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«Älterwerden ist der ultimative Wandel»: Senior:innen über den Lauf der Zeit

Zeitgeist

«Älterwerden ist der ultimative Wandel»: Senior:innen über den Lauf der Zeit

  • Text: Sandra Brun
  • Bilder: Nicolas Haeni; Redaktion: Nathalie De Geyter, Mariella Ingrassia

Wie sieht man Wandel, wenn man ihn schon seit Jahrzehnten beobachtet? Und ändert sich die Welt aktuell tatsächlich so schnell wie noch nie? Oder dachte man das schon früher? Wir haben mit vier Senior:innen darüber gesprochen.

Claudia Coray (70): «Wandel bedeutet auch ein Auflösen von Standards»

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«Als ich um die 20 war, fand ein Haltungswandel statt, das war wahnsinnig spannend. Mit der Peace-Bewegung und Woodstock hatte ich wirklich das Gefühl, die Welt werde friedlicher. Etwas Besseres kann dir eigentlich gar nicht passieren! Und mit den Jahren stellte ich irgendwann ernüchtert fest, dass der Wandel doch nicht so gravierend war. Es gab gleichwohl wieder Umbrüche – auch gute, wie den Mauerfall – aber auch neue Konflikte, immer wieder.

Und trotzdem hatten wir jetzt eine längere Phase der Ruhe, die durch Corona und die aktuellen Kriege aufgebrochen wurde. Das hat uns aus dem Trott gerissen. Deshalb reagieren wir vielleicht auch mit so viel Angst.

Wandel bedeutet eben auch ein Auflösen von Standards. Gerade in der Schweiz will man diese aber oft stur bewahren, klammert sich an alte Werte. Das finde ich extrem uninspiriert. Viele wollen ja beispielsweise immer noch ein Häuschen im Grünen. Das wird uns als erstrebenswert eingeimpft. Und dann echauffieren sich alle über steigende Immobilienpreise und dass sich niemand mehr Eigentum leisten könne – dafür bindet das doch nur. Festhalten ist für mich das Gegenteil von Wandel. Und ich glaube der ist per se wichtig. Er lässt uns loslassen, neugierig bleiben.» – Claudia Coray (70)

Roland Haeni (71): «Früher waren wir weniger misstrauisch einander gegenüber»

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«Was das Klima betrifft, findet natürlich ein Wandel statt; schon lange. Aber aktuell wird den Menschen so extrem Angst gemacht, dass sie resignieren. Im Sinne von: Wenn eh alles verloren ist, muss ich mir ja gar keine Mühe mehr geben und kann einfach noch so lange wie möglich vom Status quo profitieren. Dabei könnte man die Zukunft positiv beeinflussen, wenn alle mitmachen würden.

Wir kapseln uns zu sehr voneinander ab, kommunizieren nicht mehr miteinander. Früher war sicher nicht alles besser, aber manchmal denke ich, wir waren weniger misstrauisch einander gegenüber. Ich bin ständig via Autostopp verreist – heute nimmt einen doch niemand mehr mit, ich könnte ja ein komischer Kauz sein.

Der Austausch mit anderen ist, was ich mir erhalte, was mir wichtig bleibt. Und die Familie. Jetzt bin ich über 70 und wechsle plötzlich wieder meinem 7-monatigen Enkel die Windeln und koche Gemüsebrei. Reise dadurch 40 Jahre zurück in eine Zeit, in der ich das schon mal gemacht habe. Ein positives Zurückgehen, nochmal anfangen, das finde ich schön.» – Roland Haeni (71)

Griselda Gruber (85): «Nichts taucht aus einem Vakuum auf, wir wachsen ja mit»

«Im Grunde ändert sich gar nichts. Wir haben immer Krieg, immer Frieden, immer Immigration – jetzt kommen Menschen aus anderen Ländern zu uns, früher wanderten wir Schweizer:innen aus bis nach Amerika. Der grosse Wandel findet nicht statt, es ist vielmehr eine Weiterentwicklung.

Was neu auf uns zukommt, ist vielleicht im ersten Moment schon angsteinflössend. Als die ersten Züge fuhren, die ersten Autos, da hatte man auch befürchtet, dass die Welt untergehe. Dabei war auch das nur eine Entwicklung, die sich vorher bereits angebahnt hatte. Nichts taucht aus einem Vakuum auf, wir wachsen ja immer mit. Als Gesellschaft – aber auch persönlich.

Als ich 14 war, fand ich alle über 30 uralt. Das maximal noch akzeptable Alter war für mich damals 40. Mir war klar: Wenn ich da hinkomme, will ich keinen Tag länger leben. Je älter ich wurde, desto weiter habe ich das rausgeschoben, plötzlich fand ich 50 hochinteressant. Und jetzt bin ich immer noch hier und mochte jedes Alter gern.» – Griselda Gruber (85)

Irene Lauper (67): «Das Aufkommen der Frauenfrage bewegte»

«Das Aufkommen der Frauenfrage – die Veränderung in Gesellschaft, Familie, Beruf – bewegte. In der Schule, in Familien, überall wurde darüber gesprochen. Die Einführung des Frauenstimmrechts war dann sehr eindrücklich. Endlich konnten Frauen mitbestimmen, für mehr Rechte kämpfen, für Gleichberechtigung, bessere Vereinbarkeit. Und tun es bis heute.» – Irene Lauper (67)

Mehr Bilder der Protagonist:innen findet ihr in der Modestrecke der aktuellen annabelle-Spezialausgabe zum Thema Wandel. Ab heute am Kiosk.

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