Ritalin: Ein Selbstversuch
- Text: Lisa Aeschlimann
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Immer mehr Studierende nehmen das Aufputschmittel Ritalin, um effizienter lernen zu können. Unsere Autorin (24), ebenfalls Studentin, hat es ausprobiert. Ein Selbstversuch mit Risken und Nebenwirkungen.
Weiss und unschuldig liegt die Pille vor mir. Auf der linken Hälfte ein A, auf der rechten ein B eingraviert, in der Mitte eine Bruchrille. Ich habe vor, über die Dauer von vier Wochen zwanzig Ritalin- Tabletten einzunehmen, um herausfinden, ob ich damit zu einer besseren, verlässlicheren und effizienteren Studentin werde.
Doch nun befällt mich ein mulmiges Gefühl. Was, wenn ich unter einer der möglichen Nebenwirkungen leide: Dehydrierung, Herzrasen, Schlaflosigkeit oder Störungen des Sozialverhaltens – will ich mir das wirklich antun? Andererseits greifen immer mehr Mitstudierende zu pharmakologischen Helfern, während sie für ihre Semesterprüfungen lernen oder Abschlussarbeiten schreiben. Verbaue ich mir nicht eine Chance, wenn ich das nicht ebenfalls ausprobiere?
Eine Stunde, nachdem ich die erste Tablette eingenommen habe, bin ich konzentriert bei der Arbeit. Alles um mich herum verschwindet. Es ist, als sitze ich im Kino und sehe gebannt auf die Leinwand, während ich die Umgebung komplett ausblende. Die Musik aus den Kopfhörern driftet manchmal aus meinem Bewusstsein, dann meldet sie sich schubweise und mit voller Kraft zurück. Was höre ich da überhaupt? Meine Hände wuseln wie Ameisen über die Tasten – schnell und gehetzt. War das schon immer so?
Vier bis fünf Stunden soll die Wirkung anhalten. In dieser Zeit arbeite ich ohne Unterbrechung, erledige alles, was ich mir vorgenommen habe, und bereite sogar noch die Bachelorarbeit vor. Ritalin ist geil, denke ich und male mir schon aus, was ich mit meinem kleinen Helfer alles erreichen könnte. Effizienz pur.
Effizienz hatte auch Leandro Panizzon im Sinn, als er die Pille 1944 erfand. Panizzon, der als Chemiker beim Schweizer Pharmakonzern Ciba (heute Novartis) arbeitete, benannte das Medikament nach seiner Frau Rita, die damit plötzlich besser Tennis spielen konnte. Zehn Jahre später war Ritalin auf dem Markt, zunächst noch rezeptfrei. Es sollte Abhilfe schaffen bei Depression und Ermüdung, die Leistung verbessern und als Appetitzügler wirken. In den 1960er-Jahren belegten mehrere Studien, dass Methylphenidat, der Wirkstoff von Ritalin, gegen Impulsivität, Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsstörungen hilft. Bald priesen Ärzte und Forscher das Medikament als Mittel der Wahl bei ADHS. Doch 1971 wurde es als Betäubungsmittel klassiert, von da an war es nur noch auf Rezept erhältlich. Immer mehr Eltern lehnten sich jetzt dagegen auf, ihrem Zappelphilipp Drogen zu verabreichen.
Mit der Jahrtausendwende änderte sich der Zeitgeist: Die Gesellschaft wurde leistungsorientierter, entdeckte Ritalin als Mittel zur Effizienzsteigerung. Gleichzeitig lief das Patent für Ritalin aus, verschiedene Pharmafirmen witterten ihre Chance und brachten unter anderen Namen neue, sehr teure Medikamente gegen ADHS auf den Markt. Der Konsum stieg drastisch an: 2014 wurde in der Schweiz achtmal mehr Methylphenidat verschrieben als noch 2004. Die Aufmerksamkeitsstörung galt nun als Modediagnose bei Kindern – und immer häufiger auch bei Erwachsenen.
