Leben
«Die Schweiz ist zu klein, um das Talent ihrer Frauen zu verschwenden»
- Text: Helene Aecherli; Foto: Getty Images
Sie steht für Quoten, Gesetze für Lohngleichheit und will Frauen in Wirtschaft und Politik sichtbar machen: Irene Natividad ist Präsidentin von Global Summit of Women. Im Juli findet der Weltwirtschaftsgipfel für Frauen erstmals in der Schweiz statt.
annabelle: Irene Natividad, vor 26 Jahren gründeten Sie den Weltwirtschaftsgipfel für Frauen. Wollten Sie damit dem Weltwirtschaftsforum in Davos Konkurrenz machen?
Irene Natividad: Na ja, der Global Summit of Women ist weniger eine Konkurrenz als ein Gegengewicht zum WEF. Nicht umsonst wird er längst als «Davos der Frauen» bezeichnet. Als ich den Summit vor 26 Jahren gründete, hatte ich zwei Ziele: Frauen den Weg in leitende Positionen zu ebnen und stereotype Vorstellungen von Weiblichkeit zu brechen. Ich wollte sichtbar machen, was Frauen weltweit in Wirtschaft und Politik leisten.
Sie galten schon damals als eine der einflussreichsten Frauenrechtsaktivistinnen der USA. Was hatte den Stein für den Global Summit ins Rollen gebracht?
Ein Artikel in der «New York Times». Der Titel lautete: «Money is power and women have neither», Geld ist Macht, Frauen haben weder noch. Das sass. Ich machte mich sofort an die Arbeit.
Diesen Juli bringen Sie den Global Summit of Women erstmals in die Schweiz. Mit welchem Ziel?
Um zu zeigen, wie viele weibliche Talente es in der Schweiz gibt. Denn Schweizerinnen werden international nicht als Führungspersönlichkeiten wahrgenommen. Dieses Image will ich korrigieren.
Mit der Unsichtbarkeit weiblicher Führungskräfte in der Schweiz sprechen Sie einen wunden Punkt an: Der Frauenanteil in Geschäftsleitungen liegt bei neun Prozent. Und schon das ist eine Erfolgsmeldung. 2017 lag er noch bei sieben Prozent. In Verwaltungsräten beträgt der Frauenanteil immerhin 21 Prozent.
In Sachen Gleichstellung hinkt die Schweiz anderen Ländern Westeuropas ziemlich hinterher. Die Hauptgründe hierfür sind bekannt: exorbitant teure Kinderkrippen und eine hohe Steuerbelastung für Zweitverdienende, meist Frauen. Wie sollen Mütter erwerbstätig sein, wenn die Kosten für die Kinderbetreuung so hoch sind? Zählt man dann noch die «Heiratsstrafe» hinzu, lohnt es sich in der Tat nicht mehr, einem Beruf nachzugehen. Ein unhaltbarer Zustand. Die Schweiz ist zu klein, um das Talent ihrer Frauen zu verschwenden.
Harte Worte!
Ich sage es noch klarer: Schweizerinnen sind überqualifiziert, im Erwerbsleben unterbeschäftigt – und unterbezahlt.
Wenn Sie ein Gleichstellungsmanifest für die Schweiz verfassen müssten, welcher Punkt stünde ganz oben?
Dass Frauen und Männer zwar gesetzlich gleichgestellt sind, die Gesetze aber nicht konsequent umgesetzt werden. Wie sonst ist es zu erklären, dass Frauen für dieselbe Arbeit oft noch immer nicht denselben Lohn erhalten wie Männer? Und dass selbst nach mehreren politischen Vorstössen noch immer keine Verbesserungen erzielt wurden?
Sie sprechen schon wieder einen wunden Punkt an. Lohnungleichheit betrifft jedoch nicht nur die Schweiz. Es gibt kaum ein Land, in dem Lohngleichheit herrscht.
Da haben Sie Recht. Aber auch das ist inakzeptabel. Der amerikanische Bürgerrechtler und einstige Präsidentschaftsanwärter Jesse Jackson formulierte es so: «A loaf of bred doesn’t cost a woman less, so why pay her less?», ein Brotlaib kostet eine Frau nicht weniger, warum ihr weniger Lohn zahlen?
Warum also geht es mit der Lohngleichheit nicht vorwärts?
