Hat die Schweizer Musikszene ein Sexismusproblem? Junior Online Editor Miriam Suter hat mit Kulturschaffenden darüber gesprochen.
Ich war schon immer ein riesiger Musikfan. Der grösste Teil meiner Adoleszenz fiel in eine Zeit, in der Indie-Bands ihr grosses Revival feierten. Damals standen praktisch nur Männer auf den Bühnen der Festivals und Clubs – auch in der Schweiz. Das fand ich natürlich nicht schlecht und verliebte mich täglich neu in einen Jungen in engen Hosen mit Gitarre. Aber mir fehlten die weiblichen Idole in der Musikwelt, mit denen ich mich identifizieren und deren Konzerte ich besuchen konnte. Ich wurde älter, kaufte mir Platten von Patti Smith und Sleater Kinney und sah mir laute Frauenbands in kleinen Kellerclubs an. Und begann mich zu fragen: Wo sind eigentlich die Frauen auf den grossen Bühnen? Diese Frage beschäftigt mich schon lange. Und warum scheint es für Musikerinnen im Allgemeinen schwieriger zu sein, Erfolg zu haben? Also machte ich mich auf die Suche nach Antworten.
It’s a Man’s World
«Was ist denn dein Problem, Frauen sind ja momentan in den Charts sehr gut vertreten», meinte letztens ein Bekannter zu mir. Das mag stimmen. Aber diese Tatsache verstärkt eigentlich meine Frage: Warum sind sie dann beispielsweise an den Festivals nicht ebenso sichtbar? Fest steht: Die Musikwelt ist eine Männerdomäne. An den diesjährigen Musikfestivals in der Schweiz siehts jedenfalls grösstenteils mau aus mit dem Frauenanteil. Am Open-Air St. Gallen treten 42 Acts auf, darunter 14 Frauen – solo, als Teil einer Band oder als DJ. Am Zürich Openair steht zwar noch nicht das ganze Programm, der aktuelle Stand ist aber dennoch ernüchternd: Unter den 16 bestätigten Acts sind 2 Frauen. Nicht ganz so gravierend, aber ähnlich sieht es nach aktuellem Stand der bestätigten Acts am Gurtenfestival aus: Unter den 51 auftretenden Bands findet man elf Frauen.
Philippe Cornu bucht die Bands fürs Gurtenfestival und sagt: «Es gibt unbestritten weniger Musikerinnen als Musiker, die E-Gitarre, Schlagzeug oder Bass spielen. Gesang und Keyboards sowie Saxofon sind unter den Frauen eher verbreitet. Warum dies so ist, hat geschichtliche Hintergründe in der gesellschaftlichen Entwicklung und der Stellung der Frau.» Cornu ist der Ansicht, dass Frauen als Musikerinnen und aufgrund ihrer Musik und nicht aufgrund ihres Geschlechts beurteilt werden sollen: «Wir achten im Bookingprozess nicht zwingend auf das Geschlecht, sondern darauf, welche Band, Musikerin oder Musiker gefällt, passt und auch auf Tour ist.»
Auch Fabienne Schmuki, Co-Geschäftsführerin der Zürcher Indie-Musikagentur Irascible Music, Kommissionsmitglied beim Popkredit der Stadt Zürich und Gründungsmitglied vom Musikverband Indie Suisse, findet: «Die Musikwelt ist eine Welt der Männer. In den Führungsetagen der grossen Schweizer Musiklabels gibt es kaum Frauen, wir besetzen vor allem die Positionen im Marketing oder der Kommunikation.» Sie selbst hätten beim Berufseinstieg keine weiblichen Vorbilder gehabt. Schmuki hat, wie sie selbst sagt, eine «Männerschule» genossen: «Ich arbeite viel mit Männern zusammen. Der Umgangston ist schon anders, rau, die Witze sind dreckiger. Aber wenn man damit keine Probleme hat, kann man sich in diesem Männerverein gut behaupten.»
«Du bist doch nur ein Groupie!»
Eine Frau, die in ihrem Leben schon auf vielen Bühnen gestanden ist, ist Salome Buser. Sie spielt Bass in der Schweizer Bluesband Stiller Has. «Mir passiert es öfter, dass ich an meinen eigenen Konzerten nicht in den Backstage-Bereich gelassen werde, weil man mir nicht glaubt, dass ich zur Band gehöre», erzählt sie. «Man sagt mir dann, ich sei doch nur ein Groupie, das reiche halt nicht, um hinter die Bühne zu kommen. Meine Bandkollegen haben keine solchen Probleme.» Einmal musste Buser sogar Eintritt für ihr eigenes Konzert bezahlen, um den Anfang nicht zu verpassen – weil das Eingangspersonal ihr nicht glaubte, dass sie Teil der Band ist. Logisch, dass so wenig Frauen auf den Bühnen stehen, wenn man sie nicht hinauflässt. Ihre Bandkollegen haben Busers Erlebnisse übrigens nicht ernst genommen, bis ein Selbstversuch Klarheit schaffte: Die Bassistin liess vor einem Konzert die ganze Band vor ihr in den Backstage-Bereich marschieren und wurde als Einzige nicht durchgelassen: «Das hat ihnen die Augen geöffnet.»
