Kjerstin Gruys hat ein Jahr lang in keinen Spiegel geschaut – nicht einmal am Tag ihrer Hochzeit. Und hat dadurch ein ganz neues Bild von sich entdeckt.
ANNABELLE: Kjerstin Gruys, ich wollte einen Tag lang allen Spiegeln entsagen – und bin um zehn Uhr morgens gescheitert. Wie um Himmels willen haben Sie es ein Jahr ohne ausgehalten?
KJERSTIN GRUYS: Eine gute Frage, vor allem wenn man bedenkt, dass ich nie auch nur einen Neujahrsvorsatz eingehalten habe. Ein Jahr ohne Spiegel war da ein Mammut-Unterfangen! Aber ich war richtig motiviert.
Was war der Auslöser?
Alles begann damit, dass mein Freund mir einen Heiratsantrag machte. In dem Moment, in dem ich mich total schön hätte fühlen sollen, war ich todunglücklich mit meinem Aussehen. Jede Braut spürt zusätzlichen Schönheitsdruck. Trotzdem sagt keine dem Spiegel Adieu. Es begann ja schon viel früher; in der Highschool und am Anfang des Studiums litt ich an Anorexie und Bulimie. Auch damals sagten mir die Leute, wie hübsch ich sei. Aber ich empfand hübsch sein als Versagen. Als eine Art von Niederlage. Nach dem Antrag hatte ich Angst, wieder ins alte Fahrwasser zu geraten.
Die westliche Kultur ist schönheitsversessen. Das prägt unser Leben.
Absolut. In den Vereinigten Staaten verdienen überdurchschnittlich gut aussehende Frauen zwölf Prozent mehr als durchschnittlich aussehende. Sogar gut aussehende Kriminelle bekommen weniger harte Strafen als andere. Wir leben in einer Gesellschaft, die Frauen dafür bestraft, übergewichtig zu sein. Mit der Folge, dass in den USA heute 81 Prozent der zehnjährigen Mädchen Angst davor haben, dick zu werden. Auch in der Schweiz halten sich 30 Prozent der normalgewichtigen Mädchen für zu dick.
Als Soziologin sind Sie in Ihrem Arbeitsalltag ständig mit solchen Fakten konfrontiert. Dies dürfte Ihre Hochzeitsvorbereitungen nicht eben begünstigt haben.
Wissen Sie, meine Hochzeitsvorbereitungen haben mir den fundamentalen Widerspruch zwischen meinen Werten und meiner Eitelkeit vor Augen geführt. In meinen Seminaren und Vorträgen vertrat ich feministische Haltungen. In meiner Freizeit verzweifelte ich, weil mir das perfekte Hochzeitskleid nicht passte. Kurzum? Schönheit bedeutet Unterdrückung, Schönheit bedeutet Patriarchat, Schönheit ist antifeministisch. Aber ich wollte trotzdem schön sein, ging zur Manicure und Pédicure und verbrachte jede Menge Zeit mit Shopping. Dieser Widerspruch und die Angst vor erneuten Essstörungen waren mir zu viel. Der Spiegel-Entzug sollte es richten.
Wieso mussten ausgerechnet die Spiegel weg und nicht die Waage?
Ich las damals das Buch «The Birth of Venus» von Sarah Dunant. Darin verbringen Nonnen ihr gesamtes Leben, ohne einmal ihr Gesicht und ihren Körper zu betrachten. Das inspirierte mich.
In unserem Alltag sind wir umgeben von reflektierenden Oberflächen. Sie wollten sie alle grundsätzlich meiden. Wie hat das funktioniert?
Daheim nahm ich die Spiegel ab, bei der Arbeit lernte ich, wo ich mit spiegelnden Oberflächen zu rechnen hatte. Natürlich gab es im Lauf des Jahres einige Ausrutscher. Etwa wenn ich nicht mit einer Glasfassade rechnete. Aber es ist ein Unterschied, sich flüchtig in einer spiegelnden Fläche zu sehen und sich tatsächlich darin zu betrachten. Ich habe mich hie und da verwischt gesehen, aber gelernt, gleich wegzuschauen.
Was machen Spiegel mit uns?
Jede Frau schaut laut Umfragen zwischen 34- und 71-mal pro Tag in einen Spiegel. Das führt zu einer erhöhten Selbst-Objektifizierung. Wir empfinden uns weniger als individuelle Person. Stattdessen beurteilen wir unser Äusseres wie Aussenstehende. Studien zeigen, dass Spiegel unsere Konzentration stören und die kognitive Leistungsfähigkeit mindern.