Methylphenidat ist eng verwandt mit den Amphetaminen, die in der Szene als Speed und Ecstasy verkauft werden. Es verstärkt die Signalübertragung im Gehirn. ADHS-Patienten profitieren davon, weil bei ihnen die Weiterleitung von Signalen zwischen Nervenzellen durch biochemische Botenstoffe beeinträchtigt ist. Darum lassen sie sich leichter ablenken, sind zerstreut, impulsiv und manchmal hyperaktiv.
«ADHS ist für Betroffene meist sehr belastend», sagt Boris B. Quednow, Pharmakopsychologe an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, der mehrere Studien zur Wirkung von Ritalin, Ecstasy und anderen Psychostimulanzien verfasst hat. Bei rund fünf Prozent der Schulkinder wird heute ADHS diagnostiziert. Sie fallen in der Schule auf, schreiben schlechte Noten, sind kaum zu bändigen. Der Druck auf Ärzte, Ritalin zu verschreiben, ist hoch, auch wenn die regelmässige Einnahme Risiken mit sich bringt, von Appetitlosigkeit, Angstgefühlen, depressiven Verstimmungen und Orientierungslosigkeit bis hin zu Halluzinationen.
Auch ich spüre, wie mein Körper auf die Pille reagiert: Mein Mund ist unangenehm trocken. Ich trinke pausenlos. Den Gang zur Toilette empfinde ich als unnötige Arbeitsunterbrechung, das Auffüllen der Wasserflasche ebenfalls. Nachts liege ich im Bett, und mein Gehirn ist hellwach. Immer neue Dinge, die ich erledigen könnte, gehen mir durch den Kopf: Sollte ich nicht noch dieses Sachbuch lesen? Früher mit der Bachelorarbeit beginnen, den Keller ausmisten, die Fenster putzen? Mein Körper ist müde, doch die Gedanken drehen sich. Wo ist das Gegengift? Ich will einen Off-Knopf.
Der Fachbegriff für das, was ich tue, heisst Neuro-Enhancement: Ich versuche, meine Gehirnleistung mithilfe pharmakologischer Substanzen zu verstärken. Experten warnen davor, dass solche Stimulanzien mit immer grösserer Selbstverständlichkeit verschrieben und eingenommen werden. In der Schweiz haben vor allem das Institut für Sucht- und Gesundheitsforschung der Universität Zürich sowie die Abteilung für klinische Pharma- und Toxikologie am Universitätsspital Basel Studien zum Thema Neuro-Enhancement durchgeführt. 2013 werteten die Basler Forscher dafür die Antworten von über 6000 Uni- und ETH-Studierenden aus. Das Ergebnis: Jeder siebte Studierende hat sich bereits einmal mit verschreibungspflichtigen Medikamenten gedopt, vier von hundert Studierenden nahmen Ritalin ein, um länger und intensiver zu lernen und dem Leistungsdruck besser standhalten zu können.
Trotzdem glauben sowohl Boris B. Quednow wie auch sein Basler Kollege Matthias Liechti, Co-Autor der Studie, dass Neuro-Enhancement kein Massenphänomen sei. «Nur ein Prozent der Befragten gab an, Ritalin regelmässig zu konsumieren», sagt Liechti. Da könne man noch nicht von einem gesellschaftlichen Problem sprechen, ergänzt Quednow. An Unis werden jedoch immer mehr Psychostimulanzien eingenommen. Bei den 20- bis 24-Jährigen hat sich laut dem Schweizer Suchtpanorama der Anteil jener, die zu Ritalin und dergleichen greifen, in den letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt.
Mein Alltag bestätigt diesen Trend: In meinem Umfeld kennt jeder jemanden, der schon einmal auf Ritalin gelernt hat. Die psychologische Beratungsstelle der Hochschule hat ihr Angebot deshalb ausgebaut, Psychologie-Dozenten halten nun Vorträge, um über «Ritalin – das legale Kokain» aufzuklären. Die Veranstaltungen sind so gut besucht, dass sie mehrfach durchgeführt werden.