Buser fügt an: «Vielleicht liegt es daran, dass generell weniger Instrumentalistinnen auf der Bühne stehen und wir deshalb nicht so stark als Musikerinnen wahrgenommen werden. Sondern in erster Linie als Frauen, die sich zuerst einmal beweisen müssen.» Bleibt einer Musikerin also als einziger Ausweg, ihr Instrument in die Ecke zu stellen und ausschliesslich zu singen, um respektiert zu werden? Dass auch das keine Lösung ist, bestätigt die Schweizer Singer-Songwriterin Sophie Hunger: «Das Musikbusiness in der Schweiz ist sehr männerdominiert. Da hört man schnell mal: Komm Schatz, sing du, ich mach das hier mit den komischen Knöpfen!» Und sie ergänzt: «Man wird als Musikerin in Interviews gefragt, warum man keine Kinder hat, ob das Touren keine Zumutung sei, was der Papa von Beruf war und warum man Erfolg hat. Ich höre diese Stories seltener bei männlichen Kollegen.»
Dass Musikerinnen vor allem von Männern im beruflichen Umfeld weniger ernst genommen werden, bestätigen auch Sibill Urweider und Belinda Aréstegui. Die beiden Mittzwanzigerinnen spielen zusammen mit zwei Männern in der Berner Indieband I Made You A Tape: Urweider spielt Synthesizer und singt, Aréstegui ist Bassistin. «Es kommt oft vor, dass beispielsweise die Techniker nur mit den Jungs reden, wenn wir in der Konzertlocation ankommen. Da wird in unserem Beisein, über unsere Köpfe hinweg, über das Konzert diskutiert, das ja auch unser Konzert ist», erzählt Urweider. Und für Belinda Aréstegui gehören Sprüche wie «Du spielst echt gut Bass für eine Frau» von Zuschauern zum Alltag. «Das ist aber meistens nicht böse gemeint, sondern eher als Kompliment», sagt sie. Und auch Salome Buser findet: «Ich werde deswegen nicht aufhören, Musik zu machen. Auch, um andere Frauen zu ermutigen, sich nicht unterkriegen zu lassen.»
Die Hoffnung stirbt nicht
Eins ist klar: Mit dafür verantwortlich, dass es in der Schweiz weniger bekannte Musikerinnen als Musiker gibt, sind die fehlenden weiblichen Vorbilder. Und weniger Frauen auf den Bühnen bedeutet weniger Nachahmerinnen – ein Teufelskreis. Eine mögliche Lösung des Problems sieht Sibill Urweider in der ausgeglichenen musikalischen Förderung von Mädchen und Buben, um die Chancengleichheit bereits im Kindesalter voranzutreiben. Urweider arbeitet neben der Band als Musiklehrerin und erzählt: «Wenn wir in der Musikschule Tag der offenen Tür haben, werden Mädchen von ihren Müttern eher dazu motiviert, sich am Klavier oder an der Querflöte auszuprobieren. Auch, wenn die Mädchen Lust auf die E-Gitarre oder das Schlagzeug hätten.» Urweider arbeitet dann jeweils mit kleinen Tricks: «Das letzte Mal hat jedes Kind, das mindestens vier verschiedene Instrumente ausprobiert hat, bekam ein Jojo geschenkt. Darunter mussten aber eben auch Schlagzeug und mindestens ein Blasinstrument sein, damit nicht nur Geige und Klavier getestet werden.»
Frauenförderung in der Musik ist also essenziell. Eine Frau, die sich dafür einsetzt, ist die Bernerin Regula Frei. Sie leitet seit 2011 die Geschäftsstelle des Schweizer Vereins Helvetiarockt, eine Koordinations- und Vernetzungsstelle für Musikerinnen aus den Sparten Jazz, Pop und Rock. Ab 2016 führt der Verein gemeinsam mit den Musikschaffenden Schweiz und dem Schweizer Musik Syndikat jedes Jahr im Juni den Empowerment Day durch. Hier treffen sich Berufsschaffende aus dem Schweizer Musikbusiness – auch Vertretungen aus Veranstaltungstechnik, Wirtschaft, Politik und Bildung – mit der Präsenz, dem Status und dem Anteil der Frauen und Männer in der Schweizer Jazz- und Pop-Musikszene auseinandersetzen. Zusätzlich bietet der Verein immer wieder Kurse an, beispielsweise, wie man auch im Studio zuhause Musik aufnehmen kann, oder die Female Bandworkshops für junge Musikerinnen.
«Durch meine jahrelange Arbeit in der männerdominierten Musikbranche habe ich gemerkt, dass noch keine Gleichberechtigung herrscht. Hier will ich etwas ändern, etwas bewegen», so Frei. Anfangs habe sie gedacht, in zehn Jahren brauche es Helvetiarockt nicht mehr – «das muss ich wohl revidieren, solche Anliegen brauchen mehr Zeit als gedacht», sagt die Bernerin lachend. Die Hoffnung gibt sie aber nicht auf.
Genauso geht es auch Salome Buser, Sibill Urweider, Belinda Aréstegui, Fabienne Schmuki und Sophie Hunger: Sie glauben daran, dass sich das Frauenbild und damit die Präsenz von Musikerinnen verbessern wird. Dafür muss aber ein gesellschaftliches Umdenken stattfinden. Und Sophie Hunger spricht mir diesbezüglich aus dem Herzen: «Solange die Gleichheit nicht da ist, ist Feminismus für jede Frau, die sich geistig nicht unterworfen hat, Ehrensache. Leider ist Feminismus in Europa noch immer etwas extrem Unattraktives. In den USA sind Frauen wie Emma Watson, Beyoncé, Lena Dunham oder Taylor Swift stolz auf den Feminismus und werden dafür bewundert. Da sind wir Europäer duckmäuserischer, als wir gern denken. Aber in einer selbstbewussten, klugen, freien Gesellschaft sollte das voller Freude und Eleganz bestehen. Und da glaube ich an die Schweiz.»