Wenn Selbstoptimierung zur Falle wird
- Text: Barbara Achermann; Foto: Gettyimages
Das Ich im Höhenflug bis zum Absturz? Wir erwarten zu viel von uns selber, übertreiben es mit Perfektionismus und Selbstoptimierung. Das macht unglücklich und endet bei manchen sogar in einem Selbstmordversuch.
Wenn ich diesen Text fertig geschrieben habe, werde ich ihn noch einige Male überarbeiten und am Ende doch nicht zufrieden sein. Ich werde mir vorwerfen, ich hätte noch mit weiteren Experten sprechen, die Dramaturgie umstellen und an meinen Formulierungen feilen müssen. Man könnte diese Haltung eine Tugend nennen, ich sei eben eine Perfektionistin. In Wahrheit ist sie ein Laster. Und ein Symptom unserer Zeit.
Das Gefühl, nicht zu genügen, kennen viele von uns. Selbst wenn wir uns anstrengen, sorgfältig und korrekt arbeiten. Es rührt daher, dass wir gerne eine bessere Version unserer selbst wären. Mich eingeschlossen. Anstatt mir einzugestehen, dass dieser Text eben das Schlauste ist, was ich zu Papier bringen kann, rede ich mir ein, ich könnte mehr, wenn ich nur richtig wollte. Und das gilt nicht nur für die Arbeit, sondern für jeden Bereich des Lebens: gesünder kochen, mehr Sport treiben, bewusster geniessen. Selbstoptimierung ist das Modewort für diesen Impuls. Selbst wer noch keinen Schrittzähler besitzt und abends selten als Letzte das Büro verlässt, hat dieses Prinzip längst verinnerlicht.
Wir leben im Zeitalter des Individualismus, schrauben an uns rum wie an einer wertvollen Maschine. Doch was macht das mit einem, wenn man nie locker lässt? Verlieren wir vor lauter Nabelschau die Gemeinschaft aus den Augen? Und wie sind wir eigentlich so geworden? Ich habe darüber mit einer Schülerin gesprochen, die an ihrem Ehrgeiz gescheitert ist, mit einem Manager, der versuchte, sich umzubringen, weil er seinen eigenen Ansprüchen nicht genügte, mit einem britischen Journalisten, der ein Buch über Narzissmus geschrieben hat, mit Experten und Kollegen. Dabei erfuhr ich, dass sich unser Selbstwert gerade fundamental verändert.
Wenn Schülerin Liv nach Hause kommt, schreibt sie als Erstes eine To-do-Liste, die sie systematisch abarbeitet. Die 16-Jährige weiss heute: Disziplin ist gut, aber man kann es auch übertreiben. Im vergangenen Jahr entwickelte sie eine ungesunde, weil exzessive Arbeitshaltung, schlitterte in eine tiefe Krise, von der sie sich eben erst erholt hat.
Sie lebt mit ihrer Familie und verschiedenen Kleintieren in einem freundlichen Haus am Stadtrand von Zürich. Nachdem ich die Schuhe ausgezogen habe, offeriert sie mir einen Gewürztee und wir setzen uns auf ein braunes Ledersofa mit Blick auf den nahen Wald. Liv erzählt vom Tag, als sie erfuhr, dass sie die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium geschafft hatte: «Ich weinte vor Freude.» Doch im nächsten Augenblick begann sie sich vor der Probezeit zu fürchten. Und tatsächlich: hohes Tempo, viel Stoff, sie musste für ihre To-do- Liste zwei A4-Blätter zusammenkleben, weil sie so viele Hausaufgaben hatte. Jeden Abend lernte sie zwischen drei und fünf Stunden. Selbst an den Wochenenden legte sie nie eine längere Pause ein. Nach drei Wochen schrieb sie ihre erste ungenügende Note, eine 3.5 in Mathe. Das habe sie stark belastet, sagt Liv und streicht sich eine hellblonde Strähne hinters Ohr. Sie fürchtete, die Probezeit nicht zu bestehen. Zudem hatte sie den Eindruck, dass allen anderen das Lernen leichter falle als ihr: «Die Mädchen aus meiner Klasse gingen dreimal die Woche reiten, verabredeten sich mit Jungs, feierten Parties und hatten trotzdem bessere Noten.» Liv beneidete sie. In der Sek war auch sie ein aufgestelltes Mädchen gewesen, das sich oft mit Freunden traf, Cupcakes backte, bis in alle Nacht hinein Romane las. Jetzt notierte sie auf Post-it-Zetteln, wann sie das Licht löschen musste, um tags darauf ausgeruht zur Schule zu kommen.
