«Sie behaupten, weder Farbe noch Geschlecht zu kennen»
- Text: Brandy Butler; Foto: Rene Mosele
Frauen sind auf Festivalbühnen untervertreten, auch in der Schweiz. Auf annabelle.ch geben wir Schweizer Musikerinnen eine Bühne und lassen sie über das schreiben, was sie gerade beschäftigt. Der dritte Beitrag stammt von Brandy Butler.
In den vergangenen fünf Jahren meiner kreativen Arbeit habe ich immer mehr Zeit dem Aktivismus gewidmet. Ich bin den USA geboren und dort erzogen worden. Ich wuchs in einer Welt auf, die unglaublich vielfältig war, in einem Haushalt, in dem alle gleichberechtigt waren, in einer Familie, die sehr darauf bedacht war, der Gemeinschaft zu dienen, mit Eltern, die mir sagten, dass mutig zu sein und zu kämpfen die einzige Option ist.
Meine weisse Mutter, die erste Frau in ihrer Familie, die eine Hochschule besuchte, hat uns zu feministischen Kundgebungen mitgenommen. Mein afroamerikanischer Vater setzte sich leidenschaftlich für schwarze Politik ein und brachte uns alles über Huey Newton und die Black-Panther-Bewegung bei.
Nachdem meinen Eltern die Anzahl der im Pflegesystem angemeldeten Teenagerjungs auffiel, die kein liebevolles Zuhause fanden, öffneten sie unseres für sie. Über 15 Jahre hinweg waren es über 30 Kinder, die das «Butler Hotel» als ihr Zuhause bezeichneten. Wir waren bemüht, sowohl Rassismus als auch jede andere Art von Diskriminierung zu entlarven. Uns wurde klargemacht, dass es wichtig ist, die eigene Privilegiertheit im Leben anzuerkennen und sich für die einzusetzen, die Hilfe brauchen.
Dieses Fundament, das meine Eltern geschaffen haben, hat mich geformt und zu der Person gemacht, die ich heute bin. Ich bin stark und habe keine Angst, für Gerechtigkeit zu kämpfen und das hat mir in meinem Leben geholfen. Es hat mir geholfen, die Ungerechtigkeiten, mit denen ich als eine von zwei Frauen in einer von Männern dominierten Abteilung für instrumentalen Jazz konfrontiert war, zu akzeptieren. Es hat mich geleitet, als ich den Besitzer der Schule, für die ich in Westphiladelphia arbeitete, konfrontierte, der uns Lehrerinnen und Lehrer überarbeitet und ohne Ressourcen zurückgelassen hatte. Es hat mich darauf vorbereitet, mich für Studentinnen und Studenten einzusetzen, die in einem innerstädtischen Sommercamp schlecht betreut wurden. Es hat mir geholfen, für mich und andere Studenten in meinem Masterprogramm einzustehen, als wir das Gefühl hatten, dass wir nicht die Kurse bekamen, die wir brauchten, um angemessen ausgebildet zu werden. Dies sind nur einige Beispiele, aber ich denke, sie alle zeigen, dass der Kampf gegen Ungerechtigkeit und der Wunsch Dinge besser zu machen fest in meiner Natur verankert ist. Das waren die Erfolge meines Lebens – mich für eine Veränderung einzusetzen und damit etwas zu bewirken.
Auch in der Schweiz habe ich Erfolge erlebt, aber es sind andere. In einer Kultur, die auf einer vermeintlichen Neutralität aufgebaut ist, findet man sehr oft Entschuldigungen dafür, warum eine Veränderung nicht möglich ist. «Rassismus gibt es hier nicht.» «So etwas wie Ungleichheit gibt es nicht.» «Wenn du das Leben hier als schwierig empfindest, dann versuch es erst irgendwo anders.» Der Idealismus der Schweizer Neutralität hat vielen grosse Scheuklappen aufgesetzt. Menschen, die den Status Quo infrage stellen, werden schnell als problematisch bezeichnet.
Wenn hier in Diskussionen Worte fallen, die eine Notwendigkeit von Quoten wie «affirmative action» (positiver Diskriminierung) implizieren, schlagen die Leute um sich und fühlen sich sofort eingeengt. Sie wollen sich nicht von der Vorstellung leiten lassen, dass sie gezwungen sind, die Vielfalt tatsächlich einzubeziehen. Sie wollen nur die «besten Bands für ein Open Air» auswählen, egal was das heisst, und behaupten, weder Farbe noch Geschlecht zu sehen. Aber ich sehe es, wie viele andere auch. Jeder Mensch, der von der sogenannten Norm abweicht, sieht deren Existenz in den Regenbogenfarben der Vielfalt, die unsere Gesellschaft bereichern. Wir suchen überall nach Reflexionen von uns, weil uns das signalisiert, dass es okay ist, hier zu sein. Und obwohl wir oft Raum einnehmen, erhalten wir diesen fast nie kampflos. Was mich zur Schweizer Musikszene bringt.
In letzter Zeit habe ich viel Zeit damit verbracht, über die Situation in der Schweiz nachzudenken. Wenn man kritisch betrachtet, wie die Medien unter anderem über Kultur berichten, ist das Ergebnis überwältigend weiss und noch überwältigender männlich. Veraltete Bilder von Swissness dominieren sowohl die Print- als auch die Performance-Medien. Diese Bilder haben einen folkloristischen Aspekt, sie erfüllen den Wunsch, eine Geschichte zu bewahren und zu erhalten – was absolut notwendig ist. Aber ich bin mir nicht wirklich sicher, warum uns diese Bilder noch immer als dominierendes Narrativ verkauft werden, wenn sie eindeutig nicht mehr der Realität entsprechen.
