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Schweizer Erfolgsautor Joël Dicker: Lass dich umarmen, Dicker!

Schweizer Erfolgsautor Joël Dicker: Lass dich umarmen, Dicker!

  • Redaktion: Claudia Senn; Text: Sébastien Agnetti

Der Genfer Autor Joël Dicker erobert mit einem über 700 Seiten starken Superschmöker die Welt. Die ersten Groupies werden nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Ein junger Autor, der aus dem Nichts heraus berühmt wird. Ein Roman, der – endlich! – die «Shades of Grey»-Trilogie von der Spitze der Bestsellerliste fegt. Auch ausserhalb des Landes scheint das Buch so gut wie jedem zu gefallen, sodass es bald in 33 Sprachen übersetzt wird und in über 40 Nationen erscheint, sogar in der Volksrepublik China. Ein bisschen erinnert der Erfolg des jungen Schriftstellers an die goldenen Zeiten von «Harry Potter».

«Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert»

Klingt wie der Wunschtraum eines vom Existenzkampf gebeutelten Verlegers? Ist aber tatsächlich passiert. Hier, in der Schweiz.

Auf der anderen Seite des Röschtigrabens, in Genf, lebt Joël Dicker (28), das grösste Nachwuchsversprechen der Schweizer Literatur. Dass wir Deutschschweizer ihn erst jetzt zur Kenntnis nehmen, kann nur an unseren lausigen Französischkenntnissen liegen. Im Welschland und in Frankreich jubeln ihm die Feuilletons seit Monaten zu. Gut eine Dreiviertelmillion Exemplare seines nun auch auf Deutsch erscheinenden Buchs «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» hat er bisher verkauft. Wer weiss, dass man hierzulande schon mit 5000 verkauften Büchern stolz auf sich sein darf, kann über diese interstellaren Dimensionen nur staunen. «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» war das erfolgreichste Buch des letzten Herbstes in Frankreich. Einige französische Zeitungen erdreisteten sich deshalb zu behaupten, Dicker sei Franzose. Aber nix da, der gehört uns!

Einen Interviewtermin zu bekommen, ist trotz Heimvorteil alles andere als einfach. Zurzeit jettet der junge Mann andauernd um die Welt und unterschreibt Verträge für die Lizenzausgaben seines Bestsellers. In einer von Bratfettdünsten durchwehten Wartehalle des Genfer Flughafens ergibt sich schliesslich doch die Gelegenheit für ein Gespräch. Die schäbige Ambiance ist im selben Moment vergessen, als Joël Dicker auftaucht, denn fortan hat man nur noch Augen für ihn. Zu sagen, er sähe gut aus, wäre untertrieben. Er sieht aus wie ein junger, aufstrebender Schauspieler, vor dessen Hotel sich die ersten kreischenden Mädchen zusammenrotten, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Über einen Meter neunzig gross, sportliche, frisch geduschte Ausstrahlung, geschmackvolle Kleidung ohne jede modische Verirrung ins Geckenhafte, offener Blick unter markanten Augenbrauen, die dem Gesicht Charakter verleihen.

«Ich bin doch bloss ein Typ, der ein Buch geschrieben hat, das per Zufall Erfolg hatte»

Bezaubernderweise scheint er sich seiner Wirkung überhaupt nicht bewusst zu sein. Wird er für sein Aussehen gelobt, starrt er verlegen auf seine Schuhspitzen. Während des einstündigen Gesprächs ergibt sich kein einziger Hinweis auf Eitelkeit oder Selbstüberschätzung. «Beängstigend» findet er, dass ihn die Leute nun auf der Strasse erkennen. «Ich bin doch bloss ein Typ, der ein Buch geschrieben hat, das zufälligerweise Erfolg hatte.» Als Schriftsteller möchte er sich noch nicht bezeichnen, «denn ich weiss ja nicht, ob mir jemals wieder ein Buch gelingt». Ja, Joël Dicker ist nicht nur attraktiv, sondern auf eine urschweizerische, Roger-Federer-artige Weise bescheiden. Die Marketingabteilung seines Verlags hätte ihn nicht besser erfinden können.

