Ob ich diese Kolumne erfolgreich auf einen Punkt bringen werde, ist ungewiss. Denn es ist der erste Text in meinem Leben, den ich ohne Zigaretten schreibe. Bis vor wenigen Monaten ging bei mir ohne vierzig bis sechzig Zigaretten pro Tag nämlich gar nichts. Klimaverschmutzung, Fleischkonsum, unter Berücksichtigung des ökologischen Fussabdrucks neuerdings sogar das Kinderkriegen, und natürlich längst auch jede Form von Drogenabhängigkeit, in meinem Fall das Kettenrauchen: Nie scheinen wir mehr Gründe für ein schlechtes Gewissen gehabt zu haben als heute. Wir, das sind die Glückspilze in der westlichen, urbanglobalisierten, von allen möglichen Göttern geküssten Welt, jene Menschen also, die sich ein schlechtes Gewissen überhaupt leisten können. Ich zum Beispiel.
Nie hätte ich allerdings gedacht, dass mein schlechtes Rauchergewissen schwieriger zu überwinden sein würde als die Sucht selbst, dass es sogar imstande ist, meine rundum positiven Selbstwertgefühle nach dem erfolgreichen Rauchstopp kurzzeitig in den Schatten zu stellen. Zu tun hat das mit der vielleicht urmenschlichen, jedenfalls jahrhundertealten öffentlichen Ächtungstradition, die uns wie Fähnchen im Wind mal dieses, mal jenes an den Pranger stellen lässt. Im Fall des Rauchens ist das nicht nur das Laster selbst, sondern fieserweise auch jede mögliche gesundheitliche Folge davon. Im März dieses Jahres erhielt ich die Diagnose COPD, Chronic Obstructive Lung Disease, im Volksmund Raucherhusten. Schäm di!, sagte ich mir, um schon mal gewappnet zu sein, falls mich jemand mit hochgezogenen Augenbrauen an mein Dauerqualmen erinnern sollte. Und ich beschloss, das Rauchen subito aufzugeben. Leichter gesagt als getan – das weiss jede Leserin, die selbst einmal Allen Carrs «Endlich Nichtraucher!» vergeblich gelesen hat. Aber ich wusste, dass ich jetzt für mein Seelenheil dringend ein Erfolgserlebnis brauchte.
Paradoxerweise – oder war es folgerichtig? – kam mir schon einen Monat später eine neue, noch heftigere Diagnose zu Hilfe: ein Tumor in der Lunge. Erst jetzt, ich gestehe es zu meiner Schande, war mein Verlangen nach dem genannten Erfolgserlebnis tatsächlich gross genug. Endlich wieder einmal stolz auf mich sein, das war es, was ich jetzt dringendst brauchte. Stolz sein können, dass ich niemanden mehr zum Passivrauchen zwinge, dass ich mich nicht mehr vor meinen überquellenden Aschenbechern ekeln muss, dass ich nicht mehr Hunderte Franken monatlich dem weltgrössten Tabakmulti in den Hintern schiebe.
Und Scham? Mich schämen, dass ich Lungenkrebs habe? Immer seltener zwar, aber noch kommt es vor. Wo ich doch längst weiss, dass negative Selbstwertgefühle bei meinem Befund absolut kontraproduktiv sind. Wenn mir in den letzten Wochen etwas klar geworden ist, dann nämlich dies: Ich werde mit aller Kraft gegen dieses Schämen kämpfen. Für mein eigenes Wohl. Aber auch für all die Menschen, die sich in ähnlichen Situationen ein Gewissen machen. Schämen sollen sich die, die uns an den Pranger stellen – wir haben jetzt wahrlich anderes zu tun.