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Schutzengel: Dank fremder Hilfe einen Herzstillstand überlebt

Leben

Schutzengel: Dank fremder Hilfe einen Herzstillstand überlebt

  • Text: Claudia Senn; Foto: Gian Marco Castelberg

Weil Helene Haker zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige tat, überlebte der Mann von annabelle-Redaktorin Claudia Senn einen Herzstillstand. Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Als das Herz meines Liebsten stehen blieb, auf dem Heimweg von der Tramhaltestelle, da kochte ich für uns beide gerade einen Tee. «Ich bin gleich da», hatte er gesagt. Doch er kam nicht. Eine kalte, dumpfe Angst kroch in mir hoch. Ich hörte die Sirene eines Krankenwagens, stürzte auf die Strasse und rannte auf das blinkende Blaulicht und die kleine Menschenansammlung auf dem Trottoir zu. Von weitem sah ich, wie einer der beiden Sanitäter den anderen bei einer Herzmassage ablöste. Ich sah, dass jemand einen Infusionsbeutel hielt. Ich sah die entsetzten Gesichter der Menschen am Strassenrand, die Gaffer sein mochten oder auch Helfer.

Dann war ich endlich nahe genug, um die Schuhe des Mannes zu erkennen, der auf dem Asphalt lag. Braune, halbhohe Campers. Es waren seine. Wie oft hatte ich mir Arztserien angesehen, in denen engagierte Notfallärzte um das Leben eines Verletzten kämpften? Ich liebte diese Serien. Das Drama um Leben und Tod, die grossen Gefühle, die andere durchlitten, während ich ihnen vom Sofa aus zuschaute. Nun war ich selbst mittendrin. Augenblicklich wusste ich, dass es keine schlimmere Hölle geben konnte.

Es ist mein Mann

«Es ist mein Mann», hörte ich mich mit einer gepressten Stimme stammeln, die ich bisher noch nicht von mir kannte. Dann fing ich an zu weinen, unkontrolliert. Mein Liebster war tot, das konnte jeder Laie erkennen. Die vereinzelten Piepstöne aus dem Monitor, den die Sanitäter an seinen Brustkorb angeschlossen hatten, klangen nicht annähernd wie ein Herzrhythmus. Das geliebte Gesicht: dunkelviolett angelaufen. So unerträglich erschien mir der Schmerz, dass ich hoffte, ich würde daran sterben, gleich hier und jetzt.

Da stand plötzlich eine Frau vor mir, gross, jung, kurze Haare. Sie breitete wortlos und sehr vorsichtig, fast andeutungsweise, ihre Arme aus – ein Angebot, mich hineinfallen zu lassen oder auch nicht, ganz wie ich wollte. Jemanden festhalten zu können, erschien mir wie eine rettende Insel in der stürmischen See. Hemmungslos schluchzte ich die Schulter der Wildfremden nass. Als ich wieder zu Atem kam, stellte sich die Fremde vor. Ihr Name sei Haker, sagte sie, und sie arbeite als Psychiaterin in einem Zentrum für Menschen in akuten Krisensituationen. Wenn es mir recht sei, könne sie mich dorthin mitnehmen und dafür sorgen, dass es mir besser gehe. Ich könne aber auch bei meinem Mann bleiben und mit dem Krankenwagen ins Spital mitfahren.

Pfefferminztee und ein Beruhigungsmittel

Schon einmal hatte ich um das Leben meines Liebsten gebangt. Ich wusste, wie verloren und entsetzlich allein man sich im Warteraum einer Notfallstation fühlen kann, während die Angst immer mehr an Terrain gewinnt, die Hände kaltschweissig, die Kehle ausgedörrt wie die einer Verdurstenden, der Liebste irgendwo unerreichbar auf seiner Odyssee durch die Diagnostik, vielleicht noch am Leben, vielleicht auch schon tot. Nein, da stieg ich lieber in Frau Hakers blauen Mini Cooper. Im Kriseninterventionszentrum bekam ich einen Pfefferminztee und ein Beruhigungsmittel. Als die Wirkung einsetzte, sanft wie ein Wattebausch, der sich schützend um meine Seele legte, rief Frau Haker in der Notfallstation an. Sie fragte sich bis zum diensthabenden Oberarzt durch und reichte dann den Hörer an mich weiter.