Nach jeder Prüfung trug sie die Note in die App Pluspoints ein, die ihr sogleich den Schnitt anzeigte. Sie hätte die Probezeit bestanden: knapp, aber genügend. Doch Liv setzte sich selber so sehr unter Druck, dass sie Angstzustände bekam. In manchen Pausen schloss sie sich in ein WC ein, sass zitternd auf dem Klodeckel, zwang sich, tief durchzuatmen, und schluckte homöopathische Beruhigungspillen. Es half nichts. Die Panikattacken wurden häufiger. Sie schlief schlecht, träumte von ver- masselten Prüfungen, konnte kaum mehr etwas essen. Der Druck sei nicht von ihren Eltern gekommen. «Sie sagten immer schon, ich könne doch auch eine Lehre machen.» Sie alleine habe sich beweisen wollen, dass sie es schaffe. «Ich bin mega ehrgeizig. Und selbstkritisch. » Als ihr die Kunstlehrerin für eine Arbeit eine Sechs gab, freute sie sich nicht. Ihr sprangen all die Details ins Auge, die sie hätte besser machen können. Am 1. November, einen Tag nach Halloween, brach Liv zusammen. Sie wollte für eine Matheprüfung lernen, konnte sich aber kaum konzentrieren, bekam Schüttelfrost, musste sich übergeben. Ihre Eltern dachten zunächst, sie habe die Grippe. Doch die Ärztin stellte eine andere Diagnose: Erschöpfungsdepression. Im vergangenen Jahr wurde in den Schweizer Medien viel über Kinder wie Liv geschrieben, die unter Druck stehen. Besorgte Pädiater wurden zitiert, die feststellen, dass immer mehr Jugendliche unter Burnouts und psychosomatischen Störungen wie Bauch- und Kopfschmerzen leiden. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation ist der Stresslevel in den Schweizer Klassenzimmern gestiegen: Ein Drittel der Mädchen und ein Viertel der Jungen zwischen 13 und 15 Jahren fühlen sich gestresst. Pro Juventute schlägt Alarm, weil immer mehr Kinder wegen Ängsten, depressiver Stimmungen oder sogar Suizidgedanken das Beratungstelefon 147 anrufen. Kliniken verzeichnen rekordhohe Aufnahmezahlen. Laut Recherchen des «Tages-Anzeiger » haben sich in den vergangenen zehn Jahren die Notfälle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik in Bern verdreifacht und an der Universitätsklinik Zürich sogar verzehnfacht.
Man macht die Schule für den Leistungsdruck verantwortlich, die Eltern, den digitalen Wandel oder die sozialen Medien. «Auf Insta möchten alle Fame», sagt Liv und meint damit, dass es auf den Fotos scheint, als wäre jeder beliebt, schön, glücklich. Liv weiss: «Vieles ist Fake», nicht echt. Und doch gingen die Bilder nicht spurlos an ihr vorbei und auch die damit verbundenen Botschaften brennen sich ein. Livs Generation wächst mit dem Glauben auf, kein Berg sei zu hoch, kein Graben zu tief. Ihr Credo kennt keine Grenzen: #workhard, #aimhigh, #nolimits. Ständig raunt ihnen jemand zu: «Du schaffst das.» Einige mag das motivieren, doch vielen macht es Angst. Sie fürchten sich davor, zu versagen. Denn wenn sie scheitern, sind sie selber schuld. Sie haben sich eben nicht genügend angestrengt.