Weil die patriarchale Haltung gegenüber Frauen weltweit aller Emanzipation zum Trotz noch immer fest verankert ist. Sehen Sie sich die USA an: Studien belegen, dass Hochschulabsolventinnen bei ihrer ersten Stelle für denselben Job auf derselben Stufe weniger verdienen als Männer. Zudem zeigt eine Untersuchung von Mercer, dem weltweit grössten Unternehmensberater, dass Männer in der Regel schneller befördert werden und sich weniger lang beweisen müssen als Frauen. Und wird eine Frau schwanger und geht in den Mutterschaftsurlaub, verringert sich ihr Lohn zusätzlich. Auf diese Weise verliert sie Millionen!
Was verheerend ist für die ganze Gesellschaft.
Natürlich! Erhält eine Frau weniger Lohn, leidet nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familie, ihr Umfeld und letztlich auch das Bruttoinlandprodukt ihres Landes. Gemäss des McKinsey Global Institutes würde sich die Weltwirtschaft bis 2025 um 12 Billiarden US-Dollar, oder 11 Prozent, erhöhen, wenn Frauen im Erwerbsleben mit Männern gleichgestellt wären. Das ist etwa gleich viel wie das Bruttoinlandprodukt von Deutschland, Japan und Grossbritannien zusammen. Wir können es uns schlicht nicht leisten, auf ein solches Einkommen zu verzichten.
Welche Massnahme braucht es, um Lohngleichheit durchzusetzen?
Gesetze. Nichts anderes. Island macht es vor. Es ist das erste Land weltweit das geschlechterbasierte Lohndiskriminierung gesetzlich verbietet und fehlbare Unternehmen mit Bussen sanktioniert.
Mit ein Grund für die Einkommenslücke von Frauen ist, wie eingangs erwähnt, der geringe Anteil weiblicher Führungskräfte. Sie sind eine dezidierte Befürworterin von Quoten. Weshalb?
Weil sie funktionieren. Gibts keinen Druck, wird nie was, dann kann man bloss weiterträumen. Wenn Frauen sagen: «Oh, ich will keine Quotenfrau sein, ich will aufgrund meiner Fähigkeiten gewählt werden», dann kontere ich: «Get over it! Quoten sind eine Tür, die es aufzustossen gilt. Mir ist es egal, ob du mit oder ohne Quote nach oben kommst, denn du weisst, dass du qualifiziert bist. Zu gross ist schon der Pool von talentierten Frauen, die übergangen worden sind.»
Quoten stossen aber gerade der Privatwirtschaft sauer auf.
Natürlich, die ist alles andere als happy darüber. Nicht einmal in Norwegen. In Norwegen müssen börsenkotierte Unternehmen seit 2008 ihre Führungsgremien zu mindestens 40 Prozent mit Frauen besetzen, sonst droht dem Unternehmen die Schliessung. Dadurch hat sich zwar der Frauenanteil in den Verwaltungsräten erhöht, doch blieb er im mittleren Management nahezu unverändert.
Wie erklären Sie sich das?
Nun, die meisten Unternehmen mögen keine Regulierungen, und Quoten sind eben genau das: Regulierungen. Mehr noch: Die überwiegend männlichen CEOs sehen sich ungern dazu gezwungen, Leute in ihre Führungsriegen zu holen, die anders ticken als sie selbst. Männer wählen deshalb eher Männer und behaupten, sie fänden keine qualifizierten Frauen. Das war auch in Norwegen so. Doch das ändert sich. Es stellt sich nämlich heraus, dass sich sehr viele qualifizierte Frauen in der Pipeline befinden. Ausreden gibt es keine mehr. Dafür beginnt jetzt der Konkurrenzkampf: Keine Firma will in Bezug auf ihren Frauenanteil schlechter aussehen als die andere. Mittlerweile gibt es 26 Länder, die Gleichstellungsquoten eingeführt haben.
27! Nun auch die Schweiz dabei: nach dem Nationalrat hat auch der Ständerat grünes Licht gegeben für Frauenquoten in den Geschäftsleitungen und Verwaltungsräten grosser börsenkotierter Unternehmen. Allerdings drohen keine Sanktionen, wenn die Quoten von 20, beziehungsweise 30 Prozent nicht erreicht werden. Sollen wir trotzdem jubeln?
