Pünktlich zum Jahrestag des historischen Frauenstreiks lancieren Dutzende von Organisationen und über 130 Persönlichkeiten aus Politik, Justiz und Kultur einen nationalen Appell für eine zügige Reform des Sexualstrafrechts. Die Forderung: Sex ohne Einwilligung muss bestraft werden können.
Nach Ansicht der Gerichte wäre mehr Widerstand durchaus zumutbar gewesen. Sie hätte sich physisch wehren oder das Zimmer verlassen können. Doch sie hatte sich nur verbal gegen seine Avancen gewehrt, hatte ihm gesagt, dass sie das nicht wollte. Zu mehr Abwehrhandlungen oder gar zu heftigem, körperlichem Widerstand ist sie nicht in der Lage gewesen, gab sie später an, dafür sei sie zu schockiert und verblüfft gewesen. Mehr noch: Sie sei sich vorgekommen wie eine Puppe. Er musste weder Gewalt anwenden, noch sie mit Drohungen gefügig machen, sie hatte den ungewollten Geschlechtsverkehr letztlich einfach geduldet. Die Gerichte bestritten zwar nicht, dass der Beschuldigte ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht verletzt hatte. Sie hielten sogar fest, dass er klar erkannt hatte, dass er gegen ihren Willen wiederholt den Geschlechtsverkehr mit ihr vollzog, und gestanden ihr deshalb eine Genugtuungssumme von 3000 Franken zu. Doch wurde der Täter schliesslich vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Der Grund: Im geltenden Recht fehlt der Tatbestand, der sexuelle Handlungen ohne oder gegen den Willen einer Person unter Strafe stellt.
Rund 430 000 Frauen sind von erzwungenen Geschlechtsverkehr betroffen
Dieser Fall wurde im Essay «Reformbedarf im schweizerischen Sexualstrafrecht. Egoistisch, rücksichtlos, kaltherzig – aber strafrechtlich nicht relevant?» in der rechtswissenschaftlichen Zeitschrift «Sui Generis» beschrieben. Es ist einer der wenigen, der überhaupt zur Anzeige gelangt und somit dokumentiert ist, denn solche Fälle kommen nur selten ans Tageslicht. Sie bleiben im Dunkeln, aus Scham oder weil die betroffenen Frauen (und Männer) davon ausgehen, dass sie vor Gericht keine Chance haben würden, da sie sich nicht genügend gewehrt hatten und deshalb lieber schweigen, als ein Verfahren anzustreben. Anhaltspunkte dafür, wie hoch die Dunkelziffer in der Schweiz ist, lieferte letztes Jahr erstmals eine repräsentative Umfrage des Marktforschungsinstituts Gfs Bern, die im Auftrag von Amnesty International unter fast 4500 Frauen erstellt wurde: So hat jede fünfte Frau mindestens einmal in ihrem Leben ungewollte sexuelle Handlungen erlebt, zwölf Prozent haben Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen erlitten. Auf die Gesamtzahl der Frauen in der Schweiz hochgerechnet sind insgesamt rund 430 000 Frauen von erzwungenem Geschlechtsverkehr betroffen – was ungefähr der Bevölkerung der Stadt Zürich entspricht.
Besserer Schutz vor sexualisierter Gewalt
Nun wird mit Nachdruck eine Revision des Schweizer Strafgesetzes gefordert. Pünktlich zum Jahrestag des historischen Frauenstreiks lancieren über 130 Persönlichkeiten aus Justiz, Politik und Kultur sowie 55 Organisationen einen Appell für ein zeitgemässes Sexualstrafrecht, das einen besseren Schutz vor sexualisierter Gewalt bieten und das grundlegende Recht auf sexuelle Selbstbestimmung garantieren soll. Ziel ist, dass alle sexuellen Handlungen ohne Einwilligung angemessen bestraft werden können. Zu den Unterstützerinnen gehören unter anderen die FDP-Nationalrätin und amtierende Nationalratspräsidentin Isabelle Moret, CVP-Ständerat Charles Juillard sowie die grüne Genfer Ständerätin Lisa Mazzone. «Es ist wichtig, dass Frauen – aber auch Männer – erfahren», sagt sie, «dass man sich nicht dafür verantwortlich fühlen muss, wenn die andere Person nicht hört oder hören will.»
