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In Schweden werden Freier bestraft – eine gute Sache?

In Schweden werden Freier bestraft – eine gute Sache?

  • Text: Helene Aecherli; Bilder: Getty Images

Als erstes Land der Welt hat Schweden ein Gesetz eingeführt, das Freier bestraft und die Prostituierten zu Opfern männlicher Gewalt erklärt. Das Sexkaufverbot wird international als Erfolgsmodell gefeiert. Und wehe, das wird infrage gestellt! Eine Reportage aus der Schattenwelt.

Karolina* ist der Prototyp der jungen Schwedin. Lange, blonde Haare, ihr Gesicht rund und ungeschminkt. So unergründlich wie verletzlich. Sie ist 26 Jahre alt, angehende Diplomingenieurin, seit acht Jahren Prostituierte. Ihre Spezialität: ganztägige Engagements, inklusive Übernachtung. In diesen 24 Stunden kann sie ihr ganzes Einfühlungsvermögen ausspielen, kann sie Freundin und Zuhörerin sein; Talente, die ihren Marktwert erhöhen. Wir sitzen in einer Filiale des Espresso House, dem nordischen Pendant zu Starbucks, im noblen Stockholmer Stadtteil Östermalm, es ist Februar, kurz bevor die Corona-Pandemie anzurollen beginnt. Karolina trägt ein dunkelrotes Jackett und karierte Hosen, vor sich eine Tasse Kräutertee. Um ein Haar hätte sie das Interview platzen lassen. Sie hat über Nacht eine Blasenentzündung bekommen und musste zum Arzt, brauchte dringend ein Antibiotikum. Sie ist auf der Durchreise zu einem Kunden in Linköping, einer Stadt knapp zweieinhalb Zugstunden vom Stockholm entfernt.

Karolina ist ins Sexbusiness eingestiegen, weil man als Studentin mit Männern mehr Geld macht als mit Babysitting oder Altenpflege. «Schweden ist für Escorts ein gutes Land, hier lässt sich alles verkaufen, alles», sagt sie. «Du kannst sogar ein bisschen älter sein oder ein bisschen runder. Und bist du erst noch Schwedin, hast du einen Riesenvorteil. Dann bist du sicher kein Opfer von Menschenhandel, das ist für viele Kunden wichtig.» Vergangenen Sommer verdiente Karolina über 25 000 Franken – in einem Monat. «Eine irrwitzige Summe», sagte sie, «so viel Lohn erhält in Schweden höchstens ein Konzernchef.» Mittlerweile hat sie sich eine Buchhaltungs-App heruntergeladen. Die App bestärkt sie darin, sich als Unternehmerin zu sehen, vor allem aber als eine Person, die sich das Recht herausnimmt, ihren Weg zu gehen, auch wenn sie damit gegen die Norm verstösst und ihr die Öffentlichkeit unablässig ins Ohr zischt: «Das ist falsch, was du da tust!»

Die Illusion, nicht gegen das Gesetz zu verstossen

Karolina ist ein Gesicht aus der Schattenwelt, die es in Schweden eigentlich gar nicht mehr geben soll. 1999 hatte das Land als erstes weltweit ein Gesetz in Kraft gesetzt, das Vermittlung und Erwerb sexueller Dienstleistungen verbietet, Freier wie Zuhälter bestraft, Prostituierte hingegen straffrei lässt. Denn diese gelten als Opfer patriarchaler Machtstrukturen, ohne die es Prostitution gar nicht erst geben würde. Folglich definiert das «sexköpslagen» den Kauf von Sex als Ausbeutung der Frau, mehr noch, als eine Form der Vergewaltigung, unabhängig davon, in welchem Verhältnis die Prostituierte zu ihrem Kunden steht. Das Konzept der selbstgewählten Prostitution, wie es etwa in der Schweiz gängig ist, und damit verbunden auch der Begriff der «Sexarbeit» werden entschieden abgelehnt. Denn wenn bezahlter Sex als Gewaltakt gilt, kann es keine Freiwilligkeit geben. «Deshalb spiele ich den Akt der Bezahlung jeweils als Zugabe herunter», hatte mir Karolina zugeraunt, bevor sie sich von mir verabschiedete. «Ich gebe meinen Kunden die Illusion, nicht gegen das Gesetz zu verstossen.»

Das Sexkaufverbot gilt als revolutionär und wird als Meilenstein der feministischen Regierung Schwedens gefeiert. Dank intensiven Lobbyings ist es längst auch zu einem ihrer Exportschlager geworden: 2006 wurde es – in einer modifizierten Form – in Finnland eingeführt, 2009 in Norwegen und Island, 2014 empfahl der Europarat allen europäischen Ländern das «schwedische Modell» zu übernehmen, es folgten Frankreich, Irland, Kanada und Israel. 2018 hat die Frauenzentrale Zürich mit ihrer Kampagne «Für eine Schweiz ohne Freier» das bevorstehende 20-Jahr-Jubiläum des Gesetzes zum Anlass genommen, die Diskussion über ein Sexkaufverbot auch hierzulande zu lancieren.

