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Schauspielerin Zar Amir-Ebrahimi: «Ich musste 2008 aus dem Iran fliehen»

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Schauspielerin Zar Amir-Ebrahimi: «Ich musste 2008 aus dem Iran fliehen»

Zar Amir-Ebrahimi war im Iran ein Filmstar – bis ein publik gewordenes, intimes Video sie ins Exil zwang. Nun feiert sie die westliche Filmindustrie für den Kinofilm «Holy Spider».

annabelle: Zar, Sie waren erst Castingdirektorin von «Holy Spider», nun spielen sie die Hauptrolle. Was ist da passiert?
Zar Amir-Ebrahimi: Ein Wunder! (lacht) Fast vier Jahre habe ich mit Regisseur Ali Abbasi an diesem Film gearbeitet. Die Journalistin Rahimi zu finden, war natürlich am schwierigsten, Ali war aber auch gnadenlos. 300 bis 400 Castings haben wir durchgeführt, schliesslich fanden wir eine sehr talentierte persische Schauspielerin, aber 14 Tage vor Drehbeginn sprang sie ab. Am Abend der Absage war ich total verzweifelt – wir hatten so viel erreicht, ich hatte jede Rolle perfekt besetzt, trotzdem war das Projekt nun gefährdet – da hat mich Ali mal sehr zornig und aufgebracht erlebt. Am selben Tag castete er mich spontan, er rief in der Nacht sogar einen unserer Schauspieler in Jordanien an, um etwas zu probieren – innert
24 Stunden war plötzlich alles schlüssig. Auch für mich persönlich.

Was genau meinen Sie damit?
Ich habe einiges von meiner ganz eigenen Geschichte eingebracht – die Erfahrung einer Erwachsenen aus ihrem Leben im Iran, ihre Wut. Ich wusste, wie es sich anfühlt, unter dem Joch der Schikane zu stehen.

Sie sind im Iran geboren, waren die Heldin eines riesigen TV-Serienhits und drehten für den grossen Kiarostami, befanden sich also im Zentrum des dortigen Filmuniversums. Heute leben Sie in Paris. Was brachte Sie dazu, Ihr Land zu verlassen?
Ich bekam Probleme mit den Machthabern und der Gesellschaft und wusste irgendwann: Ich kann nicht mehr. Ich muss weg. Ich musste abhauen.

Warum? Was war passiert?
Ein privates Video von mir und meinem damaligen Freund wurde hinter unserem Rücken gedreht und auf der Strasse als DVD verscherbelt. Über Nacht hatte es jede:r im Land gesehen, jede:r. Ich war so jung, 25, und von einem Tag auf den anderen war mein Leben zerstört.

Ein «privates» Video?
Die Regierung sprach von einem Sex-Tape. Zuerst sah es nach der Rache eines Ex aus. Aber es war wohl ein anderer Freund, der mysteriöserweise an diese Aufnahmen gekommen war. Er starb ein paar Jahre später. Aber auf jeden Fall war es ein Riesenskandal.

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«Ich wurde ein Jahr lang immer und immer wieder befragt und verhört. Es war der reinste Horror»

Wie überlebt man einen Sexskandal in einem Land, das Frauen unterdrückt und entrechtet und in dem Mahsa Amini wegen eines inadäquaten Kopftuchs getötet wurde? Was geschah mit Ihnen?
Ich wurde ein Jahr lang immer und immer wieder befragt und verhört. Es war der reinste Horror. Die Regierung verhörte auch meine Freund:innen und Kolleg:innen. Einige von ihnen landeten sogar im Gefängnis, zur Einschüchterung. Sie wurden gefragt, ob sie mich geküsst hätten oder mir anders nähergekommen waren. Die Sittenwächter erfanden immer neue Anschuldigungen und eröffneten dann neue Verfahren gegen mich. Die Serie, in der ich damals spielte, wurde sofort abgesetzt. Das Regime wollte ein Exempel statuieren und hat systematisch Rufmord an mir betrieben, bis ich geächtet wurde. Also blieb mir nichts anderes übrig, als 2008 zu fliehen.

Sie wurden diffamiert. Die unterdrückte Sexualität ist bekanntermassen Teil der Kultur der islamischen Schia, die Islamische Republik hat diese Politik noch verstärkt.
Aber die Demütigungen gingen ja nicht nur von der Regierung aus, sondern von der gesamten Gesellschaft. Das Schlimmste war, als ich sah, wie Kolleg:innen in einer Runde zusammensassen und sich das Video ansahen. Und nicht nur die Männer. Mein Problem war nicht nur die Regierung, es waren auch die anderen. Und ihr Verrat an mir.

Was oder wer half Ihnen, als Sie so gedemütigt wurden?
Vom Moment an, als ich hörte, dass das Video in Umlauf geraten ist, redete ich mir ein: Das ist ein Film. Dein Film. Eine grosse Rolle. Du musst sie nur gut spielen, so gut du irgendwie kannst, selbst wenn es hart sein wird. Dieses Gedankenspiel war mein Rettungsring und half mir beim Überleben. Auch in meiner Einsamkeit half mir meine Liebe zum Film. Nach sieben Jahren habe ich die ganze Story aufgeschrieben – vielleicht inszeniere ich sie ja mal.