Ja, natürlich! Sehen Sie, die Schweiz ist ein konservatives Land. Angesichts dessen, dass die Frauen erst 1971 das Stimm- und Wahlrecht erhielten, müssen wir froh sein, dass Quoten nun überhaupt eingeführt werden – auch wenn die Regulierung schwach ist. Aber Sie werden sehen: Quotas work!
Im Gegensatz zu Europa werden Quoten in den USA kaum diskutiert. Wie gehen Sie dort vor?
In den USA geht der Druck von Investoren aus. Ich bin Mitglied der Gruppe «The 30-percent-coalition», der ein Komitee aus Investoren der grössten Pensionskassen und Anlagefonds angehört. Dieses Komitee geht aktiv auf Unternehmen mit männerdominierten Verwaltungsräten zu und fordert sie zur Diversifizierung auf. Dem haben inzwischen rund 200 Unternehmen Folge geleistet. Mehr noch: Der CEO von Blackrock, dem weltweit grössten Vermögensverwalter, schrieb an alle CEOs seines Kundenstamms: «Können Sie darlegen, wie Sie im Rahmen Ihrer langfristigen Geschäftsstrategie Ihren Verwaltungsrat paritätisch mit Frauen und Männern besetzen werden?»
Was funktioniert nun besser: Quoten oder CEOs, die anderen CEOs Beine machen?
Beides. Eine dritte Methode ist, die ausgewogene Verteilung der Geschlechter als Grundsatz der Unternehmensführung zu verankern. In 28 Ländern ist dies bereits geschehen. Grossbritannien hat für börsenkotierte Unternehmen einen Frauenanteil von mindestens 30 Prozent festgelegt. In Australien dürfen nur Firmen mit gemischten Verwaltungsräten an die Börse. Diese Entwicklung gewinnt weltweit an Momentum. Viele CEOs sagen, dass sie es sich gar nicht mehr leisten können, auf die besten Talente zu verzichten. Und zu diesen Talenten gehören eben auch Frauen. Zudem müssen sie ihre Kundschaft abbilden, für die sie letztlich arbeiten – und die besteht zu grossen Teilen aus Frauen. Unternehmen sind also von der schieren Notwendigkeit getrieben. Darüberhinaus haben die weltweiten Frauenproteste diese Entwicklung beschleunigt. Wenn Millionen von Frauen auf die Strasse gehen, ist dies auch eine physische Machtdemonstration, im Sinne von: «Seht her, wie viele wir sind. Ihr könnt uns nicht mehr ignorieren!»
Gleichzeitig aber haben «starke» Männer wie Trump, Orban, Erdogan, Putin und Duterte Hochkonjunktur. Eine Reaktion auf das Erstarken der Frauen?
Der Aufstieg dieser autokratischen Männer hat weniger mit Frauen zu tun als mit der sozialen und ökonomischen Ungleichheit, die in sehr vielen Menschen ein Gefühl der Nichtzugehörigkeit auslöst. Die jüngsten Frauenbewegungen hingegen sind viel mehr eine Reaktion auf Trump als umgekehrt. Trump hat Frauen, die zuvor möglicherweise völlig apolitisch waren und es sich in ihrem Alltag gemütlich eingerichtet hatten, aufgeschreckt, auf die Strassen getrieben und dazu gebracht, sich bei den letzten Wahlen in Rekordzahl für politische Ämter zu bewerben. Zudem wäre die «metoo»-Bewegung ohne Trump wohl nie geschehen.
Welche ist über all die Jahre hindurch Ihre grösste Herausforderung geblieben?
Den Leuten klar zu machen, dass Frauen Kinder bekommen. Frauen bekommen Kinder. Punkt. Und dass dies nicht nur eine Frauen-, sondern eine gesamtgesellschaftliche Angelegenheit ist, mehr noch, ein kommunaler, nationaler und globaler Business Case. Doch irgendwie greift diese Message nicht. Ich werde sie also wie ein Werbeslogan so lange wiederholen, bis sie sich in den Köpfen festgesetzt hat.
Was hat Sie eigentlich zu der Frau gemacht, die Sie heute sind?
Ich hatte eine starke asiatische Mutter. Sie wollte, dass ich bei allem, was ich tue, die Nummer Eins bin.
Irene Natividad
Irene Natividad gilt als eine der einflussreichsten Frauenrechtsaktivistinnen der USA. Sie ist verheiratet, Mutter eines Sohnes und lebt in Washington, DC.