Kaum verlässliche Daten

Doch sucht man nach Material, das den Erfolg des schwedischen Gesetzes belegt, wird es schwierig. Verlässliche Daten gibt es kaum, die vorhandenen Zahlen sind entweder alt oder wenig aussagekräftig. Dies wirft die Fragen auf: Wie viel Erfolg steckt eigentlich tatsächlich in diesem «Erfolgsmodell» und wie viel ideologisches Wunschdenken? Und – angesichts der mageren Datenlage: Ist man überhaupt gewillt, das Sexkaufverbot auf seine tatsächliche Wirkung hin zu evaluieren, und zwar nach wissenschaftlichen Kriterien?

Seit Jahrzehnten geht man in Schweden zum Beispiel von rund 3000 Frauen in der Prostitution aus. Die Dunkelziffer jedoch wird auf ein Mehrfaches geschätzt. In Stockholm, Göteborg und Malmö soll die Strassenprostitution zwischen 1995 und 2014 um über die Hälfte geschrumpft sein, von insgesamt 650 auf 250 Frauen. Ob sich dieser Rückgang jedoch mit dem Sexkaufverbot oder vielmehr mit der Verbreitung des Internets erklären lässt, bleibt offen. Fakt ist jedenfalls, dass das Verschwinden des klassischen Strassenstrichs keineswegs ein spezifisch schwedisches Phänomen ist, sondern Teil eines internationalen Trends, der vor der Jahrtausendwende auch die Schweiz erfasst hat; notabene eines der liberalsten Länder Europas in Bezug auf Prostitution.

Internet und Mobiltelefonie haben nicht nur «die Diversifizierung der Angebote» beschleunigt, wie die «NZZ» 2009 feststellte. Die neuen Technologien haben das Sexgewerbe auch von der Strasse weg und in Hotelzimmer, Privatwohnungen oder Airbnbs verschoben – und damit weitgehend der behördlichen Kontrolle entzogen. In Schweden sind die Sexanzeigen im Netz seit den Neunzigerjahren bis 2014 von 302 auf 6965 angestiegen. Googelt man heute zum Beispiel «Escort Girls Sweden» kommt man auf knapp zwölf Millionen Ergebnisse; zumindest ein Indiz dafür, dass das Sexgewerbe nach wie vor floriert.

Eine Untersuchung der schwedischen Gleichstellungsbehörde verspricht nun neue Aufschlüsse über die tatsächliche Verbreitung der Prostitution. Erste Resultate werden jedoch frühestens nächstes Jahr erwartet. Ziemlich aktuell ist dafür dies: Gemäss einer im Mai 2019 veröffentlichten Studie des Gesundheitsministeriums sollen zehn Prozent der schwedischen Männer zumindest einmal im Leben für Sex bezahlt haben, acht von zehn geben an, den Sex auch im Ausland zu kaufen. Diese Zahlen sind über die letzten zwanzig Jahre konstant geblieben – trotz des Sexkaufverbots. Immerhin, so der Kommentar zur Studie, habe sich in Schweden im Vergleich zu Norwegen und Dänemark die Menge der Sexkäufer nicht erhöht, was wiederum als Erfolg des «schwedischen Modells» gewertet wird.

Um ihren Exportschlager noch nachdrücklicher zu vermarkten, ernannte die schwedische Regierung sogar erstmals einen Sonderbotschafter für den Kampf gegen Menschenhandel und Prostitution. Ihr Mann im Amt: der Anwalt und einstige Direktor des Gesundheitsministeriums Per-Anders Sunesson; die Zeitschrift «Emma» bezeichnet ihn als «Botschafter einer besseren Welt». Er lässt sich auf Anfrage von annabelle nicht zweimal bitten und lädt umgehend aufs Aussenministerium ein. Es liegt an einer schmalen Strasse in der Nähe der Riksbron, der Brücke, die zum Reichstagsgebäude führt. Auf dem Weg dorthin fällt ein Plakat auf, das eine junge, mit einem Maschinengewehr bewaffnete Frau im Tarnanzug zeigt, darunter die Frage: «Kan man ha mens i fältet?» – Kann man im Feld menstruieren? Das schwedische Militär will mit der Kampagne mehr Frauen für die nationalen Streitkräfte gewinnen. Die Menstruation in einen hypermaskulinen Kontext zu setzen, ist so schlau wie provokativ – und für ein Land, das die Gleichstellung von Mann und Frau zu seinem obersten Gebot ernannt hat, nur konsequent.

Wo Nachfrage, da auch Angebot

Per-Anders – er bietet sofort das Du an – empfängt in einem Sitzungsraum des Ministeriums; rot gepolsterte Ledersessel, getäferte Wände, es riecht nach Kaffee, wie in allen schwedischen Amtstuben. Per-Anders ist jungenhaft athletisch, verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Söhnen – und beginnt mit einer Anekdote: Als er vor vier Jahren sein Amt antrat, hielt er vor Abgeordneten Deutschlands, Österreichs und Hollands eine Brandrede zum Sexkaufverbot. Er hatte sich Applaus erhofft, doch der blieb aus. Keiner wollte danach mit ihm Kaffee trinken. «Ich war zur Persona non grata geworden», sagt er. «Warum? Weil ich empfindliche Stellen getroffen hatte. Denn es geht in der Prostitution immer um die Macht der Männer über Frauen. Und um sehr viel Geld. Um ein Milliardenbusiness. Nehmen wir das Beispiel Deutschland: Dort werden täglich 1.2 Millionen Sexkäufe getätigt, und dafür stehen 400 000 Frauen zur Verfügung. Frauen, die dazu gezwungen werden, sich an 25 Männer pro Tag zu verkaufen, als wären sie ein Stück Fleisch. Haben sie etwa nicht das Recht auf eine würdige Arbeit? Da läuft doch etwas schief?»

