.» Ihr Ziel ist es, «nicht mit einem Dachschaden rauszukommen». Also perfektioniert sie ihre Sprachkenntnisse und versucht, die Haft als eine Art Abenteuer zu betrachten, als exotische Erfahrung, die ihr Leben bereichern könnte, als Katalysator für ihre übersprudelnde Kreativität. Sie erzählt, wie sie kürzlich mit einem Gefangenentransport zu einer medizinischen Untersuchung gefahren wurde und in einer mit Exkrementen beschmierten Zelle in einem Berner Gefängnis Zwischenstation machen musste. «Ich habe das Muster meines Jupes angeschaut, damit meine Augen etwas Schönes sehen», sagt sie. Dann nimmt sie einen Fetzen Papier aus der Tasche und liest das Gedicht vor, das sie an diesem tristen Ort geschrieben hat: «Körpersilben, Sternenstaub, Gaumennächte, Rahmgulasch, Hirnragout, Hautfetzen, Nagelrinde …» Flüchtest du mithilfe deiner Kreativität in eine erträglichere Welt, Dalma? «Ja», sagt sie, «das habe ich schon als kleines Mädchen gelernt. Ich bin unkaputtbar.»

Dalma sagt, sie vermisse ihre Kinder entsetzlich, «aber ich muss diese Gefühle verdrängen, anders ertrage ich es nicht.» Jeden Abend ruft sie den Kleinen an, alle drei Tage spricht sie mit dem Grossen. Es gibt feste Rituale, die unbedingt eingehalten werden müssen. Kai braucht es wie eine tägliche Medizin, dass sie sich exakt mit den Worten «Ich habe dich sehr lieb, Kai» von ihm verabschiedet. Wehe, wenn sie einmal nicht bei der Sache ist, weil es eine Schlange vor der Telefonkabine gibt und eine andere Gefangene zum Aufhören drängt.

Ab Dezember wird sie die letzten Monate ihrer Haft im Arbeitsexternat absitzen dürfen, einer Art Halbgefangenschaft, und ihre Stelle wieder antreten. Ihr Chef weiss, wo sie in den vergangenen Jahren war, trotzdem nimmt er sie zurück. Dalma ist sich bewusst, was für ein Glück sie damit hat. Mit ihrer Rückkehr in den Job werde die finanzielle Schieflage, in die ihre Familie durch ihren Verdienstausfall und die Arbeitslosigkeit ihres Mannes geraten sei, endlich gelindert, so hofft sie. Den Kollegen in der Zahnklinik hat sie erzählt, sie nehme ein Sabbatical, um eine Weiterbildung zu absolvieren. Es war eine der vielen Schutzbehauptungen, ohne die eine geordnete Rückkehr in den Alltag wohl nicht möglich wäre.

Denkst du manchmal noch an Lilia, Dalma? «Oft, ich träume auch von ihr.» In ihren Träumen habe sie eine Schuluniform an, wie Dalma sie früher trug, weiss-blau kariert, mit Schürzchen. Sie sei schmutzig und ungepflegt und wisse nicht so richtig, wer Dalma sei, «aber da ist noch immer eine Verbindung zwischen uns». Dalma würde das Mädchen gern finanziell unterstützen, sie denkt darüber nach, es einmal während der Ferien in die Schweiz einzuladen, falls die Behörden es erlauben. Vor vier oder fünf Jahren hat sie in einer Zeitung gelesen, dass es seiner Mutter weggenommen worden sei, weil sie das Kleinkind mitten im Winter nackt ausgezogen und zum Betteln auf die Strasse gelegt habe. Die französischen Behörden hätten die Mutter wegen dieses und anderer Vorkommnisse des Landes verwiesen, sagt sie.

Ich zeige Dalma einen Zeitungsartikel, der im vergangenen Jahr bei einer osteuropäischen Online-Zeitung erschienen ist. Der Autor hatte das damals 6-jährige Mädchen in einer heruntergekommenen Roma-Siedlung aufgespürt. Die Mutter traf der Journalist dort nicht an, stattdessen jedoch einen jungen Mann, der behauptete, der Vater zu sein. Über die Lebensumstände seiner Tochter mochte er keine Auskunft geben. Gesprächiger zeigte sich der Gemeinde-Sozialarbeiter, der sagte, die Familie wohne noch immer in Frankreich, keiner wisse, wovon sie dort lebe. Von Zeit zu Zeit komme sie für einige Monate zurück in die Heimat und beziehe dort Sozialhilfegelder.

Hätte Lilia bei Dalma und Bruno nicht ein schöneres, leichteres, behüteteres Leben gehabt? Würde sie überhaupt noch leben, wenn Dalma den verwahrlosten Säugling nicht entführt und aufgepäppelt hätte? «Ich habe meine Strafe verdient», sagt Dalma. «Der Prozess ist hundertprozentig korrekt abgelaufen», sagt auch Bruno. Doch Recht ist eben nicht immer auch gerecht. Zumindest nicht für die verletzlichste Figur in diesem Drama: Lilia. 

Dalma Aebischer schreibt in einer Kolumne über ihren Alltag im Frauengefängnis Hindelbank: Brief aus dem Gefängnis