Die Diversitätsstatistik der Schweiz besagt, dass im Jahr 2017 jeder dritte Schweizer einen Migrationshintergrund hat. Wenn die Statistiken auch Kinder unter 15 Jahren einbeziehen, steigt die Migrationsquote um bis zu 50 Prozent. Und 50,4 Prozent der Schweizer Bevölkerung sind laut den Zahlen von 2016 weiblich.
Mit dem Wissen um diese Zahlen, stellt sich für mich nicht mehr die Frage «Ist die Schweiz wirklich nur überwiegend weiss und männlich?», sondern «Warum präsentiert sich die Schweiz in diesem Licht?» Wer sind die Menschen, die entscheiden, wie Kultur repräsentiert wird? Warum ist es in ihrem Interesse, das Bild eines Landes zu zeigen, das dessen Vielfalt nicht widerspiegelt?
Kulturelle Institutionen haben die Pflicht, ihre Communities dort abzuholen, wo sie sich befinden. Es sollte langfristiges Interesse dieser Kultureinrichtungen sein, sich mit ihren jeweiligen Communities auseinanderzusetzen und sich für diese zu engagieren, um sicherzustellen, dass sie im Laufe der Zeit eine verbindliche Verbindung zur Gesellschaft herstellen. Wir haben zum Beispiel bei der NoBillag-Initiative gesehen, dass viele Menschen bereit waren, das gesamte freie Mediensystem zu verschrotten, weil sie sich von ihm getrennt fühlten und seinen wahren Wert nicht sehen können.
Ich weiss, dass das Kämpfen anstrengend und überwältigend sein kann. Eine Freundin sagte mir kürzlich: «Frauenfeindlichkeit zu bekämpfen, ist wie flussaufwärts zu schwimmen». Ich hätte es nicht besser beschreiben können. Doch selbst bei der grössten Anstrengung werde ich nicht aufhören, für die Ermächtigung der Frauen zu kämpfen, sei es in der Musikszene, im Schlafzimmer oder als berufstätige Mutter – weil ich so erzogen wurde. Ich bin die Frau, die einen Rapper mit seinen sexistischen Texten konfrontiert oder andere Frauen in der Szene, die negative Botschaften verbreiten, wie: «wenn Frauen nur härter arbeiten würden, würden sie den Beifall bekommen, den sie verdienen». FUCK THAT!
Nennen Sie mich eine Diva, wenn Sie wollen, aber es macht mich wütend, wenn Musikerinnen behandelt werden, als ob ihnen das technische Verständnis fehlen und sie den Unterschied zwischen zwei Monitoren, die lauter oder leiser eingestellt sind, nicht erkennen würden. Ich habe keine Probleme damit, flussaufwärts zu schwimmen! Aber bitte beachten Sie – und hier spreche ich alle Frauen an: Alles, was ich tue, tue ich für uns. Denn ich möchte, dass es besser wird für uns. Wir haben etwas Besseres verdient, als das, was wir bekommen und weil ich dazu programmiert bin, für etwas Besseres zu kämpfen, werde ich nicht aufhören, bis wir bekommen, was wir verdienen.
Es ist an der Zeit aufzuhören, uns von anderen Leuten anhören zu müssen, wir wären einfach nicht talentiert genug, oder sie sagen zu lassen, dass sie unsicher sind, ob wir überhaupt auf einer Bühne stehen wollen, oder dass das eigentliche Problem ist, dass wir einfach nicht um Erlaubnis bitten, auf ihren Veranstaltungen zu spielen. Das sind Ausreden, die nicht der Realität entsprechen – also bitte akzeptieren Sie sie nicht!
Fühlen Sie sich frei, endlich für die Veränderung einzustehen, von der wir alle wissen, dass wir sie verdienen. Und verlassen Sie sich darauf, dass ich Ihnen weiterhin den Rücken freihalten werde.
Die Jazz- und Popmusikerin Brandy Butler darf sich eine der etabliertesten Künstlerinnen der Schweiz nennen. Die ausgebildete Jazz-Musikerin stand unter anderem mit Künstlern wie Seven, Sophie Hunger, Erika Stucky, Sina oder Phenomden auf der Bühne, sie ist durch Europa, Amerika und Afrika getourt und ist ausserdem einem breiten Publikum durch ihre Teilnahme bei «The Voice of Switzerland» aufgefallen. Brandy lebt mit ihrer Tochter in Zürich.
Bühne frei für alle
Meist sind es noch immer Männer oder Männerbands, die an grossen Festivals auf den Hauptbühnen stehen – obwohl es sowohl in der Schweiz als auch international viele interessante und talentierte Künstlerinnen gäbe. Wir bitten diesen Sommer fünf Schweizer Musikerinnen auf unsere Bühne und lassen sie mit einer Carte Blanche laut über das nachdenken, was sie gerade in ihrem Leben als Kreative in der Schweiz beschäftigt. Dies ist der zweite Beitrag der Reihe, alle weiteren finden Sie hier.