Glaubt man der Wissenschaft, wiegen die Vorzüge des Hirndopings jedoch kaum dessen Gefahren auf. «Das gesunde Hirn funktioniert bereits an seinem Optimum, man kann es nicht zusätzlich verbessern», sagt Boris B. Quednow. Stimulanzien funktionierten nur, indem sie wacher machen. Während sich bei schwächeren Studierenden eine Verbesserung zeigen könne, sei der Effekt bei starken Studierenden oft sogar gegenteilig. Bei ihnen führe das Medikament zu Nervosität und Ablenkbarkeit. «Die Wirkung von Ritalin bei gesunden Menschen ist vergleichbar mit einem starken Kaffee», sagt Matthias Liechti. Dafür sei mit Nebenwirkungen wie Schlaflosigkeit zu rechnen, die schliesslich dazu führen, dass man am nächsten Tag nicht mehr voll leistungsfähig sei. Ein Teufelskreis.
Tag vier des Selbstversuchs. Zum ersten Mal nehme ich Ritalin in Gesellschaft meiner Freunde und Mitstudierenden – und fühle mich dabei seltsam entfremdet. Meine Geduld, ohnehin nicht meine Stärke, nimmt unter dem Ritalin-Einfluss nochmals ab. Meine Kommilitonen wirken auf mich wie Träumer, schwafeln zu viel, denken zu langsam. «Mach mal!», denke ich während eines Gesprächs – und erschrecke vor mir selbst. Jemand bemerkt, dass ich gereizt wirke. Es ist mir egal. Mein Gehirn will arbeiten. Soziale Interaktionen halten mich nur davon ab. Also vermeide ich sie lieber.
An diesem Tag arbeite ich zwölf Stunden durch. Mein Gehirn läuft auch danach noch immer auf Hochtouren. Normalerweise würde mein Körper rebellieren, erst mit Konzentrationsverlust, dann mit Zittern und Zappeln, nun bleibt er still und fokussiert. Ich weiss, dass ich erschöpft sein sollte, aber mein Kopf treibt mich weiter an. Essen interessiert mich nicht, mein Hungergefühl ist weg. Ich sehe nur die vor mir liegenden Aufgaben. Ich spiele mit dem Gedanken, mithilfe der Pillen auf meine Prüfungen am Ende des Semesters zu lernen. Die Nummer des Dealers habe ich ja.
Eine einzige Whatsapp-Nachricht hatte gereicht, um an das Medikament zu kommen. Der Dealer ist Wirtschaftsstudent an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW). Eine Mitstudentin hatte mir seine Nummer gegeben. «Ich habe gehört, du verkaufst Ritalin», schrieb ich ihm, «ich brauche welches für einen Selbstversuch.» «Ist das legal?», schrieb er zurück. «Dein kleines Geschäft ist es ja auch nicht», antwortete ich. «Wie viel möchtest du? Ich kann dir eine Packung organisieren, das echte Ritalin – nicht die Kopien. Zwanzig Pillen gebe ich dir für achtzig Franken.» Ein gutes Geschäft für ihn; beim Arzt kosten die Tabletten nur die Hälfte, oft bezahlt die Krankenkasse.
Bei unserem Treffen vor der Hochschulmensa erzählt er, wie er an seinen Stoff gelangt: «Das Ritalin habe ich von einem Freund mit ADHS, aber er nimmt die Pillen nicht. Er gibt sie mir weiter und ich verkaufe sie.» – «Finanzierst du dir so dein Studium?» – «So viel Geld macht man damit nicht. Ich verkaufe es meistens im Freundeskreis. Wir lernen damit auch zusammen auf die Prüfungen.» – «Ist es nicht problematisch, dass sich immer mehr Studierende gezwungen fühlen, leistungssteigernde Medikamente einzunehmen?» – «Ich mag es, dass mich die Pille effizienter macht. Ich liebe den Enthusiasmus, die Lust zu arbeiten und zu lernen. Aber eigentlich habe ich es nicht nötig. Wenn du es ohne Ritalin nicht schaffst, bist du an einer Hochschule am falschen Ort.»