Gemäss Recherchen der «Zeit» sind diese Zahlen zwar vollkommen aus der Luft gegriffen, wie auch das Statistische Bundesamt bestätigt. Ende 2018 waren bei den deutschen Behörden offiziell 32 800 Prostituierte gemeldet, wie hoch die Dunkelziffer ist, weiss niemand. Dennoch liefern die Zahlen Sunesson wuchtige Argumente für die Gleichung: Wo Nachfrage, da auch Angebot. Folglich müsse beim Kunden angesetzt werden. Laut Per-Anders habe der Wind gekehrt, inzwischen entstünden sogar in Holland und Deutschland Koalitionen, die das schwedische Modell propagierten. Bedenken über die Wirkung des Gesetzes kontert er lakonisch: «Na ja, nur, weil es verboten ist, jemanden umzubringen, hören Menschen nicht auf, zu morden, oder?»

Das Machtgefüge zwischen Opfer und Täter verändern

Das Gesetz, sagt er eindringlich, fordere eine Haltung ein: «Niemand hat das Recht auf den Körper einer Frau», und das sei der Punkt. Dann zieht er seinen wichtigsten Pfeil aus dem Köcher: Den Schutz der Prostituierten. «Unser Sexkaufverbot hat das Leben der Frauen viel sicherer gemacht. Wird ein Kunde gewalttätig oder droht, nicht zu bezahlen, rufen sie die Polizei. Das hat das Machtgefüge zwischen Opfer und Täter verändert. Nun ist die Frau in der stärkeren Position.» Es gebe hierzulande keine politische Partei, die das Sexkaufverbot in Frage stellt, betont er. «Keine einzige!»

Als ein schwedischer Banker Jasmina* nach dem Sex gestand, dass er mit ihr ein Mädchen zeugen wollte, um es später sexuell zu missbrauchen, einen Buben jedoch sofort töten würde – an jenem Abend alarmierte sie die Polizei. Zusammen mit den Beamten stellte sie ihrem Kunden eine Falle, danach wurde sie in ein Frauenhaus gebracht und begann ein Ausstiegsprogramm für junge Prostituierte. Das war der Wendepunkt in ihrem Leben. Seither wird die Rumänin, 31 Jahre alt, als stille Heldin gefeiert, als Kronzeugin für die Dringlichkeit des Sexkaufverbots.

Wer will aussteigen?

Simon Häggström, ein auf Menschenhandel spezialisierter Polizist, der mit messianischem Eifer danach strebt, Frauen aus der Prostitution zu befreien, und sich nebenbei als Verfasser von Doku-Fiction einen Namen macht, gewährte ihr sogar ein Kapitel in einem seiner Bücher. Heute, zwei Jahre später, hat Jasmina eine eigene Wohnung, studiert Traumatherapie, leistet Freiwilligenarbeit. Zweimal pro Woche sucht sie die Strassen Stockholms nach Prostituierten ab – die meisten aus Rumänien, Bulgarien und Nigeria –, um ihnen zu helfen, aus dem Sexhandel auszusteigen. Nach einigem Zögern willigt Jasmina ein, die Reporterin auf eine ihrer Touren mitzunehmen.

Treffpunkt ist vor dem Warenhaus Åhléns, es ist Samstagabend um zehn, der Regen peitscht ins Gesicht, es bläst eine eiskalte Bise. Jasmina trägt eine dicke Jacke mit Kapuze, die ihr Gesicht noch blasser erscheinen lässt. Stoisch erklärt sie die Route, die wir in den nächsten Stunden zurücklegen werden. Es hört sich an wie ein Schlachtplan. Jasmina geht rasch, ihre Hände tief in den Jackentaschen. Sie weist auf eine Frau in einer Garageneinfahrt hin, die frenetisch auf ihr Handy tippt, gegenüber parkiert ein roter Wagen. Die Frau beachtet Jasmina nicht. «Eine Rumänin und ihre Zuhälterin», sagt sie. «Bei ihnen blitze ich ab.»

«Ich fühlte mich nur noch als sexuelle Fantasie»

Jasmina wuchs in einem Dorf in Rumänien auf, ihr Vater vom Ceausescu-Regime traumatisiert, ihre Mutter suizidgefährdet, sie selbst wurde mit 14 vergewaltigt. Danach hing sie in Clubs herum, «tanzte nackt auf dem Tisch für eine Flasche Champagner», schlief mit jedem, der sie wollte. Später wagte sie den Sprung nach Brescia, jobbte als Kellnerin. Zog weiter nach London, fand eine Stelle als Aupair. Als sie es nicht mehr ertrug, dass der Hausherr Sex von ihr wollte, ging sie nach Wien, kam über rumänische Zuhälter in ein Bordell in Zürich, schaffte in Dubai an, landete schliesslich in Stockholm. Jasmina liess sich aber nicht verschieben wie eine Ware, sondern kontaktierte ihre Mittelsmänner aus eigenem Antrieb, buchte auch die Flüge selbst. «Ich hatte keine andere Identität als die des Escorts, ich konnte nicht anders», erklärt sie. «Doch fühlte ich mich längst nicht mehr als Individuum, nur noch als sexuelle Fantasie.»