Ich kann mir aber vorstellen, dass der kalte Entzug ebenfalls die Aufmerksamkeit stört. Wie waren Ihre ersten Wochen ohne?
Sie haben recht. Die ersten paar Wochen ohne Spiegel waren hart. Ich war ungemein gehemmt und befangen. Dauernd machte ich mir Sorgen, dass die Leute hinter meinem Rücken darüber tuschelten, dass ich furchtbar aussehe. Klingt nach Marter, nicht nach Erkenntnis oder Genesung. Gott sei Dank dauerte diese Phase relativ kurz. Mir wurde klar, dass die Leute mich schon darauf aufmerksam machen würden, wenn ich etwas zwischen meinen Zähnen oder Mascara auf meiner Nase hätte.
Mascara auf der Nase? Sie haben während des Jahres Make-up getragen?
O ja. Ich hatte vorab gelernt, Mascara ohne Spiegel aufzutragen. Aber während des Jahres gewöhnte ich mir Make-up-freie Tage an. Das Haus ungeschminkt zu verlassen, hat mir erst einmal Angst gemacht. Aber es musste einfach sein. Ich begriff, dass meine Beziehung zu Make-up einer Sucht nahekam. Ich schraubte die Schminkerei stark zurück. Benutzte aber durchaus Grundierung, Lippenstift, Mascara …
Handelten Sie damit Ihren Zielen nicht zuwider?
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen obsessiv auf sein Aussehen zu achten und sich introspektiv damit auseinanderzusetzen. Das Tragen von Mascara macht da keinen Unterschied.
In welchen Momenten hätten Sie besonders gern in einen Spiegel geschaut?
Am Tag meiner Hochzeit, ganz klar. Ich war natürlich nervös, die Heirat bedeutete schliesslich eine grosse Veränderung in meinem Leben. Vor dem Selbstversuch habe ich in solchen Momenten häufig in den Spiegel geschaut, um eine Art stille Konversation mit mir selbst zu führen. Das wollte ich am Tag meiner Hochzeit so gern auch tun. Ich habe meine Gedanken dann stattdessen aufgeschrieben. Rückblickend bin ich sehr froh darüber. Der Blick in den Spiegel wäre flüchtig gewesen. Das Geschriebene ist mir geblieben. Ich kann dadurch die Momente von damals immer wieder aufs Neue erleben.
Ausserdem hätte keiner Ihrer Freunde Sie am Tag Ihrer Hochzeit mit Mascara auf der Nase vor den Altar treten lassen.
(Lacht.) Genau. Freunde sind besser als alle Spiegel.
Als das Jahr um war – wie haben Sie Ihren ersten Blick in den Spiegel erlebt?
Ich schmiss eine Party für meine Freunde und Verwandten. Ich war mir anfangs nicht sicher, ob ich tatsächlich den ersten Blick vor allen riskieren wollte. Also warnte ich sie vor, dass ich den Moment vielleicht allein verbringen würde. Aber dann hat mein Mann mich daran erinnert, dass die Gäste mich das ganze Jahr über unterstützt hatten und es verstehen würden, wenn ich beim Blick in den Spiegel nach so langer Zeit merkwürdig reagiere.
Und haben Sie merkwürdig reagiert?
Ich war nervös, das schon. Aber es war nicht so schlimm. Was mir sofort auffiel, war jede Menge Farbe! Meine Haare sahen knallgelb aus, mein Gesicht rosa, weil ich aufgeregt war, und meine Zähne sehr weiss. Und dann waren da die funkelnden Farben meines Kleids. Da sah ich auch schon meine Familie und Freunde neben und hinter mir. Das war auf jeden Fall der beste Moment.
Wie hat das Jahr Sie verändert?
Auf Spiegel zu verzichten, ist eine wunderbare Möglichkeit, den essenziellen Unterschied zwischen schön aussehen und sich schön fühlen kennen zu lernen. Ich fühle mich heute viel wohler in meinem Körper und mache mir weniger Druck. Ich habe auch gelernt, meinen Freunden und meiner Familie zu vertrauen, wenn sie mir Komplimente machen. Früher dachte ich immer: Sie sind nur nett zu dir. Heute sage ich Danke und bin happy.
— Kjerstin Gruys: Mirror, Mirror Off the Wall. Avery Pub Group, 2013, 300 Seiten, ca. 40 Franken