Quer durch alle Altersklassen und sozialen Schichten wird «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» gelesen und geliebt. Es ist ein über 700 Seiten starker, süchtig machender Superschmöker, unterhaltsam, geistreich und – wo doch Schweizer Literatur sonst eher zum Schwerblütigen neigt – in keinster Weise anstrengend. Wüsste man es nicht besser, würde man schwören, Dicker komme Auflauern und anschmachten zwecklos. Joël Dicker ist mit einer Psychologin aus Kanada liiertaus den USA, denn alles an seinem Buch ist amerikanisch: die Figuren, der Plot, der lakonische Humor und die vor lässiger Eleganz nur so funkelnde Erzählweise.

Mehr als ein raffinierter Thriller

Im Garten des renommierten Schriftstellers und Literaturprofessors Harry Quebert finden Gärtner die sterblichen Überreste der 15-jährigen Nola Kellergan, die seit mehr als dreissig Jahren vermisst wird. Harry wird als Hauptverdächtiger verhaftet, er gibt zu, eine Liebesbeziehung m it dem Teenager unterhalten zu haben. Als sein Protegé, der junge, vom frühen Erfolg korrumpierte Schriftsteller Marcus Goldberg, aus New York herbeieilt, um seinem Mentor beizustehen, geht im an der Küste von New Hampshire gelegenen Städtchen Aurora eine Hexenjagd los, die an David Lynchs legendäre Fernsehserie «Twin Peaks» gemahnt. Jeder könnte der Täter sein. Eine überraschende Wendung jagt die nächste. Die Lebenslügen aus drei Jahrzehnten kommen ans Licht. Doch «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» ist noch viel mehr als ein raffinierter Thriller: ein Buch über Freundschaft und Verrat, ein Entwicklungsroman, eine Lolita-Liebesgeschichte, ein Sittengemälde der amerikanischen Gesellschaft der Obama-Ära.

«Twin Peaks» habe er nie gesehen, sagt Joël Dicker. Was inspirierte ihn dann dazu, sich für sein Debüt an einen derart komplexen XXL-Schinken zu wagen? Falsche Frage. «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» ist nicht sein Debüt. «Ich habe vorher schon fünf andere Bücher geschrieben.» Du lieber Himmel, dieser Output ist ja furchteinflössend! «Die ersten vier interessierten allerdings niemanden», schiebt er schnell nach, damit einem die eigene Leistung nicht gar so armselig vorkommt. Ist er ein disziplinierter Mensch? «Sehr. Manchmal vielleicht zu sehr. Ausserdem bin ich immer überzeugt, nicht mein Bestes gegeben zu haben. Hätte ich einen Chef, würde der mir wohl raten, mich etwas zu entspannen.»

Ein «amerikanischer» Roman eines Schweizer Autors

Mit Amerika ist Joël Dicker tatsächlich vertraut. Ursprünglich stammt seine Familie zwar aus Russland. Dickers Grossvater war in den Zwanziger- und frühen Dreissigerjahren eine Leitfigur der Genfer Sozialisten. Ein anderer Zweig seiner Verwandtschaft hat sich jedoch in Washington niedergelassen und besitzt ein Sommerhaus in Maine, wo Dicker seit 25 Jahren jeden Sommer verbringt. Auch so sieht Globalisierung also heute aus: Ein junger Schweizer Autor mit russischen Wurzeln und amerikanischer Verwandtschaft schreibt auf Französisch einen Roman, der so amerikanisch ist, wie er nur sein kann.

Dass es ihn zur Literatur hinzog, zeigte sich früh. Schon als Kind löcherte er seine Eltern (eine Buchhändlerin und einen Französischlehrer): Was ist ein Kapitel? Und woher weiss ich, wann es zu Ende ist? Die immer gleich ausfallende Antwort «Das entscheidet der Autor» empfand er als höchst unbefriedigend. Später lernte er Schlagzeug, spielte in Rockbands und realisierte, dass ein Kapitel so etwas wie der Beat sein muss oder die Strophe eines Songs. Mit neun gründete er seine eigene Zeitschrift, die «Gazette des animaux». Als sein neunköpfiges Redaktionsteam schon innerhalb des ersten Monats türmte, machte er allein weiter – sieben Jahre lang.

