Schauspielerin Carla Juri: Gross im Kommen
- Text: Sven Broder; Foto: Julian Baumann
«Feuchtgebiete» wird der Knaller dieses Kinosommers. Einschlagen wird besonders die Schweizer Hauptdarstellerin Carla Juri. So unschuldig wie sie hatte noch keine Frau Sex mit einer Avocado.
Das Münchner Edelhotel Bayerischer Hof. Charlotte Roche und ich teilen zur gleichen Zeit das gleiche dringende Bedürfnis. Bei solchen Anlässen, raunt sie mir vergnügt zu, als wir uns auf der Treppe begegnen, «saufe ich immer wie ein Kamel». Eigentlich bin ich für ein Interview mit der Schweizer Schauspielerin Carla Juri hier. Es geht um die Verfilmung von Charlotte Roches Megaseller «Feuchtgebiete», in der Juri die Hauptrolle spielt. Ich nutze die Gunst des kumpelhaften Moments und frage Roche auf dem Weg zur Toilette, wie ihr die Schweizerin gefalle. «Wahnsinn», jauchzt sie. «Die schiesst echt den Vogel ab!» Und ehe wir beide geschlechtergetrennte Wege gehen, schiebt sie nach: «Ich hoffe, dass diese Rolle Carla nach ganz oben katapultiert.»
Nun, einschlagen wird Carla Juri, so viel ist sicher. Die Frage ist höchstens, ob sie selber heil bleibt dabei. Denn das Terrain, auf das sie sich wagt, ist schlüpfrig. Mit «Feuchtgebiete» zündete Charlotte Roche 2008 eine literarische, fäkaliensprachgewaltige Stinkbombe, die alle aus ihren Löchern trieb; ob Bücherpapst oder Moralapostel, Feministin oder Experte für Enddarmerkrankungen – und nicht zuletzt die Leserinnen und Leser: 2.5 Millionen Mal hat sich das Romandebüt der ehemaligen Viva-Moderatorin verkauft.
Und alles wegen Helen, der Protagonistin: 18 Jahre alt, einsam, aber offen für alles und jeden, ausgesprochen zeigefreudig und zum Fremdekeln vernarrt ins Verkosten und Wiederverwerten von Körperausscheidungen. Nach einer missglückten Intimrasur und einem fiesen Schnitt in die Rosette liegt sie auf der proktologischen Abteilung, wo sie sich hemmungslos und bis zur Selbstverstümmelung der Liebe an und für sich hingibt – vorzugsweise mit Avocadokernen – und dem verzweifelten Wunsch, ihre geschiedenen Eltern am Spitalbett wiederzuvereinigen.
Helen, dieses «Supergirl aus dem Pipi-Kaka-Land», wie der «Stern» sie einst betitelte, wird im Film eben von Carla Juri gespielt. Ausgerechnet, könnte man sagen. Carla Juri, 28 Jahre jung, in Los Angeles ausgebildet und dem Schweizer Publikum in bester Erinnerung als Annemarie, das anmutige, süsse Ding an der Seite von Nils Althaus in der Rolle des jungen Dällebach Kari. Dafür hat Juri 2012 den Schweizer Filmpreis als beste Darstellerin gewonnen. Sie war gut, ja, aber auch harmlos. «Romeo und Julia in der Puppenstube» giftelte die Presse.
Den alten Zopf hat Carla Juri definitiv abgeschnitten und ist – fast programmatisch mit frecher Kurzhaarfrisur – im Darkroom der Schauspielkunst gelandet.
ANNABELLE: Carla Juri, haben Sie sich deshalb für diese skandalträchtige Rolle entschieden, um sich vom biederen Annemarie-Image zu befreien?
CARLA JURI: Nein. Ich entscheide mich intuitiv für meine Rollen. Da habe ich keinen Masterplan.
Was hat Sie denn gereizt an der Helen?
Ihre Komplexität. Wegen der derben Sprache und des ganzen Sex- und Ekeldings wurde das Buch ziemlich eindimensional besprochen, als Skandalroman. Wenn man jedoch genau liest, auch zwischen den Zeilen, wenn man versucht, Helen als junge Frau mit ihrer eigenen Geschichte zu verstehen, dann erkennt man, dass ihre Rebellion aus einer grossen Not kommt, aus einer tiefen Einsamkeit. Das hat mir Zugang verschafft zu dieser Figur.
Dennoch hört man, Sie hätten die Rolle zunächst abgelehnt, weil Ihnen das Drehbuch zu explizit war.
Das stimmt nicht.