Das Streben nach Exzellenz und höchster Qualität ist an sich nichts Schlechtes. Im Gegenteil. Viele brauchen dazu den Wettbewerb, der sie anstachelt. Problematisch wird es dann, wenn das Leistungsstreben zwanghaft wird. Oder wenn es sich nicht auf eine Disziplin beschränkt, sondern alle Lebensbereiche umfasst.
Die Ich-Perfektionierung wird heutzutage früh geübt. In der Schweiz werden schon Kindergartenkinder dazu angehalten, an sich zu arbeiten: Selbstkompetenz nennt sich das. Die Kinder sollen jeweils mit einem Smiley angeben, wie gut sie eine Aufgabe gelöst haben. Ende Jahr müssen sie sich ein Leistungsziel fürs nächste Kindergartenjahr ausdenken. Noten und Bewertungen gibt es schon ewig, neu ist dieser selbstkritische Blick auf die eigenen Fähigkeiten. Die Tatsache, dass bereits Vierjährige lernen, sich unter die Lupe zu nehmen.
In den Lernberichten, die meine Söhne im Kindergarten und in der Primarschule erhalten, wird alles bewertet, nicht nur Mathe und Deutsch, sondern auch Konzentrationsfähigkeit, Disziplin oder der Umgang mit Kollegen. Im Zeugnis meines Fünfjährigen stehen Sätze wie «Das Kind kann eine Tätigkeit planen und sein Ziel verfolgen.» Als Teenager haben sie das Leistungsprinzip dann bereits verinnerlicht. Die philosophische Frage «Wer bin ich?» verliert ihre existenzielle Bedeutung. Liv und ihre Kolleginnen fragen sich: «Bin ich gut genug?»
Nachdem sie das Gymnasium abgebrochen hatte, war Livs Krise nicht einfach vorbei. Sie konnte die Leere nicht aushalten, dieses Gefühl, unproduktiv zu sein, Zeit zu verschwenden. Sie war auf sich selber wütend, dachte: «Jetzt, wo der Stress weg ist, müsste ich doch glücklich sein.» Ihr Plan lautete: schnell auftanken und dann weiter rasen. Heute weiss sie, so entkommt man keiner Krise. Erst nach vielen Gesprächen mit Therapeuten, ihren Eltern und mit Freunden wurde sie allmählich gelassener. Sie entschied sich für einen Weg, der besser zu ihr passt als das Gymnasium: mehr sinnvolle Praxis, weniger Theorie. Nach den Sommerferien beginnt sie eine Lehre als Betreuerin in einem Kinderhort und macht parallel dazu die Berufsmittelschule.
«Generation Selfie» nennt der britische Journalist Will Storr die heutigen Jugendlichen. Sie würden dazu erzogen, sich selber als etwas ganz Besonderes zu sehen. Und sich in den sozialen Medien als makellose Überflieger zu verkaufen. Das mache sie narzisstisch, ihr Empathievermögen nehme stetig ab. Auch mit der älteren Generation (sich selber eingeschlossen) geht er hart ins Gericht. «Wie wir so selbstverliebt geworden sind und was das mit uns macht» lautet der Untertitel seines Buches, dessen Cover mit einer Folie überzogen ist, in der man sich selber spiegelt. Ich treffe Storr in der Lounge des Hotels Belvoir in Rüschlikon, hoch über dem Zürichsee. Am nächsten Tag wird er am Gottlieb- Duttweiler-Institut ein Referat halten. Will Storr war Journalist des Jahres in Grossbritannien und hat einige wichtige Preise gewonnen. Trotz seines Erfolgs fühlt er sich oft minderwertig: «Ich erwarte mehr von mir, als mein Talent und mein Charakter hergeben. Deshalb durchlebe ich zuweilen depressive Phasen.» Wie Schülerin Liv hat auch Will Storr das Gefühl, nicht zu genügen: «Ich empfinde mich so sehr als Versager, dass mir auch mal Selbstmordgedanken kommen.» Woher kommen diese Gefühle? Diese Frage treibt ihn schon länger um. In seiner kulturhistorischen Analyse liefert er eine umfassende Antwort.
