Die Schuld liegt nicht bei den Opfern von Harvey Weinstein, schreibt unsere Autorin Kerstin Hasse, sondern bei dem Hollywood-Produzenten, der schamlos Frauen ausnutzte.
Glaubt man den US-Boulevardseiten, befindet sich Harvey Weinstein zurzeit in einer Klinik für Sexsüchtige in Arizona. Seit die beiden Reporterinnen Jodi Kantor und Megan Twohey vor einer Woche ihre Recherche über den Filmproduzenten in der «New York Times» enthüllten, wurde der Sturm, der sich um den Hollywood-Mogul bildete immer grösser. Täglich meldeten sich Schauspielerinnen und Models in der Öffentlichkeit und schilderten Belästigungen. Gwyneth Paltrow, Angelina Jolie, Léa Seydoux, Cara Delevingne, Heather Graham, Rose McGowan – die Liste wird länger und länger, die Beweislage immer erdrückender.
Die Empörung ist gross, in Hollywood und in der ganzen Welt. Wie konnte es nur so weit kommen? Weshalb hat keine der Frauen vorher etwas gesagt? Wieso schützt man so einen Mann? Um Oscars zu gewinnen? Die eigene Karriere zu fördern?
Weshalb haben die Stars geschwiegen? Vielleicht tatsächlich, weil sie von Weinstein finanziell stillgelegt wurden. Vielleicht, weil sie Angst um ihre Karriere hatten. Vielleicht auch, weil die Belästigung in diesem Moment ihrer Karriere half. Vielleicht aber auch aus dem Grund, den viele Opfer von sexueller Gewalt für ihr Schweigen nennen: Scham.
Aber sind das überhaupt die Fragen, die wir uns nun stellen sollten? Müssen wir uns überlegen, was die Opfer dieser Belästigungen falsch gemacht haben? Oder geht es nicht vielmehr darum festzuhalten, was Weinstein falsch gemacht hat? Denn er ist es, der anscheindend 30 Jahre lang seine Macht missbraucht und Frauen unter Druck gesetzt hat. Er hat seine Stellung ausgenutzt, um junge Frauen auszubeuten. Er hat sexuelle Gewalt angewandt, um befriedigt zu werden.
Wenn wir etwas aus diesem Skandal lernen können, dann, dass Macht ein Verhalten, wie es Weinstein an den Tag legte, befeuert. Wenn sogar Angelina Jolie – mit einer Garde von Topanwälten im Rücken – es bis vor einer Woche nicht wagte, den Produzenten öffentlich zur Rede zu stellen, aus Angst, ihre Existenz und ihr Gesicht zu verlieren, wie soll dann eine normal verdienende Frau mit durchschnittlichen juristischen Mitteln diesen Schritt wagen? Weinstein ist ein Fall von vielen. Ein prominentes Beispiel, ja, vor allem aber eines, das für Tausende Übergriffe steht, die täglich auf der Welt passieren. Im Büro. An der Uni. Im Privatleben.
Sie habe gehofft, dass all die Geschichten, die sie hörte, erfunden seien, schrieb die Schauspielerin Kate Winslet in einem Statement. «Vielleicht waren wir alle naiv. Das macht mich so wütend.» Die Wut ist angebracht, denn die Frage, welche Mitschuld all jene Leute trifft, die über die Jahre hinweg von Weinsteins Fehlverhalten wussten, die Übergriffe vermuteten, aber nichts sagten, ist nicht von der Hand zu weisen.
Bis jetzt schweigen vor allem Männer. Künstler wie Quentin Tarantino, der zahlreiche Filme mit Weinstein produzierte, oder Aktivist Michael Moore, der zurzeit mit Weinstein ausgerechnet an einer Dokumentation über Trump arbeitet – dem vielleicht mächtigsten misogynen Mann der Welt.
Schauspielerin Emma Thompson erklärte gegenüber der BBC, dass Weinstein nur die Spitze des Eisbergs sei in einem System, das aus Belästigung und Schikane besteht. Es sei Zeit, die «conspiracy of silence», die Konspiration des Schweigens, endlich zu beenden.
Um dieses Komplott aufzubrechen, braucht es vor allem auch die Männer. Wegschauen geht nicht mehr, schweigen erst recht nicht. Es ist Zeit, dass sich Männer mit dem Verhalten anderer Männer schonungslos auseinandersetzen.
Das gilt natürlich nicht nur für Hollywood. Blicke ich in mein Umfeld, verfolge ich meinen Newsfeed in den Social Media, dann sind es fast ausschliesslich Frauen, die mich nach meiner Meinung im Fall Weinstein fragen, die Artikel teilen und mitdiskutieren. Das muss sich ändern. Wir alle müssen an der Diskussion teilnehmen und Stellung beziehen. Frauen UND Männer.