Hatten Sie also keine Angst vor dem Spiel weit unterhalb der Gürtellinie?
Nein. Wie gesagt, Helen ist ja nicht absichtlich anders. Alles, was sie tut – ob sie mit Avocadokernen masturbiert oder jedem Spitalbesucher gleich ihre operierten Hämorrhoiden entgegenstreckt –, alles hat eine Bedeutung; um sich von ihrer Einsamkeit abzulenken, um die Menschen in ihrem Umfeld zu verstören und damit an sich zu binden, ihre Liebe zu testen … Und solange das, was ich vor der Kamera anstellen muss, nötig ist, um eine Figur verständlich zu machen, authentisch, dreidimensional, dann habe ich als Schauspielerin kein Problem damit. Wäre eine Nacktszene voyeuristisch, ist sie uninteressant – und damit hätte ich ein Problem.
Hatten Sie für gewisse Szenen ein Körperdouble?
Ja, ich hatte ein Double für Nahaufnahmen von … gewissen Orten. (lacht)
Sie riskieren, dass Sie diese Rolle nie mehr loswerden und für immer und alle die Helen bleiben, die sich in «Feuchtgebiete» den Finger in den Hintern steckt und sich Sperma vom Finger leckt.
Nein. Ich war nach «Dällebach Kari» für viele die Annemarie. Jetzt bin ich Helen. Morgen eine andere Figur. Man wird als Schauspielerin doch immer identifiziert mit seinem letzten Film, mit der Person, die man als letzte verkörpert hat.
Das Etikett der Skandalnudel will sie sich partout nicht verpassen lassen. Dabei gibt es durchaus Schauspielerinnen die die Rolle der Helen gescheut hätten, «aus Angst, in der Öffentlichkeit ein Leben lang dafür angefeindet zu werden», wie es David Wnendt, Drehbuchautor und Regisseur von «Feuchtgebiete» formuliert. Dass Carla Juri jedoch tatsächlich ein Problem kriegen könnte – zumindest karrieretechnisch –, glaubt Wnendt nicht. Und das liegt vor allem an der Qualität ihres Schauspiels. «Carla wirkt nie platt. Trotz der vielen Tabubrüche schafft sie es, dass Helen im Film nie ihre Unschuld verliert.» Zudem berge jede interessante Rolle ein Risiko, «sonst wäre sie nicht interessant», meint David Wnendt und nennt – durchaus schmeichelhaft für Carla Juri – zwei prominente Vorbilder: Charlotte Rampling («Il portiere di notte») und Charlotte Gainsbourg («Antichrist»). «Beide haben mehrfach extreme Rollen gespielt, ohne dass ihre Karriere darunter gelitten hat – im Gegenteil.»
Obwohl «Feuchtgebiete» auch in Deutschland erst Ende August in die Kinos kommt, den Film also noch kaum jemand gesehen hat, wird Carla Juri bereits zur Entdeckung des Jahres hochgeschrieben. Nicht überrascht über die Vorschusslorbeeren ist Oscar-Preisträger Xavier Koller. Auch er hatte Carla Juri kaum gekannt, als er sie quasi frisch ab Paradeplatz für die weibliche Hauptrolle in «Dällebach Kari» engagierte. «Ich begegnete ihr zufällig. Wir setzten uns in ein Café und redeten Stunden. Danach war klar, dass sie die Annemarie sein muss.» Carla Juri habe ein natürliches Talent. Charisma. Die Kamera liebt sie. Das kann man nicht lernen, man hat es oder eben nicht, meint Xavier Koller. Und statt aus dem fernen Los Angeles, wo er seit rund zwanzig Jahren lebt, den Warnfinger zu erheben, gratuliert er Carla Juri «zu ihrem Mut, an die Grenzen zu gehen». Diese Rolle werde sie auf eine internationale Ebene heben. «Dort gehört sie auch hin.»
Carla Juri, wissen Sie, was Xavier Koller besonders mag? Dass Sie in Ihrer Kindheit Eishockey gespielt haben und nicht ins Ballett gingen.
(lacht) Vielleicht hätte ich gern Ballett getanzt, aber in Ambri, wo ich aufgewachsen bin, gab es nur Eishockey.
Sie spielten in einer Bubenmannschaft?
Ein Mädchenteam gab es nicht. Als Teenager durfte ich dann nicht mehr mit den Jungs aufs Eis.
Und gingen deshalb schon mit 15 Jahren allein an ein College in New York.