Unser modernes Selbst nahm seinen Anfang in der griechischen Antike, als Menschen erstmals begannen, nach persönlicher Entwicklung zu streben, nach Ruhm und Ehre. Die Olympischen Spiele bildeten laut Storr den Ursprung des Wettbewerbsgedanken, die Statuen griechischer Götter die Schablone für Körperideale, die bis heute gelten. In Asien hingegen setzte sich eine gegenteilige Philosophie durch, die Lehre des Konfuzius, die nicht den individuellen Erfolg, sondern das Wohl der Gruppe in den Vordergrund stellt.
Storr beschreibt ausführlich, wie diese beiden gegenteiligen Denkschulen bis heute nachwirken. Er zitiert unter anderem eine Studie, für die man Menschen aus dem Westen und aus dem Osten vor ein Aquarium setzte. Im Vordergrund schwamm ein grosser Fisch alleine hin und her, im Hintergrund ein Schwarm aus kleinen Fischen. «Wir Westler haben nur Augen für den grossen Fisch», erklärt Storr. «Wir identifizieren ihn als Chef der Gruppe.» Asiaten hingegen schauten sich das ganze Aquarium an, bemerkten mehr Details und kämen zu ganz anderen Schlüssen: «Sie sehen den grossen Fisch als Aussenseiter. Er tut ihnen leid, weil er nicht zur Gruppe gehört.»
Storr will die unterschiedlichen Weltanschauungen nicht werten, sie bringen ihre jeweils spezifischen Probleme mit sich. Aber er stellt fest, dass uns der kulturelle Kontext prägt, ob wir nun wollen oder nicht. Eine 2500 Jahre alte Darstellung von Herkules könnte noch heute auf dem Cover der Zeitschrift «Men’s Health» stehen. «Wenn ich in einem Schaufenster mein Spiegelbild erhasche und meinen Bauchansatz sehe, fühle mich als Versager », gesteht er. Und erklärt auch gleich, woher dieser Impuls komme: Bereits Sokrates und Platon stellten einen Zusammenhang zwischen körperlicher und geistiger Vollkommenheit her. Heute wissen wir: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Gleichwohl geben wir schönen Menschen automatisch einen Sympathiebonus.
Wer es mit dem Streben nach Makellosigkeit übertreibt, wird krank. Magersucht, Selbstverletzungen oder Selbstmord können die Folgen sein. Storr interviewte den Präsidenten der Internationalen Akademie für Suizidforschung, einen Professor namens Rory O’Connor, der in einer Metastudie einen frappanten Zusammenhang zwischen Perfektionismus und Selbstmord ausgemacht hat. O’Connor sagt, Perfektionisten seien ihre eigenen schlimmsten Kritiker und hätten extrem hohe, teils unrealistische Erwartungen an sich selber. «Sie setzen sich unter Druck, um ihre hohen Standards zu erreichen, aber was noch viel schlimmer ist: Sie glauben, auch ihre Familien, ihre Vorgesetzten oder Freunde würden das von ihnen erwarten.» Man nennt dieses Phänomen, das auch andere Wissenschafter beschreiben, sozialer oder klinischer Perfektionismus. Experten glauben, dass die ökonomischen Veränderungen in den letzten Jahren einen Einfluss auf diese destruktive Form des Perfektionismus haben. So auch Psychologe Nils Spitzer, der zwei Bücher über Perfektionismus geschrieben hat: «In den 1990er-Jahren hat ein Wandel angefangen von der Angestellten-Gesellschaft, in der sich die Menschen an der Normalität orientierten, hin zu einer neoliberalen Gesellschaft, die sich am Besten orientiert.» Spitzer sagt, das Streben nach Exzellenz werde den Menschen kulturell vermittelt. Ich frage mich, wie es dazu kommen kann, dass eine im Grunde genommen positive Eigenschaft selbstzerstörerische Züge annimmt. Wie wird Perfektionismus zur Krankheit?