Dem «Freezing» Rechnung tragen
Mit dieser Neuerung würde nicht nur eine Lücke geschlossen, sondern auch ein veraltetes Sitten- und Geschlechterbild revidiert, auf dem das Sexualstrafgesetz der Schweiz beruht. «Die sexuelle Selbstbestimmung der Frau wird noch immer zu wenig ernst genommen, ja, sie wird sogar verniedlicht», sagt Kathrin Bertschy, GLP-Nationalrätin und Co-Präsidentin von Alliance f, dem Dachverband der Schweizer Frauenorganisationen. «Die Vorstellung, dass Frauen sich zieren oder sich sexuell erobern lassen wollen und Ja meinen, wenn sie Nein sagen, hält sich hartnäckig in den Köpfen fest. Dabei heisst Nein schlicht und einfach Nein.» Das heutige Strafrecht suggeriert, dass eine Frau sexuell zur Verfügung steht, dass man sich so lang an ihr bedienen kann, bis sie sich mit allen Kräften dagegen zu Wehr setzt, ergänzt Cyrielle Huguenot, Verantwortliche für Frauenrechte bei Amnesty International. «Tut sie es nicht, wird ihr eine Mitschuld vorgeworfen. Und das ist zutiefst problematisch.» Problematisch auch deshalb, weil dabei falsche Erwartungen an das Opfer gestellt werden, erklärt sie. Denn längst ist wissenschaftlich belegt, dass Erstarren, «Freezing», das heisst, stumm zu bleiben, unfähig zu sein, sich physisch zu wehren oder sich gar vom eigenen Körper losgelöst zu fühlen, häufige natürliche Reaktionen sind auf sexualisierte Gewalt. Diesem Phänomen gilt es vermehrt Rechnung zu tragen. Folglich soll bei einer Revision der Fokus vermehrt darauf gelegt werden, nachzufragen, warum sich die Beschuldigten so «sicher waren, dass ihr Gegenüber dem Sex zugestimmt hat.» Mit einer Gesetzesänderung wird Opfern auch ganz grundsätzlich das Signal ausgesendet, dass der erlittene Übergriff nicht länger als Kavaliersdelikt bagatellisiert, sondern als erhebliches Unrecht betrachtet wird, das gesetzlich bestraft werden kann, betont Cyrielle Huguenot. Letztlich aber blieben solche Delikte in den meisten Fällen «Vieraugendelikte», die nicht einfach zu beweisen sind. Die Unschuldsvermutung wird bei einer Revision aufrechterhalten.
Nun liegt der Ball beim Eidgenössischen Justizdepartement EJPD. Bis Ende Sommer will es Vorschläge präsentieren, wie das Strafrecht sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person behandeln soll, wenn weder Gewalt noch Drohungen vorliegen, und wie die Tatbestände «sexuelle Nötigung» und «Vergewaltigung» entsprechend ergänzt werden können. Und die Chancen, dass dies auch tatsächlich geschieht, stehen nicht schlecht. Lisa Mazzone gibt sich diesbezüglich zumindest vorsichtig optimistisch. Sie nehme in Bundesbern eine überraschende Offenheit wahr, sagt sie. «Man merkt, dass in der Gesellschaft heute ein neues und besseres Verständnis für dieses Anliegen herrscht.»
Diese neue Offenheit könnte die Schweiz dazu bringen, an einen internationalen Trend anzuschliessen. Denn in Folge der Ratifizierung der Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt an Frauen und häuslicher Gewalt, haben viele europäische Länder angekündigt, die strafrechtliche Definition von Vergewaltigung neu zu definieren. Deutschland, Schweden, Irland oder Belgien haben es bereits getan, in diesen Ländern wird Geschlechtsverkehr ohne Zustimmung als Vergewaltigung geahndet. Zeit, dass die Schweiz mitzieht.
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