Wenig später treffe ich mich mit einer Studentin aus seinem Freundeskreis. Sie studiert Wirtschaftsinformatik, schliesst demnächst mit dem Master ab. Ritalin nimmt sie seit Beginn ihres Studiums. «Aber nicht Tag für Tag, nur wenn ich unter Druck stehe und unbedingt etwas fertigmachen muss. Dann will ich mir sicher sein, dass ich liefern kann. Mit Ritalin kann ich das.» – «Findest du, dass der Ritalin-Konsum an der ZHAW ein Problem ist?» – «Nein, Ritalin ist kein Problem. Die Wirkung ist ja nicht so stark. Das wird zu eng gesehen. Ich kann ohne Ritalin dasselbe leisten.» Wirklich? Ihre Argumente überzeugen mich nicht, sie erinnern mich an die Sprüche einer Abhängigen: die Sucht verweigern, die Wirkung herunterspielen, betonen, dass man auch «ohne» kann.
Woche zwei im Selbstversuch. Während das Ritalin immer schwächer wirkt, werden meine innere Unruhe und Ungeduld immer stärker. Ich habe keine Lust mehr auf Essen oder soziale Kontakte. Und als wir eine Probeprüfung schreiben, zeigt die Wirkung von Ritalin ihre Grenzen: Ich lasse mich – ganz wie in meinem alten, ungedopten Ich – immer wieder ablenken. Mehrmals muss ich beim Text neu ansetzen. Meine Sätze wirken banal und langweilig, meine Schlussfolgerungen einfallslos. Enttäuscht denke ich auf dem Nachhauseweg: Ritalin verhindert Kreativität.
An anderen Tagen fühle ich mich ausgelaugt und unzufrieden. Obwohl ich keine Lust habe, lasse ich mich von Freunden zum Feierabendbier überreden. In der Runde bin ich gereizt. Dabei ist mir völlig egal, wie ich auf die anderen wirke. Eigentlich warte ich bloss auf den richtigen Moment, um nachhause zu gehen. Was macht Ritalin nur aus mir? Werde ich jetzt zur Asozialen, die nur noch arbeiten will? Ich beschliesse, den Selbstversuch zu unterbrechen und in den nächsten Tagen auf das Medikament zu verzichten.
Sofort falle ich in ein Stimmungstief, habe auf nichts Lust, bin antriebslos und dauernd schlecht gelaunt. Das ist der gefürchtete Rebound-Effekt, wie ich später nachlese, eine Art Absturz in ein Energieloch. Während ich auf Ritalin keinen Appetit hatte, lässt sich mein Hunger jetzt kaum stillen. Während ich vorher keine Müdigkeit verspürte, bin ich nun ständig matt und abgekämpft. Ich schlafe zwölf Stunden und mehr, aber die Müdigkeit verschwindet nicht. So kann es auch nicht weitergehen. Also nehme ich wieder eine Tablette Ritalin. Doch mir fällt es zunehmend schwer, die Vorteile des Medikaments zu erkennen. Bringt es mir wirklich eine spürbare Leistungssteigerung? Normalerweise kann ich meinen inneren Schweinehund doch auch ohne Pillen überwinden.
Am Ende des Monats komme ich zum Schluss, dass die Wunderpille, mit der man zur besseren Studentin wird, nicht existiert. Meine Erfahrungen stimmen mich nachdenklich. Die ersten Tabletten haben mir zwar geholfen, meinen Fokus zu behalten. Doch was ist das wert, wenn ich keinen Appetit mehr spüre und mir meine Freunde egal sind? Ist unser Zwang zur Selbstoptimierung schon so ausgeprägt, dass wir glauben, unsere normale Gehirnleistung reiche nicht aus? Ist es in meiner Generation nicht mehr erlaubt, Ups und Downs zu haben? Müssen wir immer und überall in Bestform sein?
Ich hoffe, nicht. Denn manchmal ist es doch auch schön, sich von der Sitznachbarin ablenken zu lassen, ziellos durchs Internet zu klicken oder sinnfreie Videos zu schauen. Kreativität entsteht aus Nichtstun und Langeweile. Ich jedenfalls möchte mein Leben nicht zu einer Autobahn machen. Ich mag seine Kurven und Schlaglöcher.