Wie nahmen Sie damals Ihr Leben wieder auf?
Ich habe sofort in Paris mit Freund:innen Theater gespielt. Sogar auf Französisch. Ich drehte auch Kurzfilme oder sehr unabhängige Filme, konnte Geld verdienen, ohne mich aus dem Filmuniversum zurückzuziehen. Ich habe Kameras bedient, war im Schneideraum, produzierte und glaubte fest daran, dass ich auch wieder als Schauspielerin auf die Beine komme.

Und?
2017 brachte mich «Tehran Taboo» wieder an die Oberfläche. Der Film war künstlerisch hochwertig und lief in Cannes in einer Nebenreihe. Was mich wunderte, war, dass viele, viele persische Regisseure nach Paris zogen, aber keiner daran dachte, mir eine Rolle anzubieten. Dabei war ich voller Schmerz, voller Emotionen, explodierte fast – das war der beste Moment, um mich zu engagieren. Wenn ich fragte, hiess es immer: «Du willst doch sicher nicht mehr spielen, oder?» Diese Frage brach mir jedes Mal das Herz. Ich antwortete immer: «Aber wie kommst du darauf?»

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«Besonders für meine engste Familie ist es nicht gut, Kontakt mit mir zu haben»

Dann kam Ihr Wunder, «Holy Spider». Ein brillanter Film noir, der beim wichtigsten Filmfestival der Welt, in Cannes, im Wettbewerb lief und gefeiert wurde. Wie war es, plötzlich so viel Applaus zu bekommen?
Ich habe drei Stunden lang nur geweint, weil ich so überwältigt war. Ob Iraner:innen, Französ:innen, die internationale Presse – alle sagten, wie sehr der Film sie berührte. Einen Film wie diesen gab es noch nie im iranischen Kino, er schockiert, überrascht, rührt an. Er zeichnet ein ganz anderes Bild des Iran, als man es bisher aus Filmen kennt.

Was macht den Thriller so einzigartig?
Die Story ist ja echt, von dem Serienkiller hatte ich auch schon gehört. Aber er ist kein diplomatischer Diaspora-Film geworden. Es ist ein Film voller Hass, Sex, Blut – als solches unmöglich, im Iran zu zeigen. Dass es ihn gibt, ist nur dem verrückten Ali Abbasi zu verdanken, der sich diesem Risiko hingegeben hat.

Dann wurden Sie mit der goldenen Palme als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. War diese Verneigung eine Befreiung? Genugtuung, Rehabilitierung?
Ich muss noch immer verarbeiten, was in der Nacht geschehen ist … interessanterweise träume ich noch ganz oft davon! Allein die Nachrichten, die ich von Menschen auf der ganzen Welt erhalten habe, von Freund:innen und Unbekannten, von Menschen, die aus Freude für mich geweint haben … Das war wie ein Zeichen der Gerechtigkeit. Als ob es wirklich so etwas wie Gerechtigkeit gäbe.

Das war Ende Mai. Seit Mitte September kocht es im Iran. Und plötzlich wirkt Ihr Film fast prophetisch: die Misogynie, die Schikanen, der Fanatismus und die Wut der Unterdrückten. 
Ich kenne die Schwierigkeiten, mit denen man im Alltag als Frau konfrontiert wird: beruflich schikaniert und belästigt zu werden, Schwierigkeiten mit Ämtern und den Autoritäten zu haben. Ich habe erlebt, wie Polizisten dir zusetzen, damit du kooperierst und klein beigibst. Ich weiss, wie sich das anfühlt.

Was hören Sie von der Freiheitsbewegung heute: Wie verfolgen Sie, was dort passiert?
Meist über Social Media. Ich habe nur minimal Kontakt zu Verwandten. Besonders für meine engste Familie ist es nicht gut, Kontakt mit mir zu haben. Sie haben nicht einmal Internet, damit ihnen nichts nachgesagt werden kann. Vorhin rief meine Mutter mal durch, wie es mir geht, aber wir hatten schon länger nicht gesprochen. Ich glaube, die Leute gehen fast jede Nacht raus, um zu protestieren. Ich höre von Freund:innen, dass sie sich verabschieden, als gingen sie für immer. Sie ziehen ohne Handy los, dann bangt man Stunden, ob sie heil zurückkommen oder nicht. Eine enge Freundin wurde gerade im Nord-Iran verhaftet. Sie war nicht mal auf einer Demo, sondern wurde zu Hause abgeführt. Keiner weiss, wo sie hingebracht wurde. Ich kann nicht mal ihren Mann kontaktieren, weil sie bestimmt abgehört werden.

Ihr Anruf als Persona non grata würde das Ganze noch schlimmer machen?
Definitiv. Vorhin habe ich ihr Foto gepostet und geschrieben, dass sie verschleppt wurde. Gleich danach zweifle ich, ob ich das Richtige tue. Soll ich den Mund aufmachen – oder ist es sicherer für sie, wenn ich so tue, als kenne ich sie nicht? Ich schlafe kaum vor Sorge.