Antworten auf diese Frage erhoffe ich mir von Daniel Göring. Er weiss, wie es sich anfühlt, wenn man von sich selber und von anderen zu viel erwartet, wenn man den Druck nicht mehr aushält und keinen anderen Ausweg sieht, als sich selber das Leben zu nehmen. Göring hat darüber ein Buch geschrieben mit dem Titel «Der Hund mit dem Frisbee». Wir treffen uns in Bern auf der Terrasse des Restaurants Tibits. Der Mann ist 52 Jahre alt, dunkel gekleidet, trägt am kleinen Finger einen Ring mit Totenkopf. Er entschuldigt sich dafür, dass er seine Sonnenbrille während des Gesprächs anbehält. Grelles Licht vertrage er nicht. Göring war jahrelang Pressechef beim Bundesamt für Zivilluftfahrt, musste beim Swissair-Grounding Red und Antwort stehen, bei Flugzeugabstürzen. Für die Krisen seines Arbeitgebers fand er die richtigen Worte, aber seine persönlichen Krisen konnte er nicht benennen.
Er wollte den Job gut machen, schon seine Eltern hatten ihm beigebracht: Entweder man macht eine Sache richtig oder gar nicht. «Es war mir ein Anliegen, den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft und den persönlichen Anforderungen zu genügen», sagt er, und man hört noch immer den Kommunikationsjargon aus seinen Sätzen. Anerkennung und Erfolg waren ihm stets wichtig: «Das gab mir den Kick», sagt er. Lange Arbeitstage, rund um die Uhr erreichbar, auch an den Wochenenden und in den Ferien – Göring war ständig unter Strom. Irgendwann definierte er sich nur noch über den Job.
«Hängt der Selbstwert vorwiegend von der Leistung und vom Erfolg ab, dann wird es problematisch», sagt Psychologe Nils Spitzer. Ein gesunder Selbstwert bestehe aus verschiedenen Facetten: Ein Teil ist die unbedingte Selbstakzeptanz, man nimmt sich so, wie man ist. Ein zweiter Teil ist das Selbstvertrauen, man glaubt daran, dass man es schon irgendwie schafft. Und nur der dritte Teil ist abhängig vom Erfolg und von der Anerkennung anderer. Letzterer dominierte Görings Selbstwert. Das zeigte sich vor allem dann, wenn er mal weniger zu tun hatte: Ruhe verunsicherte ihn. «Ich konnte nicht mehr entspannen.» Dennoch entschied er sich für eine neue Herausforderung, wurde Sprecher des Tourismusunternehmers Samih Sawiris. Kurz zuvor hatten seine Frau und er sich getrennt, die gemeinsamen Kinder sah er nur noch an Wochenenden. Er konnte sein Leben nun ganz nach seinem Job richten.
Die Arbeitstage waren lang und aufreibend, Görings Massstäbe hoch wie eh und je: Unverzeihbar, wenn beispielsweise in einer Pressemitteilung ein Komma vergessen ging. Zusätzlich war ihm die Routine des alten Jobs abhanden gekommen. Seine Kräfte schwanden zunehmend, aber er wollte es nicht wahrhaben, brach die sozialen Kontakte ab, isolierte sich. In seiner spärlichen Freizeit fuhr er Rennrad, um den Kopf auszulüften, wie er sich einredete. Doch selbst beim Sport konnte er nicht locker lassen: «Da war immer dieser Gegner, den ich schlagen musste: mich selber. Ich wollte täglich schneller werden.» An einem Dezemberabend im Jahr
2012, nach einem 15-Stünder, stand er daheim in seiner Küche und hatte das Gefühl einer «monumentalen Ermattung», wie er es ausdrückt. «Als befände ich mich in einem Vakuum, das sich auch in mir drin ausbreitet. » Er fühlte sich hilflos. Gleichzeitig war es für ihn undenkbar gewesen, anderen seine Schwäche einzugestehen: «War nicht auf dem Programm, gab es nicht.»
Heute weiss er: Er litt an einer Erschöpfungsdepression, die Botenstoffe in seinem Gehirn waren aus dem Gleichgewicht gekommen, hatten sein Fühlen, Denken und Handeln tiefgreifend verändert. Er sah nur noch einen Ausweg: «Für immer verschwinden, endlich Ruhe, fertig, Schluss.» Er plante seinen Suizid akribisch, kaufte während der kommenden Tage in verschiedenen Apotheken Medikamente.