Mein kanadischer Trainer brachte mich auf die Idee, weil in den USA Mädchen, Eishockey und Schule kein Widerspruch sind. Nach einem Jahr kam ich zurück ins Tessin, um das Gymi fertig zu machen.
Heute sitzen Sie hier im 5-Sterne-Hotel und geben Interviews …
Ja, verrückt, oder!? Manchmal denke ich, das Ganze hier hat gar nichts mit mir zu tun.
Sie haben einen älteren Bruder und spielten Eishockey – waren Sie ein Bubenmädchen, so, wie Helen beschrieben wird?
Nein, und ich mag dieses Rollendenken auch nicht. Allerdings, wenn Helen ein Junge wäre, dann wäre vielleicht kein solcher Skandal um die Figur entstanden. Einfach weil es für Mädchen offenbar immer noch unanständig ist, auch mal nicht gut zu riechen. Hier hat das Buch von Charlotte Roche tatsächlich diesen politischen, feministischen Impact.
Haben Sie «Feuchtgebiete» damals gelesen, als es erschien?
Nein, 2008 war ich in Amerika. Ich habe die Kontroverse, die das Buch ausgelöst hat, gar nicht mitbekommen. Ich wollte auch völlig unvoreingenommen zum ersten Casting gehen. Den Roman habe ich danach gelesen – parallel zum Drehbuch.
Und Charlotte Roche, haben Sie sie vor den Dreharbeiten getroffen?
Nein. Sie wollte sich auch nie einmischen, weder ins Drehbuch noch in die Regie. Zum ersten Mal trafen wir uns nach Abschluss der Dreharbeiten bei einem Fotoshooting. Wir waren wohl beide sehr nervös; ich traf auf meine «Schöpferin» und sie auf ihr «Kind».
Während der Dreharbeiten zu «Dällebach Kari» wunderten sich Ihre Kollegen, wie sehr Sie aufgingen in Ihrer Rolle. Während der Pausen, beim Mittag-essen, immer waren Sie die Annemarie, die Carla war weit weg …
Ist das denen echt aufgefallen? Krass! Es fällt mir schlicht leichter, mich zu verabschieden von meinem Leben und einzutauchen in eine Rolle und dort auch zu bleiben, als ständig ein- und wieder aufzutauchen. Ich habe als Schauspielerin extrem das Bedürfnis, meinen Rollen gerecht zu werden – und dieses Eingetauchtbleiben ist für mich wie der einzige Weg dorthin.
Aber Sie werden während der 37 Drehtage für «Feuchtgebiete» kaum nackt auf dem Skateboard durch Berlin gerollt sein?
Natürlich nicht. Doch das sind ja auch nur Äusserlichkeiten, das meine ich nicht damit. Für die Rolle in «Feuchtgebiete» musste ich die Welt durch Helens Augen sehen, alles um mich herum vergessen, riechen, wie sie riecht, schmecken, wie sie schmeckt – total fokussiert, total abgekapselt, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, wie das nach aussen wirkt. Ganz «private in public» – so wie ein Tier oder ein Kleinkind.
… das genüsslich in der Nase bohrt.
Ja, bis man ihm sagt, dass man das nicht macht – schon ist diese Ursprünglichkeit weg.
Im Kino dauerte es keine dreissig Minuten, bis bei der Pressevorführung in München jemand lauthals «So eklig» rief!
War das noch vor der Pizza-Szene?
Viel vorher!
Uiuiui. (lacht)
«Feuchtgebiete» von David F. Wnendt startet am 29. August in den Deutschschweizer Kinos. Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Charlotte Roche. Neben Carla Juri sind in weiteren Hauptrollen zu sehen: Meret Becker, Christoph Letkowski, Marlen Kruse, Edgar Selge sowie Axel Milberg – und zwar so, wie Sie den «Tatort»-Kommissar wohl noch nie zuvor gesehen haben.
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Für die Rolle der Helen ging Carla Juri an ihre Grenzen. Nur besonders delikate Nahaufnahmen überliess sie einem Double
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Intern
Das Gespräch mit «Feuchtgebiete»-Hauptdarstellerin Carla Juri gab Reporter Sven Broder im Vorfeld ein wenig zu denken: «Es war so, also ob man heimlich einer Frau zuschaut, wie sie Schweinereien mit sich anstellt. Und dann sitzt einem diese Person gegenüber, in einer Bar, unter vier Augen, und man hat Bilder im Kopf, die da nicht hingehören.» Aber alles ging gut, die Gedanken blieben sündenfrei – trotz der Wahnsinnsausstrahlung, die unser Arbeitskollege der Tessinerin bescheinigt.