Wie viele Frauen jährlich über Menschenhändler nach Schweden gelangen, um anzuschaffen, ist nicht bekannt, die nationale Polizeibehörde veröffentlicht dazu keine Zahlen. Zudem bleibt unklar, wie sich das Sexkaufverbot auf die Entwicklung des Menschenhandels ausgewirkt hat. 2008 bescheinigte das Justizdepartement dem Gesetz zwar eine abschreckende Wirkung, räumte aber gleichzeitig ein, dass es die Marktbedingungen für gerissene Menschenhändler auch verbessern könnte, weil durch das Gesetz die Preise für Sex gestiegen sind.

Vertrauen in Gott

Jasmina betäubte sich mit Kokain, drohte ihren Zuhältern mit der Polizei, sollten sie ihr etwas antun. Die «Pimps» verfassten ihre Sexanzeigen, organisierten die Treffen mit Kunden, buchten Zimmer in Hotels, deren Rezeption abends nicht besetzt war. Samstagnachts zwischen 2 und 5 Uhr lief das Business auf Hochtouren in der Stockholmer City, ihr Handy läutete so penetrant, dass Freier sie schon mal baten, es auszuschalten. Vormittags, sagt sie, ging sie oft zu Kunden nachhause, meist kurz nachdem sich deren Ehefrauen auf den Weg gemacht hatten, die Kinder zur Krippe zu bringen.

An der Malmskillnadsgatan, der einstigen Hauptachse des Strassenstrichs, stossen wir auf zwei weitere Frauen, die ältere ist Schwedin, die jüngere aus dem Iran, beide schon seit Jahren im Business. Als die Iranerin Jasmina sieht, leuchtet ihr Gesicht auf: «Lass mich dich umarmen. Fuck Corona!» Sie wolle endlich weg von der Strasse, stösst sie hervor. Die Geschäfte liefen schlecht. Aber immer, wenn sie nah dran sei, den Schritt zu tun, verlasse sie der Mut. Sie seufzt. Jasmina nickt. «Du musst Gott vertrauen», antwortet sie, «er wird dir den Weg weisen.» Sie greift in ihre Tasche und holt die Visitenkarte der Organisation hervor, die damals auch ihr geholfen hat. «Melde dich hier, wenn du Unterstützung brauchst.» Die Iranerin blickt auf die Karte, lächelt verlegen. «Ich überleg es mir.»

Eine moralische Frage

Männer, die für Sex bezahlen, werden «torskar» genannt: Dorsche. Dem Wort liegt das Verb «att torska» zugrunde, was so viel bedeutet, wie «aus Einfalt verlieren». Wenn Dorsche der Polizei ins Netz gehen, wird dies in fetten Schlagzeilen verkündet: «Ein Volvo-Chef, ein Clubspieler, ein Lehrer»: so gesehen in der Zeitung «Göteborgs-Posten». Vor Kurzem wurde bei der Razzia «Insats torsk» («Einsatz Dorsch») in einem Stockholmer Privatbordell der Fitness-Influencer und Star-Koch Paolo Roberto geschnappt. Er stellte sich in vorauseilender Reue gleich selbst an den Pranger, bezeichnete sich als «Parasit, den es auszurotten gilt», trotzdem liess die öffentliche Ächtung nicht auf sich warten: Innerhalb von 24 Stunden wandten sich fast sämtliche Geschäftspartner betreten von ihm ab, Lebensmittel, die seinem Namen trugen, wurden eilig aus den Regalen genommen. «Es geht um die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen», sagt Janna Davidson, Koordinatorin der Sektion Menschenhandel der Stockholmer Polizei. «Und das ist letztlich eine moralische Frage.»

Sie empfängt in ihrem Büro im Hauptquartier der Polizei, ein schlossähnliches Gebäude, vor dem Eingangstor wehen schwedische Fahnen. Janna hat einen kernigen Händedruck, auf ihrem Schreibtisch liegen Polizeirapporte und Dokumentationen, darunter eine Hochglanzbroschüre zum Sexkaufverbot, herausgegeben vom Swedish Institute, das zuständig ist für die Vermarktung Schwedens im Ausland. Sie drückt mir ein schwarzweisses Schlüsselband in die Hand. «Du avgör!», du entscheidest, steht darauf geschrieben. Es ist eine Kampagne der Gleichstellungsbehörde, die Männer dazu auffordert, Nein zu sagen zur Prostitution. «Wir wollen sie dazu bringen», so die Polizistin, «den richtigen Weg zu wählen.»

In flagranti ertappt

Auf der Jagd nach Sexkäufern nimmt die Polizei meist über Onlineanzeigen Kontakt mit Prostituierten auf und gibt an, an einem Treffen interessiert zu sein. Die Ermittler folgen dabei dem Zufallsprinzip, manchmal stossen sie aber auch auf Anzeigen, die sie stutzig machen, etwa wenn eine Anbieterin angibt, auf Folter zu stehen. Vor Ort täuscht der Fake-Sexkäufer dann Gewissensbisse vor und zieht sich zurück. Danach überwacht ein Team die Wohnung der Prostituierten und fängt die Täter ab, wenn sie rauskommen. Manchmal stürmen die Polizisten aber einfach das Zimmer, um sie in flagranti zu erwischen. «Das ist für die Ermittler oft sehr unangenehm», sagt Janna. «Aber sie handeln im Dienst einer höheren Sache. Und das wissen sie.»