Ich erfuhr, dass mein Mann keineswegs tot war. Er hatte jedoch einen schweren Herzinfarkt erlitten. Um sein Gehirn vor den Schäden zu schützen, die ein Sauerstoffmangel angerichtet haben könnte, als sein Herz nicht mehr schlug, sei er in ein künstliches Koma versetzt worden, und sein Körper werde auf 33 Grad heruntergekühlt. Ob er überlebe und in welchem Zustand, könne man noch nicht sagen. «Aber er wurde vorbildlich versorgt, schon bevor die Ambulanz kam», sagte der Arzt, «das lässt hoffen.» Erst jetzt begriff ich, warum ich Frau Haker bei meinem bewusstlosen Mann angetroffen hatte: Bevor sie mich rettete, hatte sie ihn gerettet. Normalerweise sei sie nie in unserem Quartier unterwegs, berichtete sie. Doch an diesem Tag hatte sie ihr Auto nach einer Reparatur von der Garage abgeholt. Im Vorbeifahren beobachtete sie, wie mein Mann auf dem Trottoir bewusstlos zusammensackte.

Die familieninterne Hilfsmaschinerie

«Er sah aus, als sei er bereits tot», gestand sie mir. Trotzdem hielt sie an und begann unverzüglich mit Herzmassage und Beatmung. Zwei Anwohnerinnen seien dazugekommen, Krankenschwestern alle beide, Profis, mit denen sie sich abwechseln konnte, bis die Ambulanz eintraf. Noch kapierte ich nicht, was für ein unfassbares Glück das war: gleich drei Frauen, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige getan hatten. Gestärkt von Frau Hakers Zuspruch, liess ich die familieninterne Hilfsmaschinerie anrollen. Mein Bruder holte mich ab. Meine beste Freundin setzte sich in Genf in den Zug zu mir. Der erwachsene Sohn meines Mannes hielt im Spital die Stellung. Mein Liebster lag, umgeben von piepsenden Gerätschaften, auf der Intensivstation und sah sehr friedlich aus.

Ich hielt mich tapfer, denn ich hatte Frau Hakers Panikkiller-Pillen und ihre Handynummer, auf der ich sie zu den unmöglichsten Zeiten anrief. Nach 24 Stunden kündigten die Ärzte an, sie würden nun versuchen, den Patienten aus dem künstlichen Koma aufzuwecken. Doch wir müssten auch die Möglichkeit mit einbeziehen, dass er nie mehr erwache. Wenige Stunden später sass mein Liebster aufrecht in seinem Bett. Tags darauf verlangte er nach einem Dreigangmenü, das er in bester Laune verspeiste. Den faden Krankenhausfrass bezeichnete er als «das Köstlichste, was ich je gegessen habe». Das kam uns sonderbar vor. Doch sollte das einer der befürchteten Hirnschäden sein, so könnten wir damit leben.

Dem Tod den Stinkefinger gezeigt

Von Tag drei an befand er sich in einer Art Dauerpartystimmung. Das Gelächter aus seinem Krankenzimmer, wo er mit Schwestern und Besuchern schäkerte, war schon auf dem Gang zu hören. «Was für ein Kämpfer!», sagte der junge Stationsarzt voller Bewunderung. So eine schnelle Genesung hatte er noch nie erlebt. Erst jetzt verriet er mir, dass die Chance, ausserhalb eines Spitals einen Herzstillstand ohne Hirnschäden zu überleben, bei wenigen Prozenten liegt. Nach fünf Tagen gestattete ich mir zu glauben, dass mein Mann tatsächlich dem Tod den Stinkefinger gezeigt hatte. Vor lauter Erleichterung brach ich zusammen und heulte drei Tage lang durch. Eine ganz normale Reaktion, beruhigte mich Frau Haker.