Von der Schauspielschule zum Jus-Studium

Die Schule hingegen war eine Tortur, die Noten durchgehend mies, sogar in Französisch. Weil er sich die Uni nicht zutraute, ging er an eine Schauspielschule nach Paris, um dort sehr bald festzustellen, dass er zu schüchtern für die Bühne ist (am Aussehen kann es ganz sicher nicht gelegen haben!). Also doch ein Jus-Studium und danach ein paar mehr oder weniger öde Jobs, zum Beispiel als Assistent im Grossen Rat des Kantons Genf. Joël Dicker erzählt von dieser Zeit mit der grenzenlosen Erleichterung eines nur knapp der tödlichen Langeweile Entronnenen.

Die Bücher, in die seine ganze Leidenschaft floss, verschwanden unveröffentlicht in der Schublade – bis zu OEuvre Nummer fünf. «Les derniers jours de nos pères» war ein von Historikern für seine Faktentreue gelobter Roman über eine Spezialabteilung der Résistance. Der kleine Lausanner Verlag, in dem er erschien, tat sich mit einem ebenfalls winzigen französischen Verlag zusammen, der den Vertrieb in Frankreich übernahm. 3500 verkaufte Exemplare, immerhin.

«Es ist grossartig, einmal die Nummer eins zu sein»

Dann, im Sommer 2012, überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Joël Dickers Schweizer Verleger verunglückte tödlich mit seinem Lieferwagen. Deshalb wandte sich Dicker mit dem soeben beendeten Manuskript von «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» an seinen französischen Verleger Bernard de Fallois, einen jugendlichen Greis von 86 Jahren. De Fallois, überzeugt, soeben das Buch seines Lebens entdeckt zu haben, sagte seine Sommerferien ab (in Frankreich ein Sakrileg!), um Dickers Roman noch im selben Herbst herausbringen zu können. Seinen eigentlich geplanten Ruhestand verschob er auf unbestimmte Zeit. Noch bevor «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» erschien, war das Buch für den Grossen Preis der Académie française nominiert. Bald erschienen erste hymnische Rezensionen. Immer schneller mussten neue Auflagen gedruckt werden. Dicker wurde von Talkshow zu Talkshow gereicht. An der Frankfurter Buchmesse stritten sich schliesslich acht verschiedene Verlage um die deutschen Übersetzungsrechte.

Vor kurzem noch war Joël Dicker ein Student, der nicht wusste, was aus ihm werden soll. Was tut er, um in dem ganzen Hype nicht die Bodenhaftung zu verlieren? «Es ist grossartig, einmal die Nummer eins zu sein», sagt er auf seine ruhige, ernsthafte Art. «Aber es bedeutet nichts, wenn du es nicht schaffst, dieses Niveau zu halten. Ich sehe nur die Arbeit, die noch vor mir liegt.» Schöner hätte das auch Roger Federer nicht ausdrücken können.

Kritik ja, Spassbremse nein

Bleibt die Frage, warum bisher kaum jemand etwas Kritisches über sein Buch geschrieben hat. Gibt es etwa nichts zu bemängeln? Selbstverständlich doch. Die Liebesgeschichte zwischen Harry und Nola bleibt seltsam unkörperlich, obwohl der Mittdreissiger für die Fünfzehnjährige ganz bestimmt nicht nur keusche Gefühle hegt. Manche Figuren könnten mehr Tiefenschärfe vertragen, und die immer neuen, überraschenden Wendungen sind vor allem in den letzten Kapiteln ein bisschen zu viel des Guten. Aber schon während man dies schreibt, kommt man sich vor wie die Spassbremse, die man nie sein wollte. «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» ist ein wirklich grossartiges Buch, das sogar Nichtlesern gefällt. Wie oft erscheint ein Roman von diesem Format in der Schweiz? Eben.

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1.

Auflauern und anschmachten zwecklos. Joël Dicker ist mit einer Psychologin aus Kanada liiert.

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