Im Gegensatz zum proklamierten Ausmass des moralischen Vergehens sind die Strafen überraschend mild. 2018 wurden in Schweden insgesamt 840 Männer wegen Sexkaufs angezeigt, aber bloss bei 279 reichten die Beweise, um auch eine Busse auszustellen. Diese wird nach dem Einkommen berechnet, die niedrigste Busse beläuft sich auf umgerechnet 250, die höchste auf rund 5000 Franken. Temposünder im Strassenverkehr be-zahlen ähnlich viel. Die Geldstrafen erscheinen in keinem Register, zeigt sich die ermittelnde Dienststelle gnädig, wird der Busszettel auf Wunsch an eine anonyme Geschäftsadresse geschickt. Eine Gefängnisstrafe ist zwar möglich – seit vor zwei Jahren das verschärfte Sexualstrafrecht in Kraft getreten ist, können Männer auch wegen «unachtsamer Vergewaltigung» verurteilt werden; dann etwa, wenn ein Freier ahnt, dass die Frau zur Prostitution gezwungen wird, er aber dennoch Sex mit ihr hat. Bis anhin, sagt Janna Davidson, sei jedoch kaum je ein Sexkäufer hinter Gittern gelandet.

Nur Thai-Massagen

Das Sexkaufverbot scheint denn auch viele Freier relativ kalt zu lassen. Dieser Eindruck jedenfalls entsteht, als ich auf einer einschlägigen Onlineplattform Männer anschreibe und dabei jene ins Visier nehme, die besonders viele Prostituierte bewertet haben. Drei Männer antworten. Der «Master» (133 Bewertungen), schreibt, er lasse sich grundsätzlich nur auf Thai-Massagen ein, rät aber, darauf zu achten, dass nur ein Mädchen in der Wohnung ist, «dann gibts weniger Kunden, und du fällst weniger auf». Der Zweitplatzierte (124 Bewertungen) meint: «Ach, dieses Gesetz wurde vor langer Zeit von Linken gemacht. Schau dir die übrigen Länder an, da gilt es als das älteste Geschäft der Welt.» Der Dritte (105 Bewertungen) flachst: «Life is a risky business.»

«Das Sexkaufverbot ist so verdammt zahnlos», sagt Cassandra verächtlich und rührt heftig in ihrem Cappuccino. Es werde nicht mit der Ernsthaftigkeit verfolgt, die es verdiene. Im ganzen Land seien Beratungsstellen für Menschen in der Prostitution unterbesetzt, Sexkauf stehe bei der Polizei nicht auf der Prioritätenliste, männliche Gewalt an Frauen würde nur schleppend verfolgt. Letzten Dezember wollte sie jenen Mann anzeigen, dem sie ihren Körper über Jahre hinweg verkauft und der sie nach eigenen Angaben «immer wieder missbraucht hatte, obwohl ich damals noch minderjährig war». Aber die zuständige Polizeibeamtin habe sie nur müde angeschaut. Ihr fehlten Beweise.

Mädchen trifft auf Sugardaddy 

Cassandra, 24 Jahre alt, ist Mitglied des Netzwerks #intedinhora («nicht deine Hure»), die im Fahrwasser der #MeToo-Bewegung entstanden ist. Es will jenen eine Stimme geben, die sehr früh angefangen haben, sich zu prostituieren, und fordert eine massive Verschärfung des Sexkaufverbots, um junge Frauen vor sexueller Ausbeutung zu schützen. Cassandra wuchs in einer schwedischen Mittelklasse-Familie auf, hat kurze, blonde Haare, trägt ein Nasenpiercing und eine violette Mütze. Heute, in ihrem Leben nach der Prostitution, versucht sie sich als Künstlerin. Wir treffen uns in der hintersten Ecke eines Cafés in Göteborg.

«Die Leute hier haben keine Ahnung, wie verbreitet Prostitution in Schweden ist», sagt sie, «die meisten glauben, das komme nur in anderen Ländern vor, und blicken auf die ‹Hure›, als wäre sie ein mythologisches Wesen.» Mindestens eine von hundert jungen Frauen verkaufe sexuelle Dienstleistungen, es könnte jede sein, die im Klassenzimmer eines Gymnasiums sitzt. Als «Einstiegsdrogen» wirkten oft Pornos und die mediale Sexualisierung des weiblichen Körpers, viele Mädchen angeln sich einen Sugardaddy, einen meist älteren Mann, der den Sex auch mit Designertaschen oder Reisen bezahlt. «Ich war ja eine davon.»

10 Franken für einen Blowjob

Mit 15 Jahren hatte Cassandra eingewilligt, einem gleichaltrigen Schulkameraden auf der Toilette «einen zu blasen». Sie hatten hundert Franken vereinbart, doch er gab ihr bloss zehn, weil sie den Deal brach und er ihr sein Glied mit Gewalt in den Mund schieben musste. Danach suchte sie Hilfe bei einer Psychologin, wollte erzählen, was ihr widerfahren war. Aber die Psychologin habe nur gesagt: «Das tust du doch nicht wieder, oder?»

Das war ihr Einstieg in die Prostitution. Rückblickend erkennt sie in ihrem Handeln die Sehnsucht nach Bestätigung, die gekoppelt war mit selbstverletzendem Verhalten, vor Kurzem wurde ihr eine «komplexe posttraumatische Belastungsstörung» diagnostiziert. Damals aber schrieb sie auf einer Datingseite bloss: «Ich bin eine arme Studentin …» Stunden später sei sie von Nachrichten «älterer, weisser Männer» überschüttet worden, und irgendwann habe sie nicht mehr genug bekommen können von «deren Blicken und deren Geld».

Ungebrochene Unterstützung

Ihre Mutter fragte sie mal: «Papa sagt, dass du Sex verkaufst. Das tust du doch nicht, oder?» – «Sicher nicht», hatte Cassandra geantwortet, danach sei das Thema erledigt gewesen. Dafür redet sie heute umso mehr darüber. Auch darüber, dass Sexkäufer härter für ihre Taten bestraft weden sollten. Nach dem Skandal um Paolo Roberto fordert ihr Netzwerk zusammen mit Politikerinnen für Sexkäufer Gefängnis statt Bussen. Noch wichtiger aber sei, so Cassandra, dass Frauen in der Prostitution offiziell als Opfer von Verbrechen anerkannt würden und sie damit etwa auch das Recht erhielten, Schadenersatzforderungen zu stellen.

Das Sexkaufverbot geniesst in der schwedischen Bevölkerung ungebrochene Unterstützung. Die Zustimmungsrate erreicht bei Frauen 85, bei Männern 60 Prozent. In einem Shoppingcenter macht eine Gruppe Modellflugzeugbauer mit Plakaten auf ihren Club aufmerksam, gutgelaunte, ältere Männer, die auf Klappsesseln Kaffee trinken. Wie stehen sie zum «sexköpslagen»? Die Männer blicken überrascht. Einer steht auf, räuspert sich. «Ja, hör mal, du, das ist eine gute Sache», sagt er. «Schau doch mal auf die Länder Afrikas – dort will man nicht, dass die Macht der Männer infrage gestellt wird. Aber bei uns ist das anders.» Er lacht triumphierend. «Vi har diskat bort patriarkatet!» – Wir haben das Patriarchat weggespült! Gegen diese Phalanx der Befürworter ist schwer anzukommen.

Sexkaufverbot macht Prostitution gefährlicher

Und doch: In letzter Zeit werden vermehrt Stimmen laut, die das Verbot kritisieren. An vorderster Front befinden sich Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und die RFSL, der schwedische Verband der Homo-, Bi- und Transsexuellen. Die NGOs fordern allem voran die Entkriminalisierung der Freier. Sie monieren, dass das Opfer-Täter-Muster den komplexen Motiven von Frauen in der Prostitution zu wenig Rechnung tra-ge. Zudem habe das Sexkaufverbot das Leben von Menschen in der Prostitution keineswegs sicherer, sondern sehr viel gefährlicher gemacht. Am dezidiertesten meldet sich Fuckförbundet, der Fickverband, zu Wort; eine rund hundertköpfige Organisation, die sich als politisches Sprachrohr von Sexarbeiterinnen versteht. In ihrem Rapport «Twenty Years of Failing Sexworkers», der diesen Januar erschien, stellt sie dem Regime des Sexkaufverbots ein schlechtes Zeugnis aus.

«Überall wird behauptet, dass uns das Verbot schützt, aber das Gegenteil ist der Fall. Denn alles, was wir anfassen und was wir tun, ist illegal», erklärt Kira, vierzig Jahre alt und Aktivistin des Verbands. «Die Kunden wagen nicht mehr, ihre Identität preiszugeben, du weisst nie, wen du triffst. Oft sind sie nervös und erwarten von uns, dass wir für ihre Sicherheit sorgen. Kondome sind zum Beweismaterial geworden. Und seit Hotelpersonal mit der Polizei zusammenarbeitet, ist der Zugang zu Hotels erschwert. Oft bleibt uns nichts anderes übrig, als mit den Kunden weit in den Wald hineinzufahren.» Diese Entwicklung wird von der Organisation Médecins du Monde bestätigt. In ihrer Studie zu den Folgen des Sexkaufverbots in Frankreich geben 63 Prozent der befragten Prostituierten an, dass sich ihre Lebensbedingungen verschlechtert haben, 42 Prozent erleben mehr Gewalt, über 70 Prozent haben heute mehr Angst vor der Polizei als zuvor.

Cam-Shows, Telefonsex und der physische Körper

Über Kiras Busen spannt sich ein knallrosa T-Shirt mit der Aufschrift «Support your local sexworker», sie trägt eine schwarze Brille, ihre Haare sind zu einem Zopf geflochten, der Anhänger ihrer Halskette entpuppt sich als zwei winzige, ineinander verschränkte Handschellen. Kira lebt in Skövde, einer Provinzstadt zwischen Stockholm und Göteborg. Sie holt mich am Bahnhof ab, führt mich in das fast leere Restaurant des lokalen Prachthotels, das gerade renoviert wird. Wie Karolina trinkt auch Kira Kräutertee.

Noch bis vor fünf Jahren hatte sie bei Volvo Schichtarbeit geleistet, kam sie nachhause, war sie so müde, dass sie ungeduldig abwinkte, wenn ihre Kinder weinten. Irgendwann hatte sie genug, gab ihren Job auf, setzte auf ihr zweites Standbein: Sex. Seither bietet Kira Cam-Shows, Telefonsex und ihren physischen Körper an. Auf dem Estrich des Bauernhauses, in dem sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern wohnt, hat sie sich ausserdem ein kleines Studio eingerichtet, in dem sie, um den Familienkalender herumorganisiert und mit dem Placet ihres Partners, als Domina devote Kunden empfängt.