«Die wenigsten machen sich ein Bild von der Brutalität des Regimes»

Ist der Druck, unter dem Sie bis heute stehen, viel perfider, als man denken würde?
Die wenigsten machen sich ein Bild von der Brutalität des Regimes. Schon dieses Interview kann das nächste Problem aufwerfen. Ich weiss nicht, ob morgen meiner Mutter ein Strick daraus gedreht wird. Ob sie zu einem Verhör abgeholt wird, weil ich offen gesagt habe, dass meine Freundin im Gefängnis sitzt. Das ist ein riesiges Dilemma für mich – nein, für jede:n. Das gesamte iranische Volk hat dieses Problem. Doch die neue Generation macht den Mund auf. Ich erhalte viele Nachrichten, in denen ich gebeten werde, über sie und die Bewegung zu sprechen. Vor einem Jahr noch hätte ich mich gefragt, ob ich legitimiert bin, etwas zu sagen, oder ob ich die Bewegung damit nicht noch in Diskredit bringe.

Das geleakte Privatvideo machte Sie für die Islamische Republik zur Paria. Sind Sie Opfer eines Systems? Wie betrachten Sie 15 Jahre später den erzwungenen Bruch Ihrer Biografie?
Ich sehe mich selbst nie als Opfer. Ich sehe die gesamte Gesellschaft als Opfer. Ich glaube, dass selbst die Schergen des Regimes, die uns auf der Strasse erschiessen, Opfer der Gehirnwäsche dieses Systems sind.

Glauben Sie, dass die Freiheitsbewegung der Iraner:innen das Mullah-Regime stürzen kann?
Ob es wirklich einen Umsturz gibt, vermag ich nicht zu sagen. Aber für mich ist diese Bewegung jetzt schon erfolgreich. Weil jetzt die Männer hinter den Frauen stehen. Ich sah neulich ein Video einer Schule, wo alle Jungen riefen: «Frauen, Leben, Freiheit!» Das trieb mir die Tränen in die Augen. Das ist die eigentliche Revolution!

Iran schreibt derzeit feministische Weltgeschichte. Das «Time Magazin» kürte die Frauen Irans zu den «Heldinnen des Jahres 2022». Können Sie den unbändigen Mut dieser Löwefrauen, der «shir zan», erklären?
Auf den Frauen lastet ein immenser Druck – jener der Unterdrückung. Seitdem ich sehe, was in den letzten Monaten im Iran passiert ist, bin ich zur Überzeugung gelangt, dass jeder Mensch eine gewisse Grenze hat. Dass du irgendwann bereit bist, dein Leben zu opfern, um deine Würde und Identität zurückzubekommen.

Vermissen Sie Iran?
Ja. Ja! Ich versuche, gar nicht erst daran zu denken. Ich könnte ja doch nicht hin.

Sprechen wir über Hoffnung: Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich bin sehr optimistisch. Ich glaube, dass eine Mauer durchbrochen ist. Vielleicht ist sie noch nicht ganz gefallen, vielleicht steht noch die Hälfte. Gleichzeitig habe ich Angst – Angst vor Blutvergiessen. Man kann wohl nie etwas verändern, ohne dass Blut fliesst. Das macht mich sehr traurig, gleichzeitig bin ich aber so froh, dass diese Veränderungen eintreten.

«Holy Spider» wird für Dänemark ins Oscar-Rennen gehen. Ist die Zukunft nun etwas, auf das auch Sie sich freuen können?
Ich freue mich, klar, wir haben so viele Jahre daran gearbeitet – wir müssen glücklich sein. Der Film ist zudem ein perfekter Aufhänger, um über Frauen und die Bewegung zu sprechen. Aber tief im Herzen bin ich nicht happy. Ich frage mich: «Was tust du hier? Du müsstest jetzt dort auf der Strasse mitkämpfen!» Dann rufe ich mich zur Ordnung: «Du hast eine Aufgabe, nutze jetzt deine Stimme hier. Löchre internationale Gemeinschaften mit deinen Fragen, trag das Thema in die Gesellschaft!» Dann geht es wieder.

Noch etwas sehr Persönliches: Hat die Liebe wieder einen Platz in Ihrem Leben gefunden?
Ich glaube, die Liebe hat sich mir oft gezeigt, in verschiedenen Gesichtern und Situationen. Ich bin nicht verheiratet, nicht verlobt. Ich kann es nicht sein, vielleicht nie. Aber ich habe so viel Liebe in meinem Leben gespürt. Und ich habe auf furchtbare Weise erfahren, wie wichtig es ist, Nähe und Wärme zu erhalten und auch zu bewahren. Aber ich bin ein komplizierter Mensch, mit einer komplizierten Geschichte, bin sehr busy, sicher auch egozentrisch, wie die meisten Schauspieler:innen. Ich vergöttere das Kino. Aber nicht die Liebe.

 

«Holy Spider» läuft jetzt im Kino.

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