Ich besuchte sie nun alle paar Tage in ihrem mit Aktenordnern vollgepferchten Büro, wo ich meine Seele erleichterte und ihren eifersüchtigen Foxterrier mit Leckerli bestach. Ich verspürte ein überwältigendes Bedürfnis, ihr zu danken. Doch wie bedankt man sich für ein geschenktes Leben? Mit der Kilopackung Sprüngli-Truffes, die ich als Erstes besorgte, war es noch nicht getan, also lud ich sie zum Essen ein. Wenige Monate später, als Krankenhaus und Reha hinter uns lagen und der Boden unter unseren Füssen wieder fester war, sassen wir alle an unserem Küchentisch. «Schön, dich auch mal bei Bewusstsein zu erleben», sagte die Retterin zum Geretteten. Sie war für uns nun nicht mehr Frau Haker, sondern Helene.

O nein, ein Besoffener!

Der Ossobuco war lecker, die Stimmung heiter. Noch einmal besprachen wir, wie das alles genau gewesen war, damals. «Als ich sah, wie du zusammenbrachst, war mein erster Gedanke: O nein, ein Besoffener!», gestand Helene meinem Mann. Warum stieg sie trotzdem aus ihrem Wagen aus? Warum hoffte sie nicht, ein anderer würde sich kümmern? Warum schien es für sie gar keine Frage zu sein, um das Leben dieses ihr völlig Unbekannten zu kämpfen? «Ich weiss nicht, ich habe es einfach getan», sagte Helene. Als Psychiaterin hatte sie von Zeit zu Zeit geübt, wie man jemanden wiederbelebt, doch einen Ernstfall hatte es nie zuvor gegeben.

Ich hoffte, ich könnte in einer ähnlichen Situation auch so beherzt reagieren wie sie. Aber ich war mir nicht sicher. «Du bist unser Schutzengel», sagte mein Mann. Bis heute habe ich nicht herausgefunden, wer die beiden Krankenschwestern waren, die Helene beigestanden sind. Sehr gern würde ich auch sie zu einem Ossobuco einladen. Oder zu einer Parmigiana, falls sie Vegetarierinnen sind. Vor allem aber möchte ich ihnen den grossartigen Mann vorstellen, den sie gerettet haben. Meinen Mann. Mein Liebstes. Dreieinhalb zusätzliche Jahre mit ihm haben die beiden und Helene mir bisher geschenkt, denn so lange ist das alles nun schon her. Es waren herrliche Jahre voller Leben. Niemals werde ich ein schöneres Geschenk bekommen.

Belanglos wird es nie

Mit Helene verbindet uns seither eine ganz besondere Freundschaft. Rein theoretisch könnte man ja auch von jemand Unsympathischem gerettet werden. Aber Helene ist eine richtige Klassefrau. Inzwischen arbeitet sie nicht mehr im Kriseninterventionszentrum, sondern erforscht an der Uni Zürich Dinge, die so kompliziert sind, dass wir davon nur Bahnhof verstehen. Sie schickt uns SMS und E-Mails aus aller Welt: «Habe eben an euch gedacht», und alle paar Monate bekochen wir uns gegenseitig. Stets sind es anregende, kurzweilige, vergnügliche Abende, an denen viel gelacht wird, aber auch Platz für schwere Themen ist. Belanglos wird es nie, dafür haben wir zu vieles gemeinsam durchgemacht.

Die Dankbarkeit, die wir Helene gegenüber empfinden, schwingt immer mit. Doch wir passen gut auf, dass sie nicht übermächtig wird und unsere Freundschaft erdrückt. Die Dankbarkeit soll keine Bürde sein. Denn sonst könnten wir uns nicht mehr gemeinsam darüber freuen, dass wir alle drei am Leben sind.