Der Manager war es gewohnt, Projekte durchzuziehen. So auch dieses. Als er genügend Tabletten zusammen hatte, nahm er sie ein, ging schlafen. Doch er musste sich während der Nacht übergeben. Und überlebte.
Daniel Göring bekam die Chance, nochmals neu anzufangen. Doch wie gestaltet man ein erträgliches oder gar erfülltes Leben? «Man sollte sich ein neues Umfeld suchen», sagt der britische Journalist Storr. Denn die eigene Persönlichkeit zu verändern, sei weitaus schwieriger. Er verwendet dafür das Bild eines Salamanders auf einem Eisberg. Seine Körpertemperatur passt sich automatisch der Umgebung an, er braucht ein wärmeres Milieu, um zu überleben. Daniel Göring hat heute keine Kaderstelle mehr, sondern einen Teilzeitjob in der Kommunikation der SBB. Wenn er abends die Bürotür hinter sich schliesst, macht er sie auch im Kopf zu. Wer den Fokus von sich selber weg nimmt, macht den Blick frei für andere Menschen. Göring schafft Raum für seine Liebsten, seine Freunde. Er lässt sich in der Aare treiben, statt auf den nächsten Berg zu strampeln. Und besonders wichtig: Er versucht, sich selber und anderen gegenüber toleranter zu sein. Lässt auch mal fünfe gerade sein. Das sei ein langer Prozess, er dauere noch immer an, sagt er. «Es wäre unehrlich, zu behaupten, ich hätte heute alles im Griff.»
Seine Lebensziele nicht an Leistung koppeln: Geht das überhaupt?, frage ich mich, während Göring seinen schwarzen Kaffee austrinkt. Man braucht ein starkes Selbstbewusstsein, denn für Musse gibt es keine gesellschaftliche Anerkennung. Schlimmer noch, man riskiert allenfalls sogar seine Stelle. Wer sich nicht rechtzeitig optimiert, den bestraft das Leben. Der Konsens heute lautet, dass man seine Komfortzone meiden soll. Bloss nicht da bleiben, wo es behaglich ist. Man könnte faul werden, immobil. Stattdessen: kämpfen, schuften, trainieren. Was wir und unsere Arbeitgeber zuweilen vergessen: Es ist nicht alles machbar. «Wir können nicht irgendein Leben führen, sondern nur unser eigenes», schreibt Kinderarzt Remo Largo in seinem neusten Buch. Largo hat in einer wissenschaftlichen Studie über drei Jahrzehnte lang untersucht, wie sich Kinder bis ins Erwachsenenalter entwickeln. Er stellt fest: Die meisten von uns sind Mittelmass. Weder besonders talentiert oder intelligent noch extrem dumm oder unbegabt. Es ist eine kulturelle Lüge, dass uns alle Türen offen stehen, dass wir werden können, was wir wollen. «Werde, wer du bist», schrieb stattdessen Friedrich Nietzsche. Und ähnlich tönt es auch bei Largo. Es ist das Gegenteil von «anything goes». Journalist Will Storr sagt, er propagiere keine esoterische Selbstakzeptanz, vielmehr wolle er ein Bewusstsein dafür vermitteln, dass wir uns dem kulturell überlieferten Perfektionsstreben zwar nicht entziehen, es uns aber bewusst machen können. Er, Göring und Liv haben gelernt, ihre eigenen Grenzen zu erkennen. Was nach Einschränkung tönt, hat letztlich etwas Befreiendes. «Ein Teil von mir», so Will Storr, «wird immer wünschen, ich wäre charmanter, hätte mehr Freunde. Aber es tröstet mich zu wissen, dass Perfektion eine Illusion ist.»
Buchtipps
Daniel Göring: Der Hund mit dem Frisbee. Der Weg in eine Depression und zurück ins Leben. Elfundzehn 2014 Remo Largo: Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können. S. Fischer 2017 Nils Spitzer: Perfektionismus überwinden. Müssiggang statt Selbstoptimierung. Springer 2017 Will Storr: Selfie. How We Became So Self-Obsessed and What It’s Doing to Us. Picador 2017