Es gibt die freiwillige Prostitution

Schon mit 16 fantasierte sie davon, als Stripperin aufzutreten, und als sie mit 35 zum ersten Mal Sex gegen Bezahlung hatte, merkte sie, dass sie das anturnte. Doch sie war beunruhigt, fragte sich: «Keine Frau macht das freiwillig. Was stimmt nicht mit mir?» Erst sehr viel später wurde ihr klar, dass sie keine Ausnahme ist, dass es entgegen dem gängigen Narrativ von der Prostituierten als Gewaltopfer auch eine freiwillige Prostitution gibt. «Aber das will da draussen niemand hören», sagt sie.

Betont sie in Interviews, dass sie sich bewusst für die Sexarbeit entschieden habe und dass sie sich nicht prostituiere, um die Schmerzen einer traumatischen Kindheit zu ersticken, fallen Bemerkungen wie: «Es ist offensichtlich, dass es ihr schlecht geht. Nur hat sie es selber noch nicht begriffen.» Das ist paradox, so Kira. Da könnten Frauen wie sie mit den Behörden zusammenarbeiten, um die Situation von Prostituierten zu verbessern, doch würden sie als unmündig erklärt. «Es ist, als dürften wir nicht existieren.»

Stigma von Sexarbeiterinnen verschärft

Im Zuge des Sexkaufverbots hat sich das Stigma von Sexarbeiterinnen verschärft. Sie laufen Gefahr, Job, Wohnung, gar ihre Kinder zu verlieren. Migrantinnen ohne legale Papiere können aufgrund «unehrlicher Arbeit» des Landes verwiesen werden, obwohl Prostitution nicht als Arbeit anerkannt wird. «Um unser Leben unter Kontrolle zu halten, sind wir gezwungen zu lügen, beim Steueramt, bei Vorsorgeuntersuchungen, an Elternabenden, vor unseren Kindern. Es ist, als lebten wir in einem Schrank, so, wie die Homosexuellen vor dreissig Jahren.» Würde sie von einem Kunden bestohlen oder vergewaltigt – die Polizei zu rufen käme ihr nicht in den Sinn. «Würde ich das tun, lässt mich die Polizei womöglich beschatten, um an die Sexkäufer heranzukommen. Das kann ich mir nicht leisten.»

Sie hat Angst, dass ihre Kinder für das, was sie tut, in der Schule gemobbt oder ihr vom Sozialamt weggenommen werden. Zudem lebt sie mit dem Risiko, dass ihr Mann eines Tages verhaftet wird, weil er weiss, womit sie ihr Geld verdient, sie aber nicht daran hindert. Auf die vorsichtige Frage, weshalb sie denn nicht einfach aus dem Sexgewerbe aussteige, antwortet sie: «Glaub mir, ich wäge die Vor- und Nachteile meiner Arbeit ständig gegeneinander ab. Als Prostituierte bin ich freischaffend und kann für meine Kinder da sein. Ich habe keine besondere Ausbildung, als einzige Alternativen bleibt mir die Kasse im Supermarkt oder wieder die Schichtarbeit.» Sie schaut mich an. «Dieser Job ist für mich derzeit die beste aller Optionen.»

Die schwedische Sünde

Das Stigma, das Sexarbeiterinnen anhaftet, erinnert an eine christliche Sexualmoral, und das ist verwirrend, gilt Schweden doch seit Filmen wie Arne Mattsons «Sie tanzte nur einen Sommer» oder Ingmar Bergmans «Das Schweigen» als Ursprungsland der «schwedischen Sünde». Dem Klischee der blonden Schwedin haftet bis heute ein Hauch sexueller Freizügigkeit an. Um diesen Widerspruch zu verstehen, müsse man zu den Ursprün-gen des Sexkaufverbots zurück, sagt die Historikerin Susanne Dodillet, Lehrbeauftragte an der Universität Göteborg, die in ihrer Dissertation «Är Sex Arbete?» («Ist Sex Arbeit?») die Prostitutionsgesetze in Deutschland und Schweden verglichen hatte.

«An der schwedischen Sünde war in den 1960er-Jahren tatsächlich was dran. Damals wurden Zensurregeln gelockert, es gab Striplokale und kleinere Bordelle, und im Zuge dessen formierte sich eine Bewegung, die zum Ziel hatte, das Sexualstrafgesetz zu reformieren.» Diese Reform sah unter anderem vor, Vergewaltigung teilweise zu entkriminalisieren. Dagegen machte die schwedische Frauenbewegung mobil und hob rasch den Kampf gegen die Prostitution und später, nach dem EU-Beitritt Schwedens, auch gegen Menschenhandel mit aufs Schild. Anders als in Deutschland sei Prostitution in Schweden jedoch immer ein eher marginales Phänomen gewesen. Dass die Stimmung dagegen trotz allem moralisch aufgeladen werden konnte und sich besonders gegen jene Frauen richtet, die sich einer Opferrolle widersetzen, begründet Susanne Dodillet mit dem Streben Schwedens nach dem Gemeinwohl.

Bestrafend und ausgrenzend

«Verkauft eine Frau Sex», sagt sie, «handelt sie verantwortungslos gegenüber allen Frauen, denn damit verhindert sie eine gleichgestellte Gesellschaft.» So hat denn auch die bisher einzige nationale Studie aus dem Jahr 2010, die die Auswirkungen des Sexkaufverbots untersuchte, die negativen Konsequenzen für Frauen im Sexgewerbe als etwas Positives interpretiert, weil es ja Ziel des Verbots ist, der Prostitution ein Ende zu setzen. Ihr Fazit: «Die Symbolkraft des Gesetzes ist wichtiger als das Wohlergehen der einzelnen Prostituierten.»

In ihrem Essay «Governing in the Name of Caring» («Regieren im Namen der Wohlfahrt») bezeichnet die finnische Soziologin Niina Vuolajärvi das Sexkaufverbot gar als eine Form des «punitivist humanitarianism». Dieser «strafende Humanitarismus», schreibt sie, findet seinen Nährboden besonders in Ländern, die stolz sind auf ihren Wohlfahrtstaat und ihre progressive Politik, die höheren moralischen Prinzipien dient. «Das Sexkaufverbot steht zwar gegen aussen für Gleichberechtigung und den Schutz benachteiligter Frauen und erzeugt damit eine grosse Dringlichkeit. In der Praxis aber wirkt es bestrafend und ausgrenzend. Es trägt nicht dazu bei, die individuellen Rechte der Frauen zu stärken.»

«Mit uns oder gegen uns»

Kritische Stimmen finden jedoch wenig Gehör. Im Gegenteil: Seit sie lauter geworden sind, haben sich die Fronten zwischen Befürwortern und Gegnern verschärft, ist der Ton der Debatte radikaler geworden. «Es heisst nur noch: Entweder ihr seid mit uns oder gegen uns», sagt Sam*, Berater einer schwedischen NGO, der anonym bleiben will. Forscherinnen oder Menschenrechtsaktivisten, die die Wirkung des Sexkaufverbots infrage stellen, gelten als «Abtrünnige», als «schlechte Feministen», nicht selten werden sie als Kollaborateure der Pornoindustrie dämonisiert.

In letzter Zeit sei es sogar vorgekommen, erklärt Sam, dass Vertreter einer «sexpositiven» Haltung mittels «Deplatforming» mundtot gemacht werden sollten. So hätten etwa radikal-feministische Gruppierungen zum Boykott ihrer Veranstaltungen aufgerufen. Ähnlich wie die repressive Drogenpolitik des Landes sei auch das Sexkaufverbot an eine moralische Weltanschauung gekoppelt, und das sei beunruhigend: «Denn damit scheint jegliche Kritik am Sexkaufverbot das Selbstbild Schwedens als globales Vorbild zu bedrohen.» Es ist, als habe Schweden sein «lagom», seine goldene Mitte, zugunsten einer moralischen Vormachtstellung aufgegeben.

Bewusstsein für junge Männergeneration

Doch die Haltung der Öffentlichkeit bleibt unbeirrt, abgestützt auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens. «Mit dem Sexkaufverbot beziehen wir Stellung gegenüber einer Praxis, die für uns als Nation inakzeptabel ist», erklärt der Soziologe Sven Axel Månsson, der das «sexköpslagen» seit seinen Anfängen wissenschaftlich begleitet hat. «In Schweden gilt Sexkauf als kulturelles Versagen. Mit diesem Bewusstsein wächst die junge Männergeneration auf, und das ist ausschlaggebend.»

Das Gesetz, sagt er dezidiert, habe damit allem voran eine normative Wirkung. Es soll Menschen zu einem Verhalten erziehen, das in einer idealen, gleichgestellten Gesellschaft erwünscht ist. Wie so viele Befürworter geht auch Sven Axel Månsson davon aus, dass der Kauf von sexuellen Dienstleistungen eines Tages so verpönt sein wird wie Prügelstrafen für Kinder. 1979 hatte Schweden ein Gesetz erlassen, das Gewalt als Mittel bei der Kindererziehung verbietet – ebenfalls als erstes Land der Welt.

Ob das Sexkaufverbot quasi als «Social Engineering»-Projekt jedoch tatsächlich grundlegende Verhaltensänderungen bewirken wird, bleibt fraglich. «Man kann nicht einfach ein Gesetz erlassen, die Augen verschliessen und hoffen, dass ein derart komplexes Problem wie Prostitution verschwindet», sagt dazu Katarina Bergehed, Beauftragte für Frauenrechte bei Amnesty International Schweden. Um dem Gesetz und der Gesellschaft, in die es implementiert wurde, gerecht zu werden, brauche es endlich eine landesweite, unabhängige und vor allem ergebnisoffene Untersuchung über dessen Wirksamkeit, erklärt sie. Eine Untersuchung, die klar zwischen Menschenhandel und selbstgewählter Prostitution unterscheidet, die Frauen im Sexgewerbe als mündig betrachtet und sie zu Wort kommen lässt – auch wenn das Sexkaufverbot dadurch ins Wanken geraten sollte. Dann müsste es eben neu verhandelt werden, meint Katarina Bergehed: «Letztlich geht es doch um die Frage, wie ein demokratischer Staat die Rechte des Individuums schützen kann – auch wenn dieses Individuum eine Sexarbeiterin